Das Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, heißt nicht Heiligsheim. Ludwig Dragomir, der Mann aus Heiligsheim, die Hauptfigur meines Romans Nackter Mann, der brennt, ist nicht ich. Ich ist nicht gleich Ich, Ich ist Ich, aber anders. Einen roman noir zu schreiben, bedeutet bedingungslose Hingabe an alles, was geschieht, an jede einzelne Figur in der Verdammnis ihrer polaren Kältezonen. »Der Noir«, sagte der englische Schriftsteller Derek Raymond, »ist der Roman, in dem alle Auswege versperrt sind.« Gut so. Im Noir sind auch sämtliche Kuschelecken vermint. Im strengen Sinn ist der Noir nur bedingt ein Kriminalroman, er erhebt keinerlei Anspruch an die Einhaltung von Regeln oder moralischen Grundsätzen des Genres, er definiert seine eigenen Gesetze, er kennt keine guten, keine schlechten Cops; er kennt Menschen, denen die Grundlagen einer auf Gerechtigkeit und Liebe ausgerichteten Existenz verwehrt geblieben sind; denen die Chance genommen wurde, zu einem selbstbestimmten Individuum heranzuwachsen; die des Rechts auf eine Vermählung mit der Zukunft und all ihren Anverwandten beraubt und zu ewigen Einzelgängern verdammt wurden, in den lausigen Hinterhöfen ihrer Nachbarschaft oder weit abseits der Gegend, wo ihre Wiege stand und sie ihre Hoffnungen begruben, als sie begriffen, dass sie keine andere Wahl hatten, wenn sie überleben wollten. In meinem Roman Nackter Mann, der brennt habe ich einer Hauptfigur meine Stimme gegeben, die mein Bruder hätte sein können, und zweihundert Seiten lang war ich voller Verzeihen für sie und bin es noch immer. Nichts ist erfunden, alles ist fiktiv. Was ich versucht habe, ist: Auf dem Asphalt der Dorfstraße dem dunklen, jungen Leichnam, der ich war, mit einem Kreideumriss Gestalt zu verleihen.
Anis Eck 9: Das Gesicht der Dunkelheit
-
© Suhrkamp Verlag -
© Tibor Bozi