Schon seit dem Aufstehen nach seinem Mittagsschlaf lastete eine Schwermut wie in alten Zeiten auf Henning Floos, dem renommierten Literaturkritiker. Unvermittelt begann er zu weinen, wenn er im Radio einen Schlager von damals oder die Stimme eines Schauspielers hörte, der nicht mehr lebte. Irritiert, gebeugt und mit schlurfenden Schritten durchquerte Floos die Wohnung, fand in keinem Zimmer Erleichterung, starrte seine deckenhohen Bücherschränke an, seufzte schwer und weinte wieder. Er begriff nicht, was mit ihm geschah. Gestern noch hatte er eine fundamentale Hundertvierzig-Zeilen-Hymne auf die zwanzigjährige isländische Lyrikerin Jóhanna Svavarsson abgeliefert, der er das poetische Genie eines Friedrich Hölderlin attestierte; gleichzeitig hatte er zwei Kurzverrisse über seiner Meinung nach absolut überflüssige und armselige Krimis verfasst, im Grunde eine Abrechnung mit dem Genre, das in der wahren Belletristik nichts zu suchen habe. Nachdem er die Texte an die Zeitung gemailt hatte, war er, überaus zufrieden und versöhnt mit der Welt, in sein Stammlokal Les Fleurs Bleues zum Essen gegangen. Alles war gut. Und heute Nachmittag? Maßlos verzweifelt legte er eine Schallplatte mit den besten Songs von Cat Stevens auf. Er verehrte Cat Stevens, dessen neuen, religionsbedingten Namen er lächerlich fand, seit er dreizehn und lichterloh für seine neunjährige Cousine Hanna entbrannt war. Er liebte sie wie der Dichter seine Diotima, er kaufte ihr jede Platte von Cat Stevens und sang ihr sogar dessen Lieder am Klavier vor; sie erhörte ihn nicht, und er weinte Nacht um Nacht in seinem Bett. Plötzlich, mitten im Lied Lady D’Arbanville, stutzte er. Hatte er, als er auf dem Weg von der Ottomane ins Badezimmer das Radio anstellte, richtig gehört? Bob Dylan kriegte den Literaturnobelpreis? Das konnte nicht sein. Er hätte, rekapitulierte Floos, die dritte Flasche Sancerre nicht mehr trinken und den Calvados weglassen sollen. Außer sich vor Entsetzen rannte er zum Computer. Da stand es: Bob Dylan, Literaturnobelpreis. Die Mitglieder der Schwedischen Akademie hielt er seit Jahren für senile Trottel, die von Literatur so wenig Ahnung hatten wie diese Krimiautoren, deren Schund die Regale der Buchhandlungen verstopfte. Doch dass die Akademie einen derartigen Griff ins Klo tat, hätte er niemals für möglich gehalten. Henning Floos zitterte am ganzen Körper. Er musste sofort in der Redaktion anrufen und eine nie dagewesene Tirade gegen die Ignoranz und vollkommene Verblödung von Juroren ankündigen, eine Zweihundert-Zeilen-Apokalypse, nach der nichts mehr im literarischen Universum so sein würde wie bisher. Vorher aber, beschloss Floos, wollte er unbedingt noch einmal im Erstlingswerk von Jóhanna Svavarsson blättern. Irgendwie hatte er beim Lesen ihrer Gedichte den Eindruck, sie linderten seine Erektionsbeschwerden.
Anis Eck 7: Der Tag, an dem Bob Dylan den Literaturnobelpreis bekam
-
© Suhrkamp Verlag -
© Tibor Bozi