Wenn es dunkel ist, ist es nie ganz dunkel. Er habe, schrieb er in seiner Autobiografie, der kürzesten, die je ein Schriftsteller hinterließ, er habe nur versucht, den Tod zu betrügen und eine Zeitlang die Dunkelheit zu überwinden, die ihm seit jeher vertraut war und ihn eines Tages vom Antlitz der Erde tilgen würde. Alles, was er versucht habe, schrieb der Mann, der das Serien-Schwarz erfand, war, auf flüchtige Weise dazubleiben, nachdem er schon tot gewesen sei. Dazubleiben im Licht, bei den Lebenden, »a little while past my time«. Er, schrieb er am Ende, auf Seite 152 seiner Erinnerungen, liebte sie beide so sehr: den Narren und seine Maschine. Und er wiederholte: »Yes, a fool and his machine«.
Sein Name: Cornell George Hopley-Woolrich.
Cornell Woolrich, geboren und gestorben in New York. Manchmal schrieb er unter George Hopley und William Irish.
Nach fünf Romanen, die den Einfluss F. Scott Fitzgeralds nicht leugneten und ihm ein wenig Erfolg bescherten – zu wenig, um glücklich zu werden –, wandte er sich der Spannungsliteratur zu. Sechs Kriminalromane später hatten deren Titel dem Kosmos einer ganzen Generation von Genre-Autoren einen Namen verpasst: Die Schwarze Serie. Zwischen 1940 und 1948 erschienen Die Braut trug schwarz, Der schwarze Vorhang, Schwarzes Alibi, Der schwarze Engel, Der schwarze Pfad, Rendezvous in Schwarz. Nebenher veröffentlichte Woolrich unzählige Kurzgeschichten in Magazinen und Anthologien, viele seiner Stories wurden verfilmt oder fürs Radio bearbeitet, nicht immer stand sein Name als Urheber dabei. Hitchcock verfilmte die 40-Seiten-Geschichte Das Fenster zum Hof mit James Steward und Grace Kelly und schuf einen Kultfilm (in Woolrichs Geschichte taucht weit und breit keine blonde Frau auf …). Rainer Werner Fassbinder adaptierte die Story Für den Rest ihres Lebens für seinen Film Martha, in dem der Kameramann Michael Ballhaus seine berühmte 360-Grad-Fahrt erfand. Und natürlich François Truffaut: Er verfilmte Die Braut trug schwarz mit Jeanne Moreau und Walzer in die Dunkelheit mit Cathérine Deneuve und Jean-Paul Belmondo.
All diese Berühmtheiten – und mitten unter ihnen die Silhouette eines Mannes, der die meiste Zeit seines Lebens in Hotelzimmern verbrachte, Tür an Tür mit seiner Mutter, schreibend, trinkend, rauchend, der Narr und seine Maschine. Anders als Raymond Chandler mit Philip Marlowe oder Dashiell Hammett mit Sam Spade erfand Cornell Woolrich keinen Serienhelden, bei ihm wusste man nie, wie eine Geschichte ausging; seine Figuren – Männer wie Frauen – kriechen nachts unter ihren Schatten, um etwas weniger zu frieren, den jeweiligen Helden oder die Heldin hetzen die Mächte der Finsternis in ungeahnte Gefilde. Trotzdem: Der Blick des Mannes an der Maschine ist geprägt von unbedingter Empathie. Auch darin unterscheidet Woolrich sich von vielen seiner Zunft, den Coolen, Zynischen, Abgebrühten – er verweigert die Distanz, er folgt seinen Leuten wie ein Erzengel, der die Hölle gesehen hat und sie, so gut es geht, davor bewahren möchte. Das kann nicht immer klappen, aber es lohnt den Versuch.
Wenn es dunkel ist, ist es niemals ganz dunkel, sofern man kein Maulwurf ist, sondern ein Mensch unter den Sternen, die Wache halten. »Jede Nacht ging er auf dem Heimweg am Fluss entlang, jede Nacht so gegen eins. So etwas tut man, wenn man jung ist; man geht am Fluss entlang, schaut ins Wasser, betrachtet die Sterne. Manchmal tut man es sogar, wenn man bei der Polizei ist und einen die Sterne strenggenommen gar nichts angehen.« So beginnt der Noir-Roman Die Nacht hat tausend Augen, und was folgt, ist ein Trip ins Pandämonium der Angst, in das Verlies eines Mannes, dem auf Erden nicht zu helfen war. Als wäre es ein Ausschnitt aus seiner Autobiografie, lässt Woolrich den Geknechteten von einer anderen Figur so beschreiben: »Er war nur eine arme, gequälte Seele, seit dem Tag seiner Geburt verflucht, mitten in etwas hineingerissen, von etwas zermalmt, was er wahrscheinlich selbst nicht verstand.«
Nicht arg anders betrachtete vermutlich auch Cornell George Hopley-Woolrich seine Existenz. Doch er hatte einen kleinen Trick parat, der ihn zumindest eine gute Weile lang überleben ließ. »Ich bin«, schrieb er in Blues Of A Lifetime, seiner (noch immer nicht auf Deutsch erschienenen) Autobiografie, »ein echter Sohn der Zwanziger und ich trug sie all die Jahre bei mir. Ich ließ die Zwanziger vierzig Jahre lang andauern …«
Am 25. September 1968, sechs Tage nach einem Schlaganfall und knapp drei Monate vor seinem 65. Geburtstag, ist er gestorben. Fünf Menschen kamen zu seiner Beerdigung. Er ruht im Grab seiner Mutter, in geweihter Dunkelheit.
Vor einiger Zeit habe ich etwas getan, was ich noch nie getan habe, weil mein Fan-Sein bisher nie so weit reichte. (Und: Kann man tatsächlich »Fan« von Schriftstellern wie Kafka, Beckett oder auch Woolrich sein? Man liest, man bewundert, man hält inne, aber …). Für eine Menge Geld bestellte ich mir übers Internet die Erstausgabe des zweiten Romans von Cornell Woolrich, Children Of The Ritz aus dem Jahr 1927. Und außerdem, endlich, das Standardwerk des Woolrich-Biografen Francis M. Nevins jr., First You Dream, Then You Die. Diese beiden Bücher begleiten mich wie magische Sterne auf meiner Reise durch ein neues Buch. Aus Anlass des 50. Todestags von Cornell Woolrich im kommenden Jahr schreibe ich einen kleinen Roman über einen im Hotel lebenden Schriftsteller, der von einem Tag auf den anderen verschwindet. Die Geschichte spielt heute und in München, aber vielleicht könnte sie auch in den Siebzigern des vergangenen Jahrhunderts spielen, zu einer Zeit, als der Name Woolrich mir noch nichts sagte, das Leben jedoch mein Verbündeter war, in den ich als angehender Schriftsteller die schönsten Hoffnungen setzte.
Meine erste Schreibmaschine, die ich mir von meinem Geld als Aushilfskellner gekauft hatte, besitze ich immer noch. Seine damals war eine Remington Portable, meine eine Olympia Monica. Zu Woolrichs Ehren ließ ich sie von Meisterhand ölen, putzen und neu einstellen.
Kriminalschriftsteller sind die letzten Romantiker, wussten Sie das nicht?