Es geht nicht darum, was Social Reading ist, sondern was es sein kann. Das heißt zunächst und vor allem: Es gibt viele Formen des Lesens. Es gibt falsches Lesen, gefährliches Lesen, das heimliche Lesen unter der Bettdecke oder die prognostizierte Unfähigkeit zu lesen, weil es zu viel Ablenkung gibt durch Medien, Smartphones etc.
Die Anderen
Doch Lesen ist ein Bildungsprozess: Die meisten Menschen lesen, weil es ihnen hilft, eine eigene Identität zu finden. Jeder Bildungs- oder Coming-of-Age-Roman erzählt davon: Es handelt sich um einen zutiefst egozentrischen Vorgang und zugleich um eine Auseinandersetzung mit anderen Menschen und Kontexten. Der oder die andere, die anderen: Sie sind wichtig. Wir erzählen ihnen etwas und sie hören zu, wir hören, was sie antworten; jede Erzählung wird erst zu einer solchen, wenn sie gehört und gelesen wird. Und nur darum geht es bei Social Reading: um das Gemeinsame, das Gemeinschaftliche, um Lesen als Kulturtechnik im Sinne einer sozialen Praxis.
Versionen
»Stets preisen den Gesang die Menschen am höchsten, der als allerneuster umtönt die Ohren der Hörer.« So Telemachos in der Odyssee zu seiner Mutter, die nicht hören will, was der Sänger Phemios für sie Trauriges von Odysseus und seinen Gefährten erzählt. Sein Einwand hat vor allem damit zu tun, dass er den Sänger nicht für seine Botschaft abgestraft sehen will, sondern darauf verweist, wie gut er seine Sache macht und dass er schließlich nur das erzählt, was er gerade weiß. Das ist seine – besonders gut gemachte – Version. Weitere Versionen werden folgen, müssen folgen und werden vorangegangene ersetzen. Wie in den sokratischen Dialogen geht es nicht darum zu belehren, auch nicht um einen Disput. Vielmehr wird gemeinschaftlich von Erzählern und Zuhörern, die eben auch die Rollen tauschen können, an Geschichten weitererzählt. Entsprechend hat es in der Geschichte auch nicht lange gedauert, für diese Art des kommunikativen Austauschs Konventionen zu verabreden.
Waschen und Abtrocknen
Eine mindestens schon in der römischen Antike gängige Konventionalisierung war und ist die Lektüre. Und das ist zunächst und für lange Zeit danach die gemeinsame Lektüre, die auch immer öffentliche Lektüre war. Es wurde vorgelesen, und es wurde gemeinhin auch Resonanz erwartet: Beifall, Kommentare, weitere Lesungen. Plinius d. Ä. erzählt, dass er sich während der Mahlzeiten vorlesen ließ, wenn er sich wusch oder natürlich auch beim Abtrocknen. Dass jemand alleine und zu Hause las, war ungewöhnlich. Gelesen wurde auf der Straße, bei Gastmählern, in Theatern und auf öffentlichen Plätzen, und das alles nahezu täglich und manchmal auch sehr lange. Plinius berichtet, dass er einmal zwei Tage am Stück vorgelesen habe. Und auch hier gab es natürlich schon bestellte Zuhörer, um im Zweifel verlässliche Resonanz zu garantieren.
Der Raum
Der Raum, in dem dieses wechselseitige Lesen, Schreiben, Erzählen und Reden stattfindet, bestimmt den Rahmen, den Kontext. Es gab und gibt geschlossene und offene Räume, enge und weite, Schwellenräume, imaginäre, technologische Räume. Die Geschichte der Salonkultur von den Gonzagas in Urbino über die Marquise von Rambouillet im absolutistischen Paris hin zu den Salons der Moderne gibt dafür ebenso Beispiele wie das World Wide Web. Immer geht es – und das auch noch dann, als längst die neue Mode aufgekommen war, dass Lesen eine stille und einsame Tätigkeit sein könnte oder sogar sollte – darum, dass Menschen aus sehr unterschiedlichen Kontexten zusammenkamen, durch den wechselseitigen Austausch, durch Konversation und Gespräch Neues kennenlernten, ausprobierten.
Sozial wird das Lesen, wenn sich Menschen über Texte austauschen. Geschichten, Bücher, unterhaltende, belehrende, kontroverse oder der Liebe huldigende Texte: Entscheidend ist der Austausch, in dem Autor und Leser zu Rollen werden, die ausgewechselt werden können, weil sie als kommunikative Handlungsmuster begriffen werden.
Was war zuerst da?
Das Lesen von Literatur gibt es nicht ohne ein Gespräch über diese Literatur. Aber gibt es dafür eine – ursächliche – Reihenfolge? In der digitalen Transformation zumindest verliert diese Reihenfolge an Bedeutung. Die Grenzen zwischen Lesen und Schreiben, zwischen Autor und Leser, Produzent und Konsument, werden porös, mindestens aber werden sie neu definiert. Wir handeln neu aus, was überhaupt ein Buch ist, was eine Seite. Alle, die im Web etwas lesen, auf E-Book-Readern oder Smartphones, wissen längst sehr konkret, wie etwa mit dieser relativen Konvention der »Seite« umzugehen ist: man stellt sie so ein, dass es für die Augen, für die Größe des Displays angenehm passt. Oder: eine relative Größe, die das Lesen skalierbar und damit zu einem wesentlichen Bestandteil des ökonomischen Kalküls für das elektronische Publizieren macht. Aber diese Koordinaten sind nur einige unter denen, die den Kontext literarischer Kommunikation verorten.
Soziale Prozesse
Textorientiertes Social Reading widmet seine gesamte Aufmerksamkeit einzelnen Stellen, Absätzen, Sätzen oder Wörtern. Die Lese- und Entzifferungsstrategie ähnelt dem »Close Reading« und bezieht damit eine Auffassung von Texten ein, die eher an der Heiligen Schrift als an einem zunehmend fluiden Medium orientiert scheint. Die Bedeutung der Nähe nimmt allerdings in dem Maße ab, wie die Lektüre zum sozialen Prozess wird, also sich tatsächlich im Austausch konstituiert, um dann eine Summe zu formulieren, die mehr ist als ihre einzelnen Teile, und dann zu dem werden kann, was Franco Moretti »Distant Reading« genannt hat. Dieser Typus sozialen Lesens kennt konkrete Arbeitszusammenhänge, funktioniert vermutlich in kleinen Gruppen, während der Subjekttypus die große Zahl braucht.
Die Zukunft
Bob Stein, Gründer und Co-Direktor des Institute for the Future of the Book und der Initiator von SocialBook, meint: »Unsere Enkel werden davon ausgehen, dass es sich beim gemeinsamen Lesen mit anderen um die natürliche Art zu lesen handelt. Sie werden mit Erstaunen zur Kenntnis nehmen, dass wir das als etwas angesehen haben, das man alleine macht.«
Die Zukunft des Lesens hängt nicht zuletzt auch von den Text-Formen ab, die wir lesen. Davon, ob wir einen Artikel lesen, von dem wir sagen, das er aus so und so vielen Seiten besteht, oder ein Buch, dessen Konvention nicht zuletzt durch seine Einteilung in Kapitel bestimmt wird. Dabei bedienen wir uns längst anderer Ausdrucksweisen, die z. B. visuellen Gesetzen gehorchen oder gestisch orientiert sind.
Kontext
Die Ergonomie gehört zum Lesen ebenso dazu wie der Ort, an dem gelesen wird, die Zeit, das Buch, das Gerät, der Ladestand des Akkus, die Bequemlichkeit des Stuhls, auf dem man sitzt, das Knirschen des mit Dinkelspreu gefüllten Kissens, auf das man sein vielleicht schon müdes Haupt bettet, die Anstreichungen des Vorbesitzers in diesem leicht fleckigen Taschenbuch oder auch die ständig neu hinzukommenden Kommentare in der Seitenleiste des Sobooks-Fensters. Es ist von Bedeutung, wie oft diese Kommentare kommen, wie viele überhaupt da sind, von wem und wie vielen Kommentatoren sie stammen, ob ich die Namen kenne, ob ich sie wiedererkenne, ob sie mich neugierig machen, ob ich durch irgendeinen flüchtig im Augenwinkel aufgeschnappten Satz dort aufmerksam werde und dann nachschaue, was diese Kommentatorin noch so zu dem Buch, das ich gerade lese, also vielleicht zu Clemens J. Setz’ Roman Die Stunde zwischen Frau und Gitarre, angemerkt hat.
Es werden Kontexte geschaffen, in denen das Gespräch über Literatur stattfindet. Für dieses Gespräch ist die Gemeinschaft, wie groß oder klein auch immer, die sich aus Autoren und Lesern bildet, genauso wichtig wie der Text, den sie verfassen und lesen. Dafür braucht es nicht den kleinsten oder größten gemeinsamen Nenner, keinen Homogenität versprechenden Literaturbetrieb, nichts, was ein- oder auszuschließen versucht, sondern Offenheit, Neugier. Entdecker, Eroberer und Verführer sind hier am Werk, keine Türsteher, Verwalter oder Sandburgenbauer. Für sie ist ein Buch ein nutzergesteuertes Medium. Vielleicht ganz ähnlich wie die Synästhesistin Natalie Reinegger sich in Setz’ Roman Zugang zur Welt verschafft. Nicht der Sockel für den Roman wird höher und strahlender, sondern der Raum, in dem er leuchtet, in dem wir wechselseitig leuchten.
Zusammen lesen und schreiben
Social Reading könnte etwas sein für die Kritik. Wir setzen uns der Kritik aus. Kritik setzt den Diskurs in Bewegung. Wir lernen kennen, was uns fremd ist. Wir geben Kompetenz ab. Wir sind Gastgeber und werden zu Gästen. Kollaboration heißt, den anderen Kollaborateuren der Kritik die Kontrolle überlassen zu können. Vermittlung heißt, dass wir uns über einen Rahmen einigen, in dem diese Kollaboration möglich ist. Kritik wird zu organisierter, kontinuierlicher, kreativer Desintegration. Ob gebloggte Feier eigener Lektürebetroffenheit oder Empfehlungsliste der unbedingt zu lesenden Bücher oder Phrasenschwamm im unter Anpassungsdruck dahin leidenden Printfeuilleton: Kritik emanzipiert sich von ihrer dekorativen Inanspruchnahme. Es geht der Kritik nicht um Dienstleistung oder Service, nicht um Fortschritt oder Schönheit. Das Werk der lesenden Kritik löst sich auf in vielfältige Verbindungen der gesellschaftlichen Felder, in denen Autoren, Verlage und Leser, Kritiker, Moderatoren und andere Vermittler aktiv sind und sich in ihren Traditionen und Konventionen mischen. Die Position der Kritik, aber auch ihre Verfahren werden von ihrer sozialen Funktion bestimmt.
Damit verändert sich auch der Gegenstand der Kritik. Es geht nicht mehr allein um Abgeschlossenes, Ganzes, um Werke, auch nicht immer notwendig um die Rekonstruktion der Entstehung eines Textes oder Kunstwerks. Kollaborativ wandelt sich Kritik u. a. zur teilnehmenden Beobachtung. Kritiker werden zu Gesprächspartnern, die ihre Gespräche, die Treffen und Zusammenarbeiten immer wieder neu aufnehmen, wiederholen, revidieren, in eine andere Richtung lenken, weil sie durch ihre Gesprächspartner etwas Neues lernen, weil neue Aspekte in den Blick geraten. Mit ihrem Interesse und ihrer Teilnahme können Kritiker auch Einfluss nehmen, ganz konkret etwas hinzufügen und verändern.
Kritiker werden zu Agenten, zu kollaborativen Reparateuren. Ihre Aussagen sollen überprüfbar sein, revidierbar, anschlussfähig und diskursiv. Sie forschen und beobachten. Die Wahrheit der Kritik ist ihre Praxis. Diese Praxis macht etwas sichtbar, was der schieren Autorität verborgen bleiben muss. Kritik als Machtinstrument ist im eigentlichen Sinne unkritisch. Was bleibt uns also zu tun?
Kritik erzeugt Wahrheiten (wenn man z. B. Wahrheit als den praktischen Nutzen von Bedeutung versteht). Kritik fügt dem, was sie beobachtet und beschreibt, etwas hinzu. Das ist es, was Kritik relevant macht.
Wir werden, wenn wir kritisieren – also lesen und reden und diskutieren –, von den Texten engagiert: Sie machen uns zu den Subjekten, als die wir uns (gegenseitig) erkennen, sie machen uns zu denen, die etwas lieben oder auch abstoßend finden. Sie verfügen über ihre eigene Realität. An die kann die Kritik, eine sich kollaborativ verstehende Kritik etwa, sich anschließen und sie verlängern, an ihr teilhaben. Dann kann sie etwas verändern. »Vergemeinschaftung« in diesem Zusammenhang bedeutet eben nicht Sozialisierung im Sinne von Enteignung, sondern – das ist Social Reading eben auch – Öffnung, Dynamik, Identifikation.
Anmerkung der Redaktion: Zu Clemens Setz‘ neuem Roman, Die Stunde zwischen Frau und Gitarre, gibt’s unter www.frau-und-gitarre.de einen »Blog für Betreutes Lesen«, der das Social Reading des Romans (auf sobooks) begleitet.