Das Jahr der Libelle
eins. Herbst
Wenn der Sommer zu Ende geht, beginnt für die Libelle das Leben, und es ist nur eines von vielen: Je nach Art häutet sich eine Libellenlarve zwischen sieben und fünfzehn Mal. Kaum ein Lebewesen durchläuft von der Geburt bis zum Tod so viele Metamorphosen wie die Libelle – vielleicht noch der Mensch mit seiner lebenslangen Sehnsucht nach einer anderen Identität. Doch die Häutung bleibt ihm, trotz geistiger, psychischer und spiritueller Umorientierung, verwehrt. Wie einfach es doch wäre, das alte, zu eng gewordene Ich abzustreifen: vergessen, wer man war, jede Verletzung ohne Narbe hinter sich lassen; und die Haut, die beim Menschen bis zur Adoleszenz auswächst und sich ab dem zwanzigsten Lebensjahr genau genommen schon wieder zurückbildet, sie bliebe immer jung, straff und schön, bis zur letzten Phase, dem »Herbst des Menschen«. Bei der Libelle aber ist die letzte Etappe der Sommer, die Prachtzeit. Erst im Angesicht des bevorstehenden Todes verwandelt sie sich in das schöne, schillernde Tier, das mit seinen kühnen Flugmanövern über Badeseen und Gartenteichen unverzichtbar zum Bildrepertoire des Sommers gehört.
Eines haben Mensch und Libelle doch gemeinsam: Am Anfang sind sie hässlich, ein Wurm. Mag der erste Schrei des zerknitterten, blutbeschmierten Säuglings schon Ausdruck der ersten Wunde sein, geschlagen von einer plötzlich fremden und gefährlichen Welt, geht die Libelle viel effizienter mit dem ersten Trauma um, der Berührung mit dem kalten Wasser. Zwischen achtzig und zweitausend Eiern legt – je nach Art und Familie – ein Libellenweibchen ab, meistens direkt ins Wasser oder in unmittelbare Nähe eines Gewässers. Bei Arten, deren Eier nicht überwintern, schlüpft nach wenigen Wochen aus dem Ei die Prolarve, ein Vorstadium der eigentlichen Libellenlarve. Es dauert nur wenige Sekunden, denn der Kontakt mit dem Wasser regt das Insekt zur ersten Häutung an. Stets ist es das komplexe Zusammenwirken des Innen mit dem Außen, das die Verwandlungen hervorruft, bei der Libelle wie beim Menschen. Wassertemperatur und -qualität, Einfallswinkel des Lichts, Beschaffenheit des Grundes, Anwesenheit erster Fressfeinde bestimmen, ob die Libelle über das Prolarvenstadium hinauskommt. Eine genetische Disposition trifft auf eine von Zufällen bestimmte Umweltsituation. Die Prolarven der Gemeinen Weidejungfer, schlüpfen sie an Land, verfügen über die Fähigkeit, sich zu häuten, während sie ins Wasser hüpfen. Larven anderer Arten können das nicht, sie verenden nur wenige Millimeter vom Wasser entfernt.
Das eine Menschenkind, dem unmittelbar nach der Geburt mütterliche Liebe und Fürsorge verwehrt bleibt und das einer wie auch immer gearteten Form von Gewalt ausgesetzt ist, überlebt die erschwerten frühkindlichen Bedingungen unbeschadet, ein anderes wird sich ein Leben lang mit den Folgen psychisch oder physisch herumschlagen. Eine in ihrer Entwicklung beschädigte Libellenlarve hat kaum Überlebenschancen, die Natur, die keine Krüppel braucht, sondert sie aus. Für den neugeborenen Menschen wie für die Libellenlarve beginnt mit der ersten »Häutung« die Zeit der Kälte.