Am 28. März 1977 herrschte in einer baden-württembergischen Kleinstadt im Odenwald ein Mordsauftrieb. »Der Chef« feierte seinen achtzigsten Geburtstag, und ein ganzes Land nahm daran Anteil. Ein ganzes Land? Nein, auf dem Schulhof einer rund vierhundert Kilometer entfernten, südbayerischen Kleinstadt spielte der Ehrentag des Weltmeistertrainers Sepp Herberger nicht die geringste Rolle. An diesem Vormittag drehten sich die Gespräche der Schüler und Lehrer nur um eines: Sinas Brüste.
Sina war siebzehn Jahre alt und hatte ein Verhältnis mit ihrem Klassenlehrer, Herrn Fichte. Sie schrieb ihm romantische Liebesbriefe, belog ihre Eltern, radelte durch den Wald zum Schwarzen See, wo sie, versteckt hinter Büschen, ihr Sommerkleidchen abstreifte. Elf Minuten waren vergangen, als am Abend des 27. März 1977 eine neue Zeitrechnung in den Wohnstuben der deutschen Fernsehzuschauer begann. Von diesem Moment an, kurz vor halb neun, verwandelte sich das bloße Anschauen eines Krimis in die Betrachtung eines Ereignisses, das noch am nächsten Morgen nachwirkte, am übernächsten und bis heute.
Der TATORT, die geniale Erfindung des Dramaturgen und späteren WDR-Fernsehspielchefs Gunther Witte, war von nun an ein Kult-Termin, den man nicht verpassen durfte – nicht wegen möglicher neuer Nacktszenen, sondern wegen der lebensnahen Geschichten und der hohen, berührenden Kunst der Schauspieler und Schauspielerinnen. Einige von ihnen wurden durch den TATORT zu Stars.
In Reifezeugnis (Buch: Herbert Lichtenfeld, Regie: Wolfgang Petersen) trat zum ersten Mal die Tochter des in Deutschland besonders durch seine sinistren Auftritte in den Edgar-Wallace-Filmen bekannten Klaus Kinski auf. Nastassja Kinski als Sina war zum Zeitpunkt der Dreharbeiten erst fünfzehn Jahre alt, und sie spielte ihre tragische Rolle zum Steinerweichen. Wenn sie am Ende am Seeufer sitzt und dem herbeigeeilten Kommissar und ihrem geliebten Lehrer, der sie verstoßen hat, die Pistole zeigt, mit der sie sich umbringen wollte, scheint die Idylle um sie herum sekundenlang die Luft anzuhalten, so still ist es auf einmal. Die Pistole ist kaputt, sagt Sina, und als sie ins Wasser ging, sei sie nicht ertrunken, weil sie doch schwimmen könne und immer wieder ans Ufer zurückkehren musste.
Ein Schluss für die große Leinwand. Kein Wunder, dass Regisseur Petersen und Nastassja Kinski wenige Jahre später in Hollywood ihre Karrieren fortsetzten. Dort, wo ein gewisser Samuel Fuller schon seit den fünfziger Jahren eine Regielegende war. Vier Jahre vor Reifezeugnis drehte Fuller in Deutschland einen TATORT: Tote Taube in der Beethovenstraße. Sieghardt Rupp spielte den Zollfahnder Kressin, doch in Fullers Film kommt er praktisch nicht vor.
Auch solche Kapriolen in der Dramaturgie der Krimireihe festigen deren Ruf bis heute. Samuel Fuller, ein Meister des Polizei- und Westerngenres, hetzt einen amerikanischen Privatdetektiv durch ein von Gangstern überbevölkertes Köln. Harte Schnitte, Schusswechsel, Verfolgungsjagden, Musik von der Kölner Krautrockband The Can, Kamerafahrten quer durch Fußgängerzonen und das Gewühl der Leute auf der Straße, keine Minute Stillstand. Dialoge sind vorhanden, dürfen aber die Action nicht stören. Leichen auf dem Pflaster. Abspann.
Heute Köln, morgen Hamburg, übermorgen Berlin, gestern München, vorgestern Stuttgart; bald reihen sich Städte wie Ludwigshafen, Frankfurt, Duisburg, Kiel, Dresden, Weimar in den TATORT ein, auch Wien und Bern. Keine Ahnung, wer in irgendeiner Montagskonferenz der ARD den Beschluss durchsetzte, dass alle Kommissare überall in Deutschland dieselbe Sprache sprechen müssen. Wenn Dialekt, dann aus dem Mund von Gerichtsmedizinern, Sekretärinnen, Hausmeistern, Nebenan-Figuren. Der Kommissar und die Kommissarin jedoch stellen ihre Fragen in gediegenem Hochdeutsch und staksen durch ihr zugewiesenes Ermittlungsgehege wie Störche über die Reeperbahn. Rechts und links eine Welt voller Abgründe und menschlicher Geisterbahnen, urwüchsigem Stimmengeheul und Gestalten, die reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist oder hingebogen wurde. Und mittendrin ein erhabener Kommissar, der – seiner Sprache und seinen Klamotten nach – von nirgendwoher kommt und der, wenn er in der finsteren Welt von Mord und Totschlag doch mal die Orientierung verliert, seine Verlorenheit wie ein Einstecktuch bei sich trägt.
Schimmi, hau ihm eine rein! Schon vergessen? Als der selige Götz George 1981 zum ersten Mal als Horst Schimanski am Sonntagabend auf der Mattscheibe auftaucht (Buch: Horst Vocks, Thomas Wittenburg; Regie: Hajo Gies), tigert er durch seine winzige, ziemlich versiffte Wohnung und schaut hinaus auf die grauen Skelette des sterbenden Ruhrpotts. Dann sucht er in einem Berg von schmutzigem Geschirr nach was Essbarem. Er findet ein rohes Ei, schlägt es in ein Glas und trinkt. Kurz darauf wirft jemand aus einer Duisburger Abbruchwohnung einen Fernseher auf die Straße. Max Mustermann in der echten Reihenhaussiedlung hätte vermutlich gern Dasselbe getan. Aber der Scheißkasten war noch nicht abbezahlt.
Wie oft fiel das Wort Scheiße in Duisburg Ruhrort? Die BILD hat’s gezählt, garantiert. Schimanski trug fallein, fallaus einen gefütterten Parka wie einen Panzer, aber ich sah, wie darunter sein Herz schlug für all die Gebrochenen und Schikanierten, die Gefangenen in ihren engen Mietwohnungen, die Täter, die nicht anders konnten, die Opfer, die vielleicht nie etwas Anderes waren.
Schimanski redete, wie ein Mann in so einer Gegend redet; er handelte wie einer von dort; er soff; er flipperte; er gierte nach Liebe und konservierte seine Sehnsucht nach Städten wie Marseille oder Lyon in einer Dose Ölsardinen. Und sein bester und einziger Freund, Kollege Thanner (Eberhard Feik), wachte wie ein Schutzengel an seiner Seite, in guten wie in schlechten Zeiten.
Auch »Schimanski 2.0«, der Hamburger LKA-Fahnder Niklas Tschiller (Til Schweiger), hat einen Schwellenwächter an seiner Seite, den wunderbaren Computerfreak Yalcin (Fahri Yardım). Über vier Folgen hinweg (Buch: Christoph Darnstädt, Regie: Christian Alvart) grub Tschiller sich mit physischer Gewalt und sehr vielen Waffen in den Sumpf einer Menschenhändlerbande, angeführt vom Superfinsterling Firat Astan (Erdal Yıldız spielt ihn mit der Verschlagenheit eines Mannes, dem man nach Einbruch der Dunkelheit auf gar keinen Fall fünf Euro wechseln sollte). Tschiller trägt sein Herz in der Faust, mit der er zuschlägt, er verteidigt seine Familie mit Klauen und Zähnen und verliert am Ende doch seine Frau im Kugelhagel. Mörderische Cliffhänger, Gefühle in cinemascope, ein Superstar aus der Musikbranche (Helene Fischer als schwarzhaarige Rächerin Leyla Rudienka). Mit der Figur Tschiller schuf der NDR eine Kohlhaas-Figur für den TATORT, wie sie im Krimi zeitgemäßer nicht vorstellbar wäre.
Seit jeher führte der Weg der Kommissare vom Typus Einzelgänger über das Ehepaar-artige Duo hin zum gentrifizierten Allrounder, dessen Privatleben der Laune gehorcht. Natürlich, das kennen wir aus der amerikanischen Genreliteratur der dreißiger und vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, traten die klassischen, ebenso gebrochenen wie seelenvollen Ermittler stets als unbestechliche Händler der vier Einsamkeiten auf. Im Beruf auf sich allein gestellt, unfähig zu konstanten Freundschaften, in einem von Wände umzingelten, lautlosen Apartment hausend, Zaungäste der Liebe, zeigen sie Verständnis für die fatalen Umstände, die einen Menschen zum Verbrecher machen, und setzen gleichzeitig alles daran, die Wahrheit zu ergründen. An die Heilung der Welt glauben diese Helden gleichwohl nicht.
Vielleicht wirken deshalb manche TATORT-Folgen auf mich wie Kino oder Romane. Weil sie glaubhaft von uns erzählen, vom schmalen Grat, auf dem wir die meiste Zeit unseres Lebens balancieren, ohne – wie im Krimi – in den Abgrund zu stürzen. Filme wie Frau Bu lacht (von Dominik Graf und Günter Schütter) oder Weil sie böse sind (von Michael Proehl, Matthias Tuchmann und Florian Schwarz) oder Blutwurstwalzer (von Horst Sczerba und Wolfgang Becker) – um nur ein paar der älteren Tatorte zu nennen – wirken bei jeder Wiederholung gleich stark, aktuell, zeitlos.
Einem Kommissar wie Paul Trimmel, mit dem der NDR 1970 die TATORT-Reihe startete, war jede moralische Bewertung einer Tat fremd. In Taxi nach Leipzig (von Friedhelm Werremeier und Peter Schulze-Rohr) verleiht Walter Richter dem Ermittler die Aura eines kautzigen, störrischen Eigenbrötlers, den nicht einmal die innerdeutsche Grenze bei der Wahrheitssuche stoppen kann. Nach eigener Aussage hat Trimmel manchmal »ein komisches Gefühl in der Nase«. Wenn man in dieses bärbeißige Richter-Gesicht mit den Schatten werfenden Augenbrauen schaut, möchte man kein Verdächtiger sein.
Trimmel – hoch lebe der NDR, dass er die Idee mit dem Taxi nach Leipzig für den tausendsten TATORT wieder aufgegriffen hat! – rauchte Zigarre und trank zur Not bulgarischen Cognac, er prügelte sich mit einem Volkspolizisten, er brachte Tragödien ans Licht und wählte dabei nie die zimperliche Variante.
Einmal sitzt der Düsseldorfer Kommissar Flemming (Richters Bärbeiß-Konkurrent #2, Martin Lüttge) am Tresen und leert sein Kummerglas. Sagt eine nicht minder kummerglasige Frau neben ihm: »Mein Mann hat mich verlassen.« Erwidert der Kommissar nach einem langen Schweigen: »Interessant.«
Oder der Münchner Hauptkommissar Veigl (Bärbeiß #3: Gustl Bayrhammer). In dem Klassiker Wohnheim Westendstraße (von Herbert Rosendorfer und Axel Corti, Kamera: Xaver Schwarzenberger) lässt Veigl seiner Abneigung gegenüber den verstockten italienischen Bauarbeitern freien Lauf; er schimpft auf die Itaker und brummt, als er einen Espresso bekommt: »Ich hätt eigentlich einen Kaffee wollen.« Und der durchaus verständnisvoll anmutende Kommissar Haferkamp aus Essen (Hansjörg Felmy) kann die Verwundungen seines eigenen Lebens nur schwer verbergen. Von Viktor Marek aus Wien (Bärbeiß #4: Fritz Eckhardt) ganz zu schweigen. Der Marek ist Wiener, der mag die Menschen eh erst, wenn sie tot sind, dann aber ewig.
Übrigens begegnen auch die weiblichen Kommissare (Ulrike Folkerts als Lena Odenthal etwa, oder Maria Furtwängler als Charlotte Lindholm oder früher Karin Anselm als Hanne Wiegand) der Welt ohne gezüchtete Sanftmut. Wie ihre männlichen Kollegen verlieren auch sie nie den Keim des Bösen aus den Augen, der in jedem Menschen steckt.
Allerdings: So realistisch und zeitrelevant die TATORT-Geschichten in all den Jahrzehnten gewirkt haben mochten – sie waren und bleiben Fiktion, unserer Wirklichkeit weit unterlegen.
Eine Woche nach der bundesweit Aufsehen erregenden Ausstrahlung von Reifezeugnis begann mit der Ermordung von Generalbundesanwalt Siegfried Buback das Terror-Jahr der RAF. Den so genannten Heißen Herbst musste Sepp »Der Chef« Herberger nicht mehr erleben. Er verstarb genau einen Monat nach seinem achtzigsten Geburtstag.