Anderswo, in den Wäldern, beginnt der Herbst mit den Farben des Feuers. Die fünfte Jahreszeit, Brandstifterin im letzten Aufflackern des Sommers (32 Grad bei meiner Premierenlesung in Köln am 5.9.2013), zündelt im Laub: Erst ist es ein einziges Blatt, von dessen Rand aus sich der Herbstbrand langsam in die Spreite frisst und schließlich auf den Zweig übergreift, den Ast; im Oktober dann steht der Baum in Flammen. Eine Glut, die aus der Kälte kommt, und genau genommen eine farbphysiologische Erscheinung: Das Gelb ist auch im Frühling und im Sommer Bestandteil eines Blatts, es wird im Farbspektrum lediglich absorbiert, zurückgeworfen werden die grünen Wellenlängen, Farbe des Chlorophylls. Angeregt vom Schwund des Lichts und einem nie gänzlich gelüfteten Geheimnis (in welcher Nacht genau beschließt der Sommer, zu Ende zu gehen?) ziehen die Bäume das stickstoffreiche Chlorophyll aus dem Blatt zurück, die Enzyme, die Grundlage der Photosynthese sind, werden im Stamm eingelagert. Zurück bleiben die Carotine, der Sommer wird gelb und fadenscheinig, das Sterben transparent. Es ist der Tag, der uns wehmütig stimmt. Die Zeit der Traurigkeit beginnt. Das Septemberleuchten, gebrochenes, bereits leicht eingedunkeltes, deshalb golden erscheinendes Licht des Sommerendes, rührt an den tiefer liegenden Gefühlsschichten, es regt viel mehr zum Erinnern und Sehnen an als das harte, eindeutige Julilicht, das man entweder flieht oder beim Sonnenbad leichthin genießt.
Die Freude ist ein Gefühl des Moments und Kairos zugeordnet, dem griechischen Gott der günstigen Gelegenheit, des richtigen Augenblicks. Man muss ihn »beim Schopf packen«, sonst verflüchtigt er sich – in der mythologischen Ikonographie ist Kairos ein nackter Jüngling mit kahlem Hinterkopf und Flügeln an den Fersen, der auf die sich neigende rechte Schale einer Waage zeigt. Sein Gegenspieler ist Chronos, der Gott der Zeit, der aus dem dunklen Chaos hervorging, oft abgebildet als bärtiger Greis mit Sichel und Stundenglas in der Hand oder umgeben von Klageweibern. Der Sommer also ein Glücksmoment, den man nutzen sollte, denn er ist unzuverlässig – nie weiß man, wann und ob die »schönen Tage« in diesem Jahr kommen. Der Herbst hingegen ist beständig, er beginnt verlässlich mit oder nach dem Septemberlicht und verläuft meistens gleich: erst die Birnen, dann die Äpfel, und wenn unter den Füßen die Maronen knirschen, sind die Kastanienbäume schon fast ohne Laub – Zeit für die »Novemberdepression«.
Dabei ist der Herbst – wenn man ihn schon derart vermenschlicht und ihn den großen Melancholiker ruft – die ehrlichere Jahreszeit, bodenständiger, authentischer als der launische, bisweilen hysterische Sommer mit seinem vergnügungssüchtigen, körperhungrigen Licht, das gnadenlos alles ausleuchtet, was man lieber bedecken und verhüllen möchte. Nicht, wie man vermuten könnte, in den dunklen Wintermonaten, sondern im Mai und Juni nehmen sich laut Statistik in diesem Land Menschen am häufigsten das Leben. Wer im Sommer »schlecht drauf« ist und an Sonnentagen sein Zimmer nicht verlässt, erntet größeres Unverständnis als der Herbstdepressive, der die Schuld an seiner Verstimmung dem chronisch dunklen Himmel anlasten darf. Der Gott mit Sichel und Zeituhr hat uns fest im Griff, leben macht, langfristig gesehen, unglücklich. Stets sind die leichten, hellen und sommerlichen, die kairotischen Momente, wird man sich ihrer bewusst, unwiederbringlich verloren, wieder einmal wurde die Gelegenheit nicht beim Schopf gepackt, hat man den Glücksmoment rückblickend nicht genug ausgekostet. An langen Winterabenden erzählt man sich von ihnen, beim Tee, der nach Zimt oder Apfel duftet, nach Herbst.