Das Jahr der Libelle
vier. Sommer
Es ist noch lange nicht Sommer, als das Moor Feuer fängt. Meinem Roman fehlen noch große Teile des Frühlingskapitels, und ein Ende ist nicht in Sicht. Der Moorbrand im Hochsommer war bisher nur eine vage Idee, Endpunkt und Ausweg zugleich. Im Leben einer Libelle ist der Sommer die Jahreszeit, die ihr Dasein beschließt. Endlich geschlüpft, hat sie nur noch wenige Monate Zeit, um ihre biologische Bestimmung zu erfüllen. Nachdem die Libelle sich gepaart und ihre Eier abgelegt hat, braucht die Natur die erwachsenen Insekten nicht mehr. Nur wenige Arten überwintern, für die meisten führt die Freiheit der Lüfte unmittelbar in den Tod. Man wird geboren, um irgendwann zu sterben, da macht die Natur zwischen Libelle und Mensch keinen Unterschied. Die eine verlässt den Schlamm, der andere den Ort seiner Kindheit, um einen neuen Lebensraum zu erobern, der begrenzt, bestellt und beherrscht wird, bis dieser selbst vernichtet, was er hervorgebracht hat. In meinem Roman sollte sich das Urland der Kindheit am Ende in das Kulturland des Erwachsenseins verwandeln, das scheinbar unnütze und unproduktive Moor zur Agrarlandschaft werden.
Seit Jahrtausenden werden Urwälder brandgerodet und Moore kontrolliert abgeflammt, um Nutzland zu gewinnen. Jeder kennt zur Hochsommerzeit die Meldungen von brennenden Wäldern in Südeuropa, Gerüchte über Brandstiftung kursieren, immer gibt es in diesen Geschichten einen der hofft, dem Ascheland künftig Ertrag abringen zu können. Kindheit kommt zwangsläufig an ein Ende, nicht selten plötzlich und brutal durch äußere Gewalt, und wenn jemand verbissen an ihr festhält, beendet sie sich, nicht minder gewaltsam, irgendwann selbst. Weil der Roman mit den Libellenlarven im verregneten September beginnt, wäre ein heißer und trockener August ein guter Monat gewesen, die Insekten durch eine Feuersbrunst von ihren Schlupftümpeln zu scheuchen. Nun aber brennt das Moor schon im Frühling.
Im April 2011 stand der Naturpark Hohes Venn im deutsch-belgischen Grenzgebiet in Flammen, und als ich hinfuhr, um dem Inferno Romansätze abzutrotzen, konnte ich das Feuer nicht einmal sehen. Hinter dem Städtchen Eupen war die Straße gesperrt, über der Hochebene sah ich in der Ferne Rauch, Helikopter kreisten. Ich hatte gerade das Heinrich-Heine-Stipendium in Lüneburg beendet, wo ich mich viel in der Heide herumgetrieben hatte und im Pietzmoor, einem renaturierten Torfstich, auf Libellenjagd gegangen war. Dort hatte es seit Wochen nicht mehr geregnet, und auch hier, im äußersten Westen des Landes, stand die Frühlingssonne in einem wolkenlosen Aprilhimmel, der ausgebleicht und überstrahlt wirkte, überhaupt die ganze noch unbelaubte und wintergraue Landschaft wie ein überbelichtetes Panoramabild, ohne Schatten und Farben. Die Sonne verbrannte mir das Gesicht, ohne dass ich ihre Hitze spürte, sie leckte das letzte Wasser aus Pfützen und Gräben und verdorrte das junge Gras, kaum dass es gesprießt war, ein Schauplatz wie geschaffen für einen romanhaften Untergang.
Nicht, wie man vermuten könnte, in den heißen Sommermonaten, sondern im Februar und März ist ein Moor am anfälligsten für Brände. Pfeifen– und Straußgras sind verwelkt, der Frost hat Totholz und Torfmoose ausgetrocknet, wenn der Regen ausbleibt, verwandelt sich ein Moor binnen weniger Tage in eine raschelnde Dürrelandschaft. Torf kann sogar unter der Grasnarbe schwelen und Glutnester bilden, die einen Moorbrand oft unkontrollierbar machen. All das wollte ich im Hohen Venn mit eigenen Augen sehen, um dem dritten Romankapitel einen Nährboden zu schaffen, einen Grund aus Asche. Doch als ich mich dem Naturpark von einer anderen Seite näherte, flatterte am Eingang ein rotweißes Band, bewacht von einem Feuerwehrmann, der mich zurückschickte.
Das Feuer im Hohen Venn vernichtete beim größten Moorbrand seit 60 Jahren ca. tausend Hektar, ein Fünftel des Nationalparks. Die Feuerwehr war tagelang im Einsatz, Brandstiftung wurde nicht ausgeschlossen. Als ich im Juni wieder ins Hohe Venn fuhr, an einem regnerischen Frühsommertag, war das Moor dort, wo ich bei meinem letzten Spaziergang im November noch knöcheltief im Schlamm versunken war, eine schwarze Wüste, aus der wie Fackelstümpfe die verbrannten Kiefern und Birken ragten. Mancherorts lag noch der Überrest eines Stegs, die verkohlten, krumm genagelten Bohlen wie der Rippenbogen eines verbrannten Skeletts – genug Eindrücke jedenfalls, um im Roman den Übergang der Ur- in die Kulturlandschaft zu bebildern, die Verwandlung des von Legenden und Geheimnissen überwucherten Kinderreichs in das flurbereinigte Land des reflektierten Erwachsenen.
Die nährstoffreiche Asche verändert die Bodenverhältnisse, es siedeln sich Pflanzen- und Tierarten an, die es vorher nicht gab, ihr Fehlen ist Voraussetzung für ein intaktes Moor. In der Zerstörung wird sichtbar, was vorher vollkommen gewesen war, und erst im Rückblick zerfällt ein Leben in seine Einzelteile, kann ohne die Bruch- und Leerstellen, in denen sich das Erzählen bildet, nicht erinnert werden. Romanschreiben und Naturschutz sind sich auf eine Art sehr ähnlich: Beides wendet sich gegen die Zeit und ihre zwangsläufigen Veränderungen, bewahrt etwas vor dem Verschwinden, das es ohne diesen Konservierungswillen längst nicht mehr gäbe. Und der schafft künstliche Paradiese: der Naturschutz in den auf Ertrag getrimmten Kulturlandschaften, der Roman in den Wüsten unserer auf Effizienz zugeschnittenen Alltagssprache. Beides ist im Grunde unproduktiv und zu jeder Zeit unzeitgemäß. Aber wir brauchen die Schönheit, die dabei entsteht. In einem Dasein, das auf biologischen und kulturellen Nutzen ausgerichtet und vom Tod begrenzt wird, ist sie ein lebensnotwendiger Luxus.
Ob die Libellen im Hohen Venn den Brand überlebt haben? Inzwischen ist es Sommer geworden. Ich packe meine Unterlagen zusammen, für das nächste Stipendium, wo ich den Roman abschließen möchte: zwei Monate auf Sylt. Die Idee, die Geschichte am Meer enden zu lassen, kam mir auf einem meiner Spaziergänge durch das abgebrannte Venn. Wenn der Naturschutz es verhindern kann, dass sich in einem Moorteich irgendwann Fische ansiedeln, muss ein Roman es schaffen, die Libellen dorthin zu bringen, wo sie ganz bestimmt nicht hingehören: an den Strand. Denn so viel ist sicher: In Norddeutschland war jedes Moor irgendwann einmal ein Meer.
Wir bedanken uns bei Christoph Rückriem von der Biologischen Station Zwillbrock e.V., der uns freundlicherweise die beiden Bilder eines Moorbrands zur Verfügung gestellt hat.