Kein Monat macht mich unruhiger als der endlos scheinende Juli, dem ein zweiter 31-Tage-Monat aus zu viel Licht und wenig Nacht folgt. Zu keiner anderen Jahreszeit als in den erschöpfend langen, vom Sommergeplärr der Freibäder und Biergärten durchdrungenen Sommermonaten erscheint mir die Welt fremder, meine Mitmenschen beobachte ich mit tief empfundener Skepsis, nicht selten neidisch auf ein Sommergefühl, das immer nur die anderen zu haben scheinen. Und kein Tag im Jahr verschafft mir ein größeres Gefühl der Erleichterung als jener im späten August, meist um den 20. des Monats herum, wenn am Nachmittag das Licht plötzlich ein anderes ist als noch ein paar Stunden zuvor: Jetzt sind da wieder Schatten, herrscht Zwielicht unter den Bäumen und im Brennnesselsaum an den Mauern, in den nun schräg fallenden Sonnenstrahlen ballen sich Mückenschwärme, Lichtgebilde des Übergangs, nicht mehr hell, noch nicht dunkel, wie blinde Flecken vor dem Sommerhimmel, Septembers Augen. Am Vortag noch drang die Sonne auf kurzem Weg in jeden Spalt, jetzt scheinen ihre Strahlen wie umgeleitet, gebrochen und abgeschwächt, reflektiert von dem großen Spiegel hinter den Dingen, den wir nicht sehen.
Auch der Herbst zeigt mir nicht, wie ich aussehe, wer ich sein werde, im kommenden Sommer, in zehn Jahren, im nächsten Moment. Aber das Blatt, das mir vor die Füße segelt, ruft mir wieder in Erinnerung, dass es eine andere Zeit als diesen Augenblick für mich nicht gibt. Ich halte inne und hebe es auf. Die winzigen gelben Flämmchen am Rand züngeln ins Blattinnere und verbrennen die Kutikula, jene wächserne Schutzschicht, die die Epidermis umschließt und das Blatt vor schädlichen Einflüssen und unkontrollierter Verdunstung schützt. Ist die Sonnenbräune auf unserer Haut verblasst, macht der Herbst uns verwundbar, er infiziert uns mit vergangener und vergehender Zeit. Der Blattbrand ist ein Widerschein jenes verborgenen Spiegels, ein Art Brennglas-Effekt, wie er nach langen Trockenperioden tatsächlich ausgedörrte Landschaften – Steppen, Moore, Kiefernwälder – entzünden kann: Ausgerechnet das Wasser, Feind des Feuers, bündelt am Rand eines Teichs oder als winziger Tautropfen die Sonnenstrahlen und richtet sie bei optimalen Bedingungen – idealer Einfallswinkel, günstige Temperatur und Bodenbeschaffenheit – auf einen dürren Halm, bis dieser entfacht. Für einen Moment geben sich Kairos und Chronos die Hand.
Das erste Herbstblatt, das mir Anfang September vor die Füße fällt, nehme ich stets mit, lege es zu Hause irgendwohin und vergesse es. Finde ich es wieder, ist es meist schon vertrocknet, das Gelb ist braun geworden, ohne Spuren von Rot. Vielleicht entfacht die Natur draußen das Feuerrot nur aus reiner Lust an der Verschwendung, einfach, um für uns schön zu sein, ein Moment purer Lebensfreude im Spiegel des Nichts.