Eine Reinmachefrau des Mövenpick Hotel leert die Aschenbecher. Sie schüttet den Inhalt in einen weißen Müllbeutel. Außerdem hat sie ein feuchtes Tuch bei sich, damit wischt sie die Nase der Kuh ab, die neben dem Eingang steht. »Arme Kuh«, sagt sie. »Ihre Nase ist kaputt.« Ich werfe meine Zigarette in den leeren Aschenbecher und gehe hinein, danach gehe ich wieder hinaus, ganze drei Minuten zu Fuß sind es bis zur Halle 3 der Messe. Dort habe ich nichts zu suchen, ich habe etwas in Halle 4 zu suchen, wo Suhrkamp ist, und in Halle 5, wo die niederländischen Verlage sind. Ich habe ein paar Fototermine, warum, ist mir schleierhaft: Was will man mit einem Foto, wenn kein Interview geführt wird? So etwas gibt es in den Niederlanden gar nicht. Besonders viel los ist nicht an diesem Mittwochnachmittag, jedenfalls nicht in Halle 5. Bei Suhrkamp ist immer viel los. Kritikerempfang, in der Villa, Mittwochnachmittag um 17:00 Uhr. Den habe ich schon einmal erlebt, vor Jahren, als ich noch blutiger Anfänger und klatschnass hinter den Ohren war. Cees Nooteboom war da, ich fiel beinahe in Ohnmacht, als ich ihn sah, und ich fiel wirklich in Ohnmacht, als er meinen Namen kannte. Wenn man bei Suhrkamp ist – und deshalb bin ich gerne hier –, spürt man die deutsche Literatur. Die deutsche Literatur. So war es, so ist es, und so wird es bleiben, trotz all des hippen Getues anderswo, trotz neuer Verlage, neuer und vielversprechender Rezensenten und Schriftsteller. Das hier ist es, was zählt. Ich sehe ein bekanntes Gesicht und denke: Moment mal, das ist der Kerl, der im Fernsehen gelogen hat. Unauffällig frage ich meine Lektorin Julia Ketterer, wie er doch gleich heißt. Denis Scheck. »Herr Scheck«, sage ich zu ihm, »ich möchte kurz etwas richtigstellen.« »Ach so«, sagt Denis Scheck. »Ja, Sie haben im hiesigen Fernsehen gesagt, das Büchlein Duell von Joost Zwagerman sei in den Niederlanden ein ›Riesenbestseller‹ gewesen, aber das stimmt überhaupt nicht.« Er schaut mich an, als wäre ich eine Kakerlake. »Es war ein Bücherwoche-Geschenk, und die werden immer gleich zu Hunderttausenden gedruckt.« »Und?«, fragt Denis Scheck. »Das bedeutet«, antworte ich, »dass man es als Gratiszugabe bekommt, wenn man für mindestens 12,50 Euro Bücher kauft. Gratis.« Er möchte das offensichtlich nicht hören. »Es kann also gar kein Bestseller gewesen sein, eben weil da nichts zu sellen war, auf die Art kann ich auch 800 000 Bücher verkaufen!« Er dreht sich um, muss dringend mit jemand anderem sprechen. Etwas später kommt er zurück. Er gibt mir recht. Das tut mir gut. Noch Tage später empfinde ich Befriedigung darüber. Die Sache hatte mich geärgert, und nun bin ich von diesem Ärger befreit. Mit all dem Lügen und Betrügen im Literaturbetrieb muss einfach einmal Schluss sein. (Noch so etwas: Wenn auf einem Buch »Schon die vierte Auflage!« steht, ist das nur heiße Luft, weil niemand weiß, wie groß diese Auflagen sind.)
Ansonsten mache ich ein gutes Geschäft mit dem Suhrkamp Theater Verlag (Frau Schneider), ich vereinbare einen Termin mit zwei Regisseurinnen und mir wegen der Aufführung von zwei oder drei Theaterstücken in Deutschland. Außerdem trinke ich Bier mit Johannes Riis, dem Programmleiter von Gyldendal in Dänemark. Er ist so ein feiner Kerl, schon seit Jahren habe ich keine Bücher mehr geliefert, und doch will und muss er Bier mit mir trinken. Wir haben beide sonst nicht viel zu sagen, aber das ist vollkommen in Ordnung, es geht um das Beisammensein und das Biertrinken. »Komm doch bald mal wieder nach Kopenhagen«, sagt er. Ich gehe hin und her und auf und ab und noch mehr hin und her. Isolde Ohlbaum, Susanne Schleyer; ich lasse mich fotografieren und blicke wie gewöhnlich ein wenig mürrisch in die Kamera, ich kann nun einmal nicht freundlich lächeln. Und noch ein Treffen und noch ein Fest von Rowohlt oder Dumont oder welchem Verlag auch immer. Eines Morgens möchte ich beinahe »He, hallo!« zu einem bekannten Gesicht sagen, so fröhlich, wie ich kann, beim Frühstück. Ich dachte, die Frau sei eine Schriftstellerkollegin, und von meinem Freund Dachdecker Rudi habe ich gelernt, immer freundlich zu grüßen. Ein paar Minuten später wird mir klar, dass es Eva Mattes ist. Eva Mattes! Vom Tatort! Und so jemand isst wie ein ganz normaler Mensch ein hartes Weizenbrötchen im Mövenpick Hotel! Schließlich kommt der Autorenabend. Unglaublich leckeres Essen, die Crème brûlée bestelle ich zweimal, und dann gibt es noch ein Fest auf einem Schiff auf dem Main, von einem Verlag mit englischem Namen. Das Schiff schaukelt, schon bei der Ankunft habe ich das Gefühl, sturzbetrunken zu sein. Es ist sehr hip und voll von allzu laut lachenden jungen Leuten. Um halb zwei bin ich wieder im Mövenpick.
Um drei Uhr gehe ich nach unten, an Schlaf ist nicht zu denken. Vor der Drehtür liegt ein Packen New York Times. Ich rauche und betrachte nachdenklich die kaputte Nase der Kuh. Ein Junge schiebt sein Fahrrad vorbei. Er ist gestürzt, betrunken, das halbe Gesicht ist aufgeschürft, überall Blut. Taxifahrer sitzen schlechtgelaunt in ihren Taxis. Ich werfe die Zigarette in den Aschenbecher, hebe den Packen New York Times auf und bringe ihn zum Nachtportier. »Herzlichen Dank«, sagt er. »Gern geschehen«, sage ich.
Einige Stunden später bin ich in Göttingen und einen weiteren Tag später in Potsdam, wo ich diesen Text schreibe. Morgen habe ich eine Lesung in Premnitz, aber natürlich bin ich in einem Hotel in Potsdam untergebracht, das ist ja nur siebzig Kilometer entfernt. Was man als Schriftsteller nicht alles mitmacht. Man könnte fast ein Buch darüber schreiben.