Das Moor, wie wir es zu kennen glauben, gibt es nicht – oder nicht mehr. In Deutschland ist nur noch 1 Prozent der ursprünglichen Moore erhalten, und jene, die man noch sehen und besuchen kann, sind Biotope und Naturschutzgebiete, museale Landschaften, deren archaischer Charakter mit enormem Aufwand konserviert oder renaturiert wird. Das Schwarze Moor in der Bayerischen Rhön, Teil eines Biosphärenreservats, zeugt davon: Ein Gebäudetrakt mit Infostelle, Moorshop und Café, ein großzügiger Parkplatz mit Kennzeichnung für Busse, am Eingang ein hölzernes Tor, wie man es von Wildparks kennt. Ein breiter Bohlenweg führt durch das Gebiet, vorbei an Moorphänomenen, die wie Exponate in der leeren Landschaft stehen: knorrig verwachsene Kiefern, abgestorbene Birken, skeletthaft in ihrer schwarzweiß gemaserten, abplatzenden Rindenhaut, Bulte (trockenere, kissenartig gewölbte Grasbeulen), Schlenken (tiefer gelegene Stellen, oft wassergefüllt), Torfmoosgesellschaften, beispielhaft bewachsen mit den typischen Moorpflanzen: Moosbeere, Krähenbeere, Rosmarinheide, die das Torfmoospolster überwuchert, dazwischen das Scheidige Wollgras, dessen Fruchtstände, weißen Bärten ähnlich, schwer in der Regenluft hängen. Am Rande des Moorauges sogar der seltene Sonnentau, die fleischfressende Pflanze, die auf den Abbildungen immer viel imposanter erscheint, mit den blutroten, klebrigen Tentakel auch fremdartig, wie ein Wesen der Zwischenwelt. Hier ist das insektenverschlingende Blättchen kleiner als ein halber Fingernagel, so unscheinbar duckt es sich ins Moos, als könnte es keiner Fliege etwas zuleide tun.
Die Schautafel »Was ist ein Moor« erklärt den Großstädtern und den Kindern in wenigen Sätzen die Merkmale dieser Landschaft, doch eine andere, verborgene, tatsächlich beunruhigende Frage dringt durch die lesefreundliche Schrift: Was ist ein Mensch, wer bin ich, wo komme ich her? Das Museum ist ein Ort des gesammelten und überlieferten Wissens, es nimmt der Vergangenheit den Charakter des Unfassbaren, verbindet es mit den Menschen im Hier und Jetzt, ihren Fähigkeiten und Vorlieben (am besten erlebt man das Fremde heute interaktiv). Die Fragen, die am Existenziellen rühren und überdimensional erscheinen, werden so portioniert, dass niemand an ihnen erstickt, ähnlich, wie es die Märchen tun, die das Unbegreifliche und Schreckliche auf poetische Art mit dem Alltäglichen verbinden und so zum gelingenden Leben anleiten, ohne seine Geheimnisse preiszugeben.
Es ist genau dieses Nichtwissen, es sind die ungeklärten Fragen, die das Moor zu einer unheimlichen Landschaft machen, die sich vor uns verschließt. Die Geisterwelt, die das Moor in der Literatur, in der Kunst und in den Legenden beherbergt, zeugt von der Ahnung, halb menschliche Erfahrung, halb Urangst, dass die Natur stärker sein könnte als das Individuum, jederzeit bereit, es zu verschlingen, nicht mehr herzugeben an die tröstlichen Gemeinschaften, die das Überleben sichern. Kam man früher im Moor vom Weg ab, war man verloren. Zwar war es schon in alten Zeiten äußerst unwahrscheinlich, in einem Moortümpel zu versinken, doch auch heute verliert man in dieser eintönigen Landschaft leicht die Orientierung, da jede Himmelsrichtung gleich aussieht.
Auch dies ist hier literarisch bezeugt: Auf einer Tafel ist Annette von Droste-Hülshoffs Gedicht vom Knaben im Moor abgedruckt, die vielleicht berühmteste Dichtung über einen Irrgang durchs Moor, von einer Schriftstellerin, die, beheimatet im fernen Münsterland, so gar nichts mit der Rhön zu tun hatte. Das Moor, es ist überall und nirgends – überall führt heute ein Steg hindurch, auf dem man sich garantiert nicht verlaufen kann, nirgends aber zischt und dampft und geistert es so schön schauerlich wie in Droste-Hülshoffs Ode, die auch eine Liebeserklärung an eine Landschaft ist, die es vielleicht damals schon nicht mehr gab.
Und dann ist es plötzlich doch da, das Moor, die Geister-, die Seelenlandschaft: Der Regen hat aufgehört, Windböen zischeln im Herbstlaub der Birken, eine Nebelbank wandert über die Ebene und hüllt eine freistehende, krüppelig gewachsene Kiefer ein, die nun dort steht wie eine zerlumpte Gestalt, einsam, verloren, unerlöst, ein Untoter aus dem Torf, der sehnsüchtig herüber ins Leben starrt. Schnell baut der Kameramann um, sucht einen Blickwinkel, aus dem der Spuk telegen erscheint. Doch als er endlich dreht, ist die Nebelwand bereits weitergezogen, das Phantom ist wieder eine Kiefer, ein letzter Nebelschleier hängt noch eine Weile im Geäst, als hielte der Baum an seinem eigenen Mythos fest. Davor schwankt das Wollgras im Wind, die weißen Bärtchen wippen, ein leises Knistern dringt herüber, es klingt wie ein Kichern. Wir packen zusammen und machen uns auf die Suche nach der nächsten Erscheinung, immer entlang des Bohlenwegs. Sicher und trockenen Fußes führt er uns über einen Boden, der mindestens ein doppelter ist. Dennoch trägt das Fernsehteam die Gummistiefel, fast ein wenig trotzig, als hätte es sich aufgemacht, mit der Kamera einen Kindheitstraum zu retten, das uralte Märchen vom Moor.
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