1. Nach welchem System ordnen Sie Ihre Bücher?
Ich glaube, ich wäre nicht Schriftsteller geworden, folgte mein Schreiben – und dazu zähle ich auch das Lesen – einem System. Schreiben war und ist für mich der Drang, ins innere und äußere Chaos meines Lebens eine Schneise zu schlagen, mir einen Weg zu bahnen, an dessen Ende aber nicht eine Form der Ordnung steht, sondern das Gefühl, etwas (literarisch) bewältigt zu haben. Es gibt kaum Koordinaten auf dieser meist unkalkulierbaren Wegstrecke. Am Anfang steht der Impuls, etwas zu suchen (einen Satz, den ich noch nicht kenne, von dem ich aber weiß, dass er irgendwo in mir liegt, ein Buch, von dem ich dachte, es zu besitzen, um nach einer meist nervigen Suche festzustellen, es doch nur irgendwann einmal ausgeliehen oder selbst verliehen zu haben). Am Ende wartet womöglich ein flüchtiges Glücksgefühl, das sich im Moment des Findens einstellt und immer auch die Enttäuschung miteinschließt. Im Fall des Satzes, der, so tief im Innern, noch keine Syntax hat, beginnt dann die Arbeit des Formulierens, und wenn ich nach Viertel- und halben Stunden endlich das Buch gefunden habe, blättere ich oft ebenso lange nach der Textstelle, die für meinen Satz eine Inspiration sein könnte – vielleicht steht sie ja doch in einem ganz anderen Buch?
Auf diesen zeitaufwändigen Kreisbewegungen zwischen Schreibtisch, Erinnerung und (Lieblings-)Lektüren lagert sich das alltägliche Leben in Schichten ab wie Staub auf Bücherregalen. Neben drei mit Büchern, Manuskripten, CDs und Steuererklärungen vollgestopften Billy-Regalen mit durchgebrochener Rückwand dominieren mein Arbeitszimmer fünf über Eck gestellte, siebzigerjahrefarbene Kinosessel aus dem Räumungsverkauf eines kleinen westfälischen Lichtspieltheaters, in dem sich heute ein Supermarkt befindet. Auf den rückseitig angebrachten Ablagen, wo früher, im Kinodunkel, Aschenbecher, Coca-Cola und Popcorntüte standen, klumpen sich jetzt längs, quer und diagonal weitere Bücher zu einem zerklüfteten Grundstein aus gelesener oder noch zu lesender Literatur, auf dem man nicht bauen sollte. Thomas Stangl trägt James Joyce, Joyce trägt Kafka, der wiederum Thomas Mann stützt, das immerhin ergäbe einen systematischen Sinn. Aber was sucht Elfriede Jelineks Klavierspielerin neben Solschenizyns Archipel Gulag? Und warum kuschelt Bodo Kirchhoff mit der lutherischen Übersetzung der Bibel, die wiederum in gefährlicher Schräglage auf Thomas Melles Erzählband Raumforderung balanciert? Eine ungelesene Juli-Ausgabe der Zeit bildet das Dach eines der Büchertürme, ein bunter Stein vom Ostseestrand die Zinne des anderen. Dazwischen Kataloge, Verlagsprogramme, Abzuarbeitendes, Geschenke, Vergessenes. Neben David Foster Wallaces Roman Unendlicher Spaß klafft eine Lücke, die letzte Woche noch, glaube ich mich zu erinnern, geschlossen war. Das literarische Gebäude meines Lebens wächst in die Höhe und gräbt sich dabei beständig selbst das Fundament ab. Einmal stürzte mir ein Teil des Bücherbergs über dem Kinosessel Parkett Reihe 11 erdrutschartig entgegen, weil ich aus der untersten Schicht vorsichtig Hans Henny Jahnns Holzschiff hervorzog – in der schmalen Taschenausgabe von dtv. Ein Glücksmoment, letztendlich, denn ich ahnte es schon immer: Jahnn trägt mehr, als so mancher ihm zutraut.
Immerhin, Ingeborg Bachmanns gesamtes Werk steht geschlossen beieinander, ganz links außen und in rechtwinkliger Horizontal-Vertikal-Ausrichtung einigermaßen einsturzsicher. Vielleicht habe ich aber auch nur schon lange, viel zu lange nicht mehr darin gelesen.
Ausgelagert, vielleicht wegen des Gewichts, ist der komplette Goethe, der in 38 Bänden im obersten Fach eines Regals im Wohnzimmer thront, allerdings seit einiger Zeit halb verdeckt von einem Originalwerk der Berliner Künstlerin Judith Karcheter, einer Collage über Hochseiltänzer. Meine Sorge, ins Chaosprinzip meines Lebens schleiche sich mit zunehmendem Alter die bürgerliche Sehnsucht nach kanonisierender Ordnung im Bücherregal, scheint unbegründet. Denn, wie ein befreundeter Künstler mir neulich zuzwinkerte, als er mit dem Finger über das Goethe’sche Umfeld strich: Wo Staub liegt, herrscht Frieden.
2. Welches Buch lesen Sie gerade?
Olivier Py, Paradies der Traurigkeit; La Mettrie, Der Mensch eine Maschine; Pier Paolo Pasolini, Petrolio. Ein System erschließt sich vielleicht später.
3. Wie weit reicht Ihre Sammlung zurück?
biographisch: Margret Rettich, Die Geschichte vom Wasserfall … der Christian Pitschen Melchior Glück brachte, als dieser es schon verloren glaubte, vorgelesen wahrscheinlich von der Mutter 1977(?)
historisch (Originalausgaben): Charles Macfarlane, Life of Napoleon Bonaparte, 1879, gekauft auf einem Flohmarkt in Prag wegen des schönen Covers, noch immer nicht gelesen.
gefühlt (deutschsprachig): einigermaßen tragfähiger Grundstein in der Spätromantik, davor, danach: Risse, Spalten, Schründe, schwarze Löcher.
faktisch: letzter Umzug mit Bücherflohmarkt 2005. Mitgenommen habe ich vor allem Bücher aus den Fragen 4 und 5.
4. Welche Bücher liegen Ihnen besonders am Herzen?
5. Welches Buch hat Ihr Leben verändert?
Diese Fragen kann ich nur zusammen beantworten. Mit den Büchern, die mir am Herzen liegen, verbinden mich Liebesgeschichten; leidenschaftliche kurze Affären, On-Off-Beziehungen, treue, beständige Ehen und so mancher One-Night-Stand. Sie alle haben mein Leben verändert und verändern es weiterhin, und die Erfahrungen mit ihnen verändern rückwirkend wieder die Bücher bzw. meine Lektüre dieser Bücher, die Erinnerungen und Erwartungen an sie, ihren Platz auf meinem Bücherberg, mal Sediment, mal Gipfel.
Wahllos griff ich aus der Fülle des elterlichen Bücherregals einen Gedichtband von Ingeborg Bachmann, schlug das Gedicht Die gestundete Zeit auf und wurde augenblicklich abhängig. Ich war fünfzehn, es war noch lange vor der ersten Zigarette. Die Verse Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand, / er steigt um ihr wehendes Haar, / er fällt ihr ins Wort, / er befiehlt ihr zu schweigen, / er findet sie sterblich / und willig dem Abschied / nach jeder Umarmung, takteten meine ersten lyrischen Gehversuche und legten sich wie ein Mantra über die mäandernden und oft ziellosen Such(t)bewegungen meiner Jugend. Vom Band zwei der vierbändigen Bachmann-Gesamtausgabe ist irgendwann der Buchrücken abgebrochen, runzlig drückt sich die Struktur der Fadenbindung durch das pergamentartige Schutzpapier, im Schuber klafft eine vernarbte Wunde. Als die Ich-Erzählerin aus dem Roman Malina am Ende meiner Lektüre in einem Riss in der Wand verschwand, überschritt auch meine Liebe zu Bachmann eine Grenze, ich verlor mich für mehrere Jahre in einem Romanvorhaben mit dem Titel Der Riss und brach die Beziehung schließlich verausgabt ab. Erst nach vielen Jahren wagte ich einen Neuanfang mit der Schriftstellerin; der Furor war verschwunden, doch mein Herz klopft auch heute noch im Takt der Gestundeten Zeit.
Vielleicht war es unvermeidlich, dass ich aus Bachmanns Werk direkt in Fernando Pessoas Buch der Unruhe stolperte, entdeckt ausgerechnet auf dem Nachttisch meiner ersten großen Liebe. Die wiederum zehrte mehrere Jahre lang an mir und blieb doch unerfüllt, Das Buch der Unruhe aber wurde zu einer Art Bibel, ich las es täglich, gleichermaßen entsetzt wie glücklich darüber, dass es für meine mir damals unbegreifliche Traurigkeit scheinbar doch eine Sprache gab.
Ich schrieb und las also weiter, schrieb und las dabei auch viel Unbrauchbares und Unnötiges, wenngleich ich One-Night-Stands, wie fahl sie im Licht des Morgens auch erscheinen, grundsätzlich nicht bereue. Lange leuchtete in meinen Tagen Georges Batailles Blau des Himmels, funkelte sein Obszönes Werk durch die Nacht, sein Heiliger Eros glüht auf 280 Seiten vom Textmarker fast durchgehend neongelb. In Walter Foelskes Roman Im Wiesenfleck begegnete mir die Sprache mit einer physischen Gewalt, die mir, kraftlos baumelnd in der Orientierungslosigkeit nach dem Studium, den nötigen Schlag in die richtige Richtung versetzte; ich schrieb, blutend, Mensch Engel, meinen ersten Roman. Als ich vor einigen Monaten Im Wiesenfleck erneut las, spürte ich wieder die Wucht, doch dieses Mal hielt ich den Schlägen stand.
Vor einiger Zeit fuhr ich mit dem Auto über den Schweizer San-Bernardino-Pass nach Italien. Weil ich Hunger hatte, machte ich Halt an einem Gasthaus mit Namen Rofflaschlucht. Der Hinterrhein zwängt sich hier durch eine enge, düstere Klamm, an ihrem Ende stürzt ein Wasserfall in einen kleinen See. Ich folgte dem Weg in dem Gefühl, ihn schon einmal gegangen zu sein, und auch der Wasserfall kam mir seltsam vertraut vor, obwohl ich zum ersten Mal in meinem Leben an diesem Ort war. Im Gasthaus deckte ich mich mit Proviant ein und sah in einer Auslage mein Lieblingskinderbuch von damals: Die Geschichte vom Wasserfall … der Christian Pitschen Melchior Glück brachte, als dieser es schon verloren glaubte von Margret Rettich. Nach einer wahren Begebenheit erzählt das Buch die Geschichte einer armen Schweizer Bergbauernfamilie, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts nach New York auswandert, um dort das bessere Leben zu suchen. Doch das Glück stellt sich nicht ein. Ein Besuch bei den Niagarafällen erinnert sie an den Wasserfall, der zu Hause verborgen hinter einer Felswand rauscht. Sie kehren zurück, sprengen ihn mit großem Aufwand frei und gründen am Wasserfall ein Gasthaus, das ihnen Erfolg bringt.
Als Kind war ich süchtig nach diesem Buch und seinen Illustrationen, später habe ich es vergessen. Als ich es nun bei einem Mitglied der Familie Melchior am Tresen kaufte, war ich so aufgeregt, dass ich mir draußen sofort eine Zigarette anzünden musste. Das schmale Kinderbuch steckt nun ziemlich weit oben in meinem Bücherhaufen und ist doch gleichzeitig eine seiner ältesten Schichten. Raucher bin ich seit Pessoa existenziell und ohne Unterbrechung.
6. Welches Buch haben Sie zuletzt verschenkt?
Accabadora von Michela Murgia (auf Italienisch)
7. Wer soll Ihre Bücher einmal bekommen?
Darüber sollen dann andere streiten.
8. Wie sieht/sähe Ihre ideale Bibliothek aus?
Wenn ich das Buch, das ich gerade suche, in weniger als einer Minute fände, hätte ich mir vermutlich eine ideale Bibliothek eingerichtet. Aber wohl auch ein recht überschaubares Leben.