Ich habe das Moor noch immer nicht gefunden. Der Schauplatz meines Romans liegt zwischen Bremen und Hamburg, in der Nähe der Kleinstadt Zeven (im Roman Zeeve), weitläufig umschlossen von den Mäandern der Flüsschen Oste und Wümme, die im Roman in den Namen Jumme gemündet sind, für den wiederum zwei andere träge Wasser Pate standen, die Jeetzel und die Dumme im niedersächsischen Wendland, wo ich während eines Stipendiums die ersten hundert Seiten schrieb. Ich widerstehe der Versuchung, die Abfahrt von der Autobahn A1 zu nehmen und mir endlich die Gegend anzuschauen, in der ich mich die letzten viereinhalb Jahre gedanklich herumgetrieben habe. Ganz bestimmt ist das Dorf Rhade (im Roman Rahse) ein trostloser Flecken, Seedorf (Fenndorf) längst nicht so beschaulich, wie der Name klingt, und der Weiler Clenze (Kleenze), wo ich während des Wendland-Stipendiums im Edeka einkaufen ging, liegt sowieso ganz woanders und ist einer Besichtigung kaum wert. Nicht nur dort habe ich meine schriftstellerischen Raubzüge begangen, habe Personen in meinen Roman entführt, die gar nicht wissen, dass sie darin vorkommen. Zum Glück wird niemand erfahren, bei welchen Lamberts und Deichsens ich während meiner Wanderjahre, der Romanwalz, heimlich in die Stube geschaut habe. Auch in anderen Gegenden habe ich marodiert: im Hohen Venn in Belgien, für einen Kölner ein Ort für Sonntagsausflüge – bis ich über das Moor zu schreiben begann und den Natur- und Erholungspark plötzlich gar nicht mehr erholsam fand. Zusammengeklaut auch verschiedene abgelegene Ecken und eckige, abgelegene Worte wie abgeplaggt und Gagelstrauch aus der Lüneburger Heide, an deren Rand ich eine Zeitlang schreibend wohnte, oft im Gespräch mit einem Biologen, der mir den Libellenführer in die Hand drückte, ohne den es diesen Roman so gar nicht gäbe.
Hamburg hingegen hat sich schwer bestehlen lassen. Über den Stadtplan gebeugt und durch St. Pauli irrend mit suchendem Blick, der dort nicht selten missverstanden wurde, hat mir die Hansestadt, das (Be-)Schreiben der Hansestadt, die ich noch immer kaum kenne, neben dem Auswendiglernen des Körperbaus der Blutroten Heidelibelle samt Paarungsverhalten und Anzahl abgelegter Eier am meisten zu schaffen gemacht. Ich habe Straßennamen erfunden und existierende Bordelle in den Roman hineingedacht oder in existierenden Straßen erdachte Lusttempel gebaut. Doch stets habe ich dabei im Hinterkopf den echten Hamburger gehört, der mit Recht mäkelt: »In der Kleinen Marienstraße, da gab’s auch damals kein Puff«, oder: »Doch wohl eher Herbert-, nicht Hubertstraße, nicht wahr?« Irgendwann habe ich beschlossen, den Hamburgern ihr Hamburg zu lassen und dem Roman das seine, ab da ging es leichter. Warum sollte ich also jetzt noch die Abfahrt ins Moor nehmen?
Ich fahre stattdessen auf den Autobahnrastplatz bei Stuckenborstel, ein Name, den der kühnste Roman nicht erfinden kann. Dort schlage ich die entsprechende Seite im Straßenatlas auf: Im Dreieck zwischen den Orten Zeven, Seedorf und Rhade ist eine grün-braun gestrichelte Fläche eingezeichnet mit dem Namen Huvenhoopsmoor, das muss reichen. Der Rest wäre ohnehin eine Angelegenheit der Phantasie gewesen. Der Rest war ein in ca. 600 Worddateien protokollierter Schreibprozess, abgespeichert unter Namen wie Moor_neu546_Fortsetzung3.Kap.05-2012-mitneuemAnfang.7doc. Jede kleinste Textveränderung habe ich in einer neuen Datei festgehalten und manchmal Tage damit verbracht, im Datendschungel einen Satz zu suchen, den ich gelöscht hatte, der mir aber vorm Einschlafen wieder in den Sinn gekommen ist – mit der Erkenntnis, ihn doch zu brauchen. Ich habe auch nach Abschluss meines zweiten Romans noch keinen Weg gefunden, ökonomisch und kräfteschonend zu arbeiten.
Was noch war: neun verschiedene Schreiborte, teils von Aufenthaltsstipendien bestimmt, teils selbstgewählt. Meistens ein Hin und Her zwischen mindestens zweien, weil der andere Ort, sobald an dem einen angekommen, zum Schreiben der bessere schien. Nervende Nebenjobs. Menschen, die noch an die Sache glaubten, als ich es selbst nicht mehr tat. Und das Übliche: Rechnungen, aus verschiedensten Gründen nicht bezahlt. Rückenschmerzen nach tagelangem Schreibtischhocken. Neid auf alle mit geregelter Arbeitszeit und festem Einkommen, Ächtung derselben und in den dunkelsten Stunden die Erinnerung an den weisen Rat der Ahnen: Werde Lehrer! Gebirge ausgelöffelter Joghurtbecher auf dem Schreibtisch, übervolle Aschenbecher, überhaupt der Kampf mit dem Müll, das ständige Auf- und Wegräumen liegengebliebener Sätze, Handlungsstränge, Figuren. Im Sommer die Sehnsucht nach schlechtem Wetter, um ruhiger arbeiten zu können, das missmutige Starren aus dem Fenster in den Regen, als das schlechte Wetter endlich da war. Der Duden als letzte Rettung vor dem totalen Sprachverlust. Größenwahn, Kleinkram, Glücksmomente. Und ein paar graue Haare mehr.
Was jetzt ist: die Autobahn. Auf der Übersichtskarte im Straßenatlas ein weitmaschiges Netz aus roten Linien, kreuz und quer durch das Land. Ich starte den Motor. Nach einigen Kilometern eine Senke, braunes, borstiges Gras, durchzogen von Wasserstellen, in denen sich der tiefe Himmel spiegelt. Birken, einige abgestorben. Alles winterkahl, ein Moor, aufgetaucht am Straßenrand, um im nächsten Moment wieder vergessen zu werden. Vielleicht das letzte auf meinem Weg von Moor woandershin. Oder wer weiß.