Für Gunther Geltinger ist der Schriftsteller und Filmemacher Pier Paolo Pasolini einer der wichtigsten Künstler des vergangenen Jahrhunderts. Geltinger hält ihn »für einen Visionär, der seismographisch die gesellschaftlichen und politischen Zerrüttungen seiner Zeit aufspürt und ihnen eine radikale Poesie entgegenstellt, die zugleich der einzige Ausweg zu sein scheint, für seine Figuren wie für ihn selbst als Künstler und Mensch. In seiner Kritik an der Moderne ist er für mich auch heute noch einer der modernsten Künstler, dessen Blick auf die Zeit, in der wir leben, um so aktueller wird, je weiter wir in ihr voranschreiten.«
Für die nächsten Schritte in seiner eigenen literarischen Arbeit hat Gunther Geltinger noch einmal Pasolinis Werke Teorema, Die 120 Tage von Sodom und Petrolio gesehen und gelesen.
Wäre der Schrei ein Bild, ich sähe eine Wüstenlandschaft, über die Wolkenschatten wandern und der stumme Sand in Schwaden zieht. Hätte dieses Bild einen Klang, wäre da vielleicht das gedämpfte Rattern eines alten Filmprojektors hinter der Glasscheibe oder ein Atmen neben mir im dunklen Kinosaal, das vor der eigenen Hörbarkeit erschrickt und stockt, wenn in kurzen Sequenzen und ohne Ton die Leere der Wüste in die Erzählung des Films Teorema von Pier Paolo Pasolini einbricht – immer dann, wenn aus dem Mund der handelnden Personen der Schrei erklingen und jenem Moment ihres Lebens Gesicht und Stimme geben müsste, der im Film nicht mehr gezeigt, nicht mehr gehört werden kann. »Die Wüste ist keine Landschaft mehr, sondern reine Form, die aus der Abstraktion aller anderen entspringt«, schreibt Jean Baudrillard in seinem Aufsatz Ich habe einen Traum.1
Nachdem Odetta, die junge Tochter der Mailänder Industriellenfamilie, das Unsichtbare und Unsagbare erblickt und davon verführt worden ist, verfällt sie in Apathie und hält etwas in der verkrampften Hand, das sie um keinen Preis mehr hergeben will. Der Hausarzt sitzt neben dem Bett der Verstummten und kratzt sich ratlos den Bart; die Wissenschaft findet für den rätselhaften Zustand des Mädchens nur den einen hilflosen Satz: »Dafür bin ich nicht zuständig.« Ein letztes Mal versucht das Dienstmädchen Emilia Odettas Hand zu öffnen und ihr das Geheimnis zu entreißen, dann wird die Tochter in die Psychiatrie abtransportiert.
»Ich bin ein richtiger Idiot«, lacht der rothaarige Sohn Pietro über sich selbst, als er, ebenfalls geblendet von der Begegnung mit dem Numinosen, sein erstes Bild malt. Später, im Kampf mit der inneren Leere, wenn er auf der verquälten Suche nach dem authentischen Kunstwerk die Action Paintings von Jackson Pollock imitiert und, blind für sich selbst und den Sinn seines Daseins, willkürlich Farbe auf die Leinwand kippt oder auf das unbeschriebene, schier unbeschreibbare Weiß des Papiers uriniert, reflektiert er sein Handeln differenzierter: »Ein Strich, gemalt auf eine Glasscheibe, verbessert, ohne dass er ihn verschmiert, einen Strich auf einer Glasscheibe, die dahinter steht. Aber keiner darf glauben, dass es sich dabei um eine Notlösung handelt, weil ich nicht anders kann. Keiner darf wissen, dass der Künstler zu nichts taugt, sein Leben eingeengt hat durch lächerliche Schwermut, die ihn erniedrigt, in dem Gefühl, etwas für immer verloren zu haben.«
Verloren hat die Mailänder Familie vor allem den Halt in ihren großbürgerlichen Strukturen, in ihren Moral- und Wertvorstellungen. Vor der Glasscheibe, auf der sich wie auf einer zweiten, hinter dem sichtbaren Filmbild flimmernden Ebene die Auflösung der Identitäten vollzieht, erklingt eine Musik, die unausweichlich auf ein Crescendo zusteuert, auf eine Entgrenzung des Lichts, dieses gleißenden und richtungslosen Lichts über den Sümpfen der Poebene, in das die Blicke der Figuren im Laufe des Films immer wieder sehnsüchtig schweifen: Mozarts lux aeterna aus seinem Requiem. Im blendenden Schein dieses Lichts wird der Vater Paolo (Massimo Girotti) seine Fabrik den Arbeitern schenken und im Mailänder Bahnhof nach Strichern Ausschau halten, getrieben von einer Begierde, die namenlos und unerfüllt bleibt. Das Theorem der Familie ist ein moralischer Verhaltenscodex, der jedes Familienmitglied auf existenzielle Probleme und tiefe Bedürfnisse mit den immer gleichen bürgerlichen Ritualen reagieren lässt. Pasolini fügt in die formelhaften Abläufe dieses in leeren Gesten und Gewohnheiten erstarrten Lebens eine unberechenbare Variable ein: Wenn Paolo am Ende des Films unter den Augen eines Jungen, der bereit ist, ihm, dem ehemaligen Großindustriellen und Patriarchen, seinen jugendlichen Körper zu verkaufen, die Kleider ablegt und nackt in die Wüste rennt, hören wir noch einmal das Introitus aus Mozarts Requiem. Es strebt, von Sandschwaden und Wolkenschatten gepeitscht, unter dem stolpernden Schritt des Mannes in die Höhe und reißt ab, als sein Schrei losbricht und im Nichts verhallt.
Hätte der Schrei einen Körper, er käme als fremder Mann in mein Leben, ein ungebetener Gast für ein paar traumgleiche Tage, in denen er sich, kaum dass ich seine Schönheit erblickt habe, unentbehrlich, ja, lebensnotwendig macht. In Teorema kündigt der Fremde seinen Besuch mit einem kurzen Telegramm an. Er ist auf dem Weg von irgendwoher nach irgendwohin. Seine Augen sind von der Farbe der Erinnerung, die alles himmelblau malt. »Doch das Blau reicht nicht aus, das Blau ist nur ein Teil«, misstraut der Maler Pietro seiner Farbe. Breitbeinig lümmelt der Gast, gespielt von Terence Stamp, auf dem Stuhl im Garten und liest Gedichte von Arthur Rimbaud. Zwischen seinen einladend gespreizten Schenkeln sieht das Dienstmädchen Emilia die Beule. Erfasst von einer unbegreiflichen Verzweiflung, die zugleich ein unerträgliches Begehren ist, rennt sie in die Küche und steckt sich den Gasschlauch in den Mund. Der Gast rettet, verführt, verwandelt sie. Niemand hat ihn eingeladen, dennoch wird er in der Familie aufgenommen wie der Erlöser, an dem alle Hoffnungen hängen. Sanft und lächelnd wie ein Engel bewegt er sich durch das prunkvolle Haus, er ist der Lichtbringer, Luzifer, der Engel, der Gott so nahe kam, dass er von ihm zur Strafe in die Hölle gestürzt wurde. Stürzen werden sie alle in dieser Familie, vom Hausherrn bis zur Haushälterin; doch Emilia, die aus dem Proletariat stammt, wird am Ende schweben. Mit kummervollen, fragend blickenden, stets tränennassen Augen verkörpert Laura Betti den religiösen Mystizismus des Kleinbürgers. Die Bauerntochter aus ärmsten Verhältnissen kehrt zu ihrer Familie zurück und unterwirft sich der radikalen Askese. Sie verstummt, ernährt sich von Brennnesseln, heilt Kranke und schwebt eines Morgens als Heilige über dem Dach des Gehöfts, im ewigen Licht der campagna, während sich in der Stadtvilla die Schatten verdichten und die Seelen abfallen von der Sonne. Schließlich lässt Emilia sich lebendig begraben, und aus ihren Tränen entspringt eine Quelle. Die Trauer der Großbürger aber führt nirgendwohin als ins eigene innere Dunkel.
Immer wieder sucht der Kamerablick den prallen Schritt des dauerlächelnden Gastes. Lucia, die gewissenhafte Hausherrin – Silvana Mangano in statuarischer Blässe -, berührt die abgestreifte Unterhose des Gastes und legt sich entkleidet auf den Boden, begierig, das Unbekannte zu empfangen. Nachdem der Gast auch sie verführt hat, wird sie die Berührung verzweifelt wieder suchen, in den Schößen der jungen Männer, die sie auf den Mailänder Straßen aufgabelt und denen sie sich hemmungslos hingibt, in Hotelzimmern und zuletzt hinter einer kleinen Landkirche, in der sie betend Zuflucht sucht. Doch ihr Glaube ist längst zu bürgerlicher Etikette verkommen, ihr Begehren wuchert maßlos und ohne die Kraft inneren Wachstums.
In Die 120 Tage von Sodom, Pasolinis letztem und formal radikalstem Spielfilm, ist das große Genital des attraktiven Verführers, eines Schergen der faschistischen Machthaber, in Nahaufnahme entblößt. Doch es ist, sichtbar erst auf den zweiten Blick, eine Attrappe, ein Porno-Avatar, die Vorstellung des Hoffnungslosen von der Welt des Erhabenen, das im mörderischen System des Faschismus ins Obszöne pervertiert. Wer es gesehen hat, muss im Namen der Macht sterben, wer darüber gesprochen hat, wird verstummen. Im grausamen Finale des Films, wenn den jungen Männern und Frauen aus dem Volk, die zur Unterwerfung, Vergewaltigung und Ermordung von den Bauernhöfen und Landstraßen rekrutiert wurden, von den großschwänzigen Schergen der blut- und sexbesessenen Faschisten die Augen aus den Höhlen und die Zungen aus den Mündern geschnitten werden, lässt Pasolini zu dem Gewaltexzess Carl Orffs Das heitere Gesicht des Frühlings aus der Carmina Burana im Radio erklingen, eine Musik, deren Schönheit angesichts der Bilder vom Ende jeglicher Menschlichkeit nur noch ins Jenseits verweisen kann. Während draußen im Hof geschändet und geschlachtet wird, langweilen sich die Söhne der Machthaber im Zimmer, schalten das Radio auf Unterhaltungsmusik um und beginnen zu tanzen.
Die Erzählung selbst kann hier ihr Versprechen nicht einlösen und muss sich als Kunstform entlarven, denn allein das streng Durchgeformte, fast Geometrische der Pasolinischen Ästhetik bietet sowohl dem Entsetzlichen und eigentlich nicht Erzählbaren als auch dem lux aeterna, das eben nur Licht und nicht physische Welt ist, den Raum, in dem sich das Bild- und Wortlose, das Göttliche wie das Monströse, in den zwischenmenschlichen Beziehungen als Emotion und Bewegung, als Handlung niederschlagen kann.
Weder der Mord noch der sexuelle Akt stehen bei Pasolini für sich selbst, nie ist der Exzess eine wörtlich zu nehmende politische oder sexuelle Zuweisung. Realität wird bei Pasolini in solch hohem Maße abstrahiert und ästhetisiert, dass es nicht mehr das Explizite der Gewalt oder der obszönen Handlung ist, das so tief verstört, sondern die Unmittelbarkeit, ja, Nacktheit der Projektionsfläche, die hier für den Zuschauer geschaffen wird. In seinem großen, nie vollendeten Romanfragment Petrolio wendet sich Pasolini sogar direkt an den Leser, um ihm die Illusion zu rauben, dass es sich hier um eine literarisch abgebildete Wirklichkeit handeln könnte, und er tut dies in ähnlich radikaler und entwaffnender Ironie, mit der er auch die brennnesselfressende Emilia in einer Einstellung von Teorema plötzlich mit grünen Haaren zeigt:
An dieser Stelle, mein Leser […] dieses Epos. Ich möchte Dich bitten, Dich, ohne all zu viel Widerstand, mitreißen zu lassen. Fang derweil damit an, nicht zu lächeln, wenn der Kosmos ins Spiel gebracht wird, was vielleicht mit einem nicht unbedingt angebrachten Ernst geschieht, wenn auch, das wirst du zugeben, nicht wirklich übertrieben.2
Petrolio spielt zwischen dem Ende der Fünfziger- und dem Anfang der Siebzigerjahre in Italien (Teorema wurde 1968 gedreht, Die 120 Tage 1975). Carlo, der Protagonist, ist als Manager der staatlichen Energiegesellschaft ein korrupter Machtmensch. Zuständig für den Nahostmarkt, unterhält er zwielichtige Beziehungen zu Politik, Mafia und Kulturfunktionären. Doch Pasolini widmet dem Blick in die oberen Etagen der Macht nur einen kleinen Teil seines umfangreichen Manuskripts. Carlo besteht aus zwei Personen: Da ist Carlo 1, der Ölmagnat, der rücksichtslos seine ökonomischen Ziele verfolgt. Carlo 2 aber, der dauermasturbierende Sexmaniac, streift auf der Suche nach Befriedigung rastlos durch die Städte und Provinzen; er schreckt nicht einmal vor dem Koitus mit seiner Großmutter und seiner Mutter zurück. Pasolini folgt Carlos rastlosen Sextouren wie mit einem Kamera-Auge, das fast dokumentarisch seine Ausschweifungen beobachtet und die Bewegungen seiner Gier gleichzeitig in eine stets ins Metaphysische verweisende Sprache transformiert. Die Wahrnehmungsorgane – vor allem Nase und Auge – stets auf das männliche Geschlecht gerichtet, das ihm mal gewaltig zylindrisch oder einfach nur rosig, glänzend und trocken begegnet, folgt Carlo, als Manager an der Spitze einer Gesellschaft, die sich auf der Schwelle zur Postmoderne befindet, seiner Sehnsucht, die einer alten, verloren geglaubten Kultur gilt, die noch mit dem Göttlichen verbunden war – und aus der Carlo einst hervorgegangen ist. Denn zu Beginn spaltet sich Carlo in zwei Personen auf – in sein Selbst und in denjenigen, der getrennt von seinem Selbst leben und überleben muss. Carlo di Thetis und Carlo di Polis, wie Pasolini die beiden nennt, treten sich in einer Szene als Engel und Teufel gegenüber. Beide streiten darüber, wem Carlos Körper gehören soll. Carlo di Thetis, der Engel, rhetorisch gewandt und von blitzend hellem Verstand, findet immer neue Argumente, die das Gute, Schöne und Aufrichtige an Carlo hervorheben, Gründe, die Carlos Körper dem Engel zusprechen sollen. Carlo di Polis aber, der Teufel in schäbigen Lumpen (hätte Pasolini Petrolio verfilmt, Polis wäre ein schöner junger Landstreicher mit staubigem Gesicht und dunklen verführerischen Augen) erwidert unbeirrt den immer gleichen Satz: »Einverstanden, aber die Last, die in ihm ist, gehört mir.«
Schließlich holt Polis ein Messer hervor, schneidet den Körper von Carlo auf und holt aus seinem Innern einen Fötus hervor. Der wächst schnell,
… und wie er so wächst und wächst, erkennt Carlo ihn mit unendlichem Erstaunen: Er ist es selbst, als kleines Kind, dann als Junge, dann als Jugendlicher, dann als Dreißigjähriger, so wie er jetzt ist, ein Mann, der klug und gebildet aussieht, bereit fürs Leben. […] Carlo di Thetis und Carlo di Polis sind identisch. […] Und dabei starren sie sich so aufmerksam an, dass ihre Augen wie versteinert wirken. Ein dunkles Gefühl liegt in diesem Blick, der sie so eng vereint, als schnüre er sie mit einer einzigartigen, sie einander zutreibenden Spannung zusammen.
Während Carlo diesen Blick verfolgt, als einer, der ahnt und schweigt und sich nicht von dem freimachen kann, dem er die Offenbarung verdankt, […] merkt er nicht, dass der Engel und der Teufel sich entfernt haben. Er sieht gerade noch rechtzeitig, wie sie verschwinden, freundlich miteinander redend und sich eingehakt haltend, wie zwei alte Freude<, die […] eine Komödie vorgespielt haben […]3
Auch in Teorema hat der Engel einen Gegenspieler, und auch hier sind die beiden gleichzeitig Verbündete. Es ist der Narr des Lehrstücks, Angelino mit Namen, ein idiotischer Postbote, der zu den Klängen eines Transistorradios linkisch mit den Armen flattert, während er Emilia das Telegramm überbringt, das den geheimnisvollen Gast der Familie zur Abreise ruft. Nur er scheint Bescheid zu wissen, wie das chiffrierte Theorem zu lesen ist: Als Emilia die verhängnisvolle Botschaft entgegennimmt, herrscht zwischen ihnen das wortlose Verstehen der Unerhörten.
»Ich trage ihn«, sagt der Gast zu Emilia, die ihm den schweren Koffer abnehmen möchte, und Emilia erwidert: »Nein, ich trage ihn.« – »Dann tragen wir ihn also zusammen«, lächelt der Gast, und sie schleppen den Schmerz über den großen Verlust schweigend ins graue Licht der Stadt. Die anderen, sie bleiben im Finstern der Villa zurück: die Faschisten und ihre Schergen, die Kapitalisten und die Korrupten, das Bürgertum und seine Kinder, diese
… mäßig-mürrische(n) Demokraten, überzeugt, daß nur die wahre / Demokratie die falsche zerstört; anarchistische blonde / Jungen, die treuherzig das Dynamit / mit ihrem guten Sperma verwechseln […] Guerriglieros mitsamt ihren Guerriglieras, / die beschlossen haben, daß Neger sind wie Weiße / (aber Weiße vielleicht doch nicht wie Neger): sie alle, alle / bereiten nichts anderes vor als die Ankunft / eines neuen Gottes der Ausrottung, / sind in Unschuld gezeichnet mit einem Hakenkreuz: / Und werden doch die ersten sein, die mit / echten Krankheiten und mit echten Lumpen am Leib / in die Gaskammer kommen: Ist’s nicht das, was sie wollen?4
Mein Schrei währenddessen irrt weiter stumm durch die Wüste, auf der Suche nach Worten für seinen Klang …
1Marcus Stiglegger: Die Wiederkehr von Teorema, daraus: Jean Baudrillard, (2002): Beitrag in Die Zeit zu: Ich habe einen Traum
2,4Pier Paolo Pasolini: Teorema oder die nackten Füße, Roman, München 1971
3 Pier Paolo Pasolini: Petrolio, Roman, Berlin 1997