Natürlich ist Hannibal Lecter eine Kopfgeburt. Was nicht ausschließt, wie wir wissen, dass er gleichzeitig zu einer praktisch lebenden Legende wurde. Wie das? Ein Mörder und Menschenfresser, ein Zyniker vor dem Herrn, ein apokalyptischer Reiter, der von Erlösung faselt und die Menschheit für grottendumm und überflüssig hält. So was lassen wir uns bieten? Wir sind die Menschheit, oder nicht? Oder?
Nein. Wir sind bloß eine sehr spezielle Spezies von Menschheit. Wir sind Sklaven der Unterhaltungsindustrie; wir gieren nach Ablenkung und Lustgewinn durch perfekt gemachten Grusel, perfekt gemachtes Leid, perfekt geschminkte Killer, perfekt heulende Hinterbliebene. Wir glauben, was wir sehen und lesen und immer wieder lesen und immer wieder sehen. Hannibal Lecter – übrigens Lecter mit zwei e und nicht mit o, der liest nämlich niemandem in der Kirche aus der Bibel vor – Hannibal Lecter existiert wirklich, wie RTL II, wo Serien laufen, die aussehen, als wären sie eins zu eins auf der Straße gefilmt, mit echten, zugegeben: eigenartigen Leuten, aber doch echt und von nebenan. Scripted reality heißt das – eine wahrhaft zutreffende Beschreibung. Und da heißt’s immer, bei RTL II würden nur Vollpfosten arbeiten, nein: Diese Leute haben begriffen, worum es geht.
Wirklichkeit ist, was nach Wirklichkeit aussieht. Hannibal Lecter? Klar gibt es so jemanden. Schon mal vom Kannibalen von Rotenburg gehört? Oder von diesen Müttern, die ihre Neugeborenen töten und dann im Garten verbuddeln. Habe ich das erfunden? Oder Thomas Harris, Lecters Schöpfer? Haben wir nicht. Wer dann? Gott? Welcher? Unserer? Der über Tutzing thront und irgendwie auch über Mecklenburg-Vorpommern, dem Vatikan und dem Rest des christlichen Universums? Oder der Gott der anderen, der Muslime, der angeblich den bösen Islamismus predigt, Rache und Vergeltung an den Ungläubigen, in dem Fall uns?
Hat Allah Hannibal Lecter erfunden?
Beim Barte des Propheten, selbstverständlich nicht. Harris war’s, aus Jackson, Mississippi. Hätte er allerdings nur einen Roman geschrieben, wer weiß, ob die Figur auch dann zu einem derart weltumspannenden Leben erweckt worden wäre.
Für die Outsider des Grauens: Harris schrieb insgesamt vier Romane über und mit Hannibal The Cannibal; doch nur einer nagelte den Helden ans Kreuz unserer Erinnerung: Das Schweigen der Lämmer. Die Verfilmung durch Jonathan Demme mit Anthony Hopkins und Jodie Foster in den Hauptrollen, ausgezeichnet mit fünf Oscars in allen wichtigen Kategorien, machte den Polizisten verspeisenden Dämon unvergesslich.
Ja, Hannibal Lecter isst Polizisten. Die Leber mag er besonders gern, sozusagen Geschnetzeltes vom Superbullen. Darauf muss man erst mal kommen. Keine Ahnung, was Thomas Harris da unten in Jackson, Mississippi, alles so erlebt hat, aber es muss – sagen wir – prägend gewesen sein. Oder fallen einem Autor solche Gestalten, Szenerien, Abartigkeiten, Gewaltakte einfach so ein, morgens beim Müsli oder nachts beim Barolo? Freilich: Niemand würde das Alte Testament unter dem Rubrum Kuschelprosa subsumieren, weil die Dinge, die da verhandelt werden, sogar robuste Wesen wie Hieronymus Bosch um den Schlaf bringen. Und wer kennt schon die Autoren des Alten Testaments? Bei wikipedia findet man wenig Hilfreiches; müssen harte Kerle gewesen sein, wahrscheinlich auch einige supertaffe Frauen, die endlich mit der Wahrheit über ihr von Grausamkeiten geprägtes Leben herausrücken wollten. Schwer zu sagen, wer die wirklich waren. Aber Thomas Harris. Den kann man googeln, der trat schon einmal leibhaftig vor eine Kamera, der ist ein Mensch wie du und — wie du und — ich auch?
Könnte ich einen Roman wie Das Schweigen der Lämmer schreiben? Wäre ich fähig, Hannibal Lecter zu sein? Und das müsste ich dann, sonst erübrigt sich alles lebendige Schreiben. Tippen kann jeder. Achtzig Prozent der ungefähr tausend Krimis, die alljährlich neu erscheinen, sind getippt und fertig. Ein Mord, eine Ermittlung, eine Lösung. Ein geschiedener oder getrenntlebender oder unglücklich verliebter Kommissar, der mit seinen Kochkünsten inzwischen auch die willigsten Frauen nicht mehr rumkriegt, kniet sich in einen Fall rein und rückt die Welt wieder ins Lot. Das Ganze in einer Idylle mit Bergsee, Alm, Kirche und Gasthof Zur Post. Irgendein Verdächtiger fällt nachts über ein Katzenklo. Der Bürgermeister macht schmutzige Geschäfte mit einem Immobilienkonzern ausda Schdood. Sechshundert Seiten später gemütliches Beisammensein in Annemaries Hirtenstüberl.
Man muss befürchten, dass Hannibal Lecter, läse er Romane dieser Art, sich selbst auffressen würde. Weil er sie nicht glauben würde. Weil sie ihm in ihrer ausgedachten, überdrehten, ranschmeißerischen Selbstgenügsamkeit lächerlich und armselig erschienen. Er würde – das unterstelle ich jetzt, denn ich bin ihm nie begegnet, ich schwör’s – diese Machwerke als Antanzen in Schriftform bezeichnen, ausschließlich dem einen Zweck dienend, den ahnungslosen, gutgläubigen Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen.
Was uns zu der Gretchenfrage führt: Wie kann ein netter, putzeliger, durchaus hin und wieder charmant fabulierter und von herzigen Personen des Landlebens handelnder Schmunzelkrimi unglaubwürdiger, ja gelegentlich um ein Vielfaches haarsträubender wirken als die Geschichte eines offensichtlich ebenso geistreichen wie vom Ungeist besessenen Psychiaters, dessen gottgleiches Talent vor allem darin besteht, andere Menschen zu manipulieren, um sie in seine Gewalt zu bringen und zu töten? Wie hältst du’s mit der Plausibilität, Harris? Mit der Menschlichkeit gar? Wie kann das, was Sie schreiben, möglich sein, und wir glauben es auch noch? Pures Handwerk, wie beim Godfather von uns allen? ER erschuf die Welt, das Licht und die Liebe und im selben Atemzug und mit derselben Präzision Hass und Tod, Finsternis und die Hölle auf Erden? Angesichts dieses für alle Zeit unverständlichen, niederschmetternd grandiosen, jegliche Vorstellungskraft ignorierenden, magischen Schaffensprozesses erscheint mir in unserem Fall des Pudels Kern hell wie das Ewige Licht vor dem Tabernakel.
Die Frage, warum wir die Existenz eines Hannibal Lecter nachzuempfinden fähig sind, liegt im universellen Wesen der Figur und der gesamten Geschichte. Hier geht kein Autor mit Versatzstücken hausieren, hier handelt niemand mit geliehenen Gefühlen oder mühselig zusammengeschraubten Ideen; hier erzählt ein Schriftsteller vom Wesen des Schmerzes, von den so unfassbar langsam heilenden Wunden der Kindheit, von der Möglichkeit des Triumphes über die Selbstzerstörung, von der Tapetentür im Dunkeln, die man ertasten kann, wenn man sich nur traut, und durch die man ins Freie gelangt auf die Lichtung, um endlich einen eigenen Schatten zu werfen und nicht länger den der Altvorderen.
In den deutschen Lockenwicklerkrimis mit ihren unrasierten Täterleins und nach Poliboy riechenden Bürokriminalern genauso wie in den HD-aufgehübschten US-Serien CSI Miami, CSI New York, CSI Vegas, Navy CIS oder Criminal Minds mit ihren Schrottdialogen und abstrus aufgepumpten Konflikten treten uns keine versehrten Opfer, die zu Tätern wurden, entgegen, oder Täter, denen der Glaube ans Leben mit der Nabelschnur abgetrennt wurde, oder vom Elend ihres Alltags zerdellte Ermittler. Was wir sehen – oder lesen –, handelt von Strohpuppen, Vogelscheuchen, Gipsfiguren, Armleuchter jeder Couleur. Wer als Autor den Abstieg in den eigenen Keller verweigert, verharrt im Kinderzimmer beim vertrauten Spielzeug und den schon von sämtlichen Brüdern und Schwestern und Vorfahren abgenutzten Bauklötzen.
Thomas Harris aus Jackson, Mississippi, und Seinesgleichen gehen den Weg, den schon Mördermacher wie Shakespeare vor ihnen gingen: aus der Anschauung des Menschen und der Kenntnis seiner Begierden, Hoffnungen und verlorenen Illusionen lieferten sie sich ihrem inneren Purgatorium aus und kehrten nicht eher aus den Katakomben ihrer verschütteten, verschlüsselten, vergessenen Ängste und grausamen Gesichte ans Tageslicht zurück, bis die Erziehung ihres Herzens abgeschlossen war. So gelangten sie in ihren Werken zu Übermut und Wahrhaftigkeit.
Man muss nicht Stahlgewittern getrotzt haben, um darüber schreiben zu dürfen. Man muss nicht als Kind körperlich und seelisch missbraucht worden sein, um später dieses Thema in einem Roman zu verarbeiten. Man muss nicht – wie der bedeutende amerikanische Kriminalschriftsteller James Ellroy – Sohn einer Mutter sein, die ermordet und deren grausamer Tod nie aufgeklärt wurde, um den Kosmos des Verbrechens zum Zentrum des eigenen Oevres zu machen. Man muss nicht Kriminalist in der Mordkommission gewesen sein, um aufregende Bücher über die Arbeit von Ermittlern schreiben zu können. Man muss – wie der aus meinem Geburtsort Kochel am See stammende Gangster und Bankräuber Ludwig Lugmeier – kein Täter gewesen sein, um mit Büchern über einen Kriminellen aus Leidenschaft zu reüssieren. Man muss nicht neunundneunzig Sachbücher über Kriminalistik, Pathologie und Superprofiler gelesen haben, um sich an einem Kriminalroman zu versuchen.
Doch ein angehender Autor von Kriminalgeschichten sollte, glaube ich – glaube ich sogar recht fest -, einmal im Leben gestorben sein, um das Wunder der Auferstehung nicht durch ein Wort Jesu, sondern durch das eigene Wort zu erleben und zu begreifen. Dieses Wort heißt: Vertrauen. Schriftsteller, deren Bücher wir lieben, wurden eines Tages vom vollkommenen Vertrauen beseelt, dem Vertrauen in das Glück des Handelns, des Aufbruchs, der Veränderung, der Erkenntnis, etwas ausdrücken zu können, zu dem niemand sonst imstande ist. Der Themen sind genug gewechselt im Lauf der Menschheitsdichtungsgeschichte – was zählt, sind der Ton, der Blick, das besondere Empfinden und auch eine fast chirurgische Nüchternheit beim Sezieren der menschlichen Seele und ihrer Nanoteilchen.
Der Seelenverführer Hannibal Lecter berührt uns, weil wir plötzlich, während er uns vor einem monströsen Kleinbürger beschützt, einen Nachbarn in ihm erkennen, den das Schicksal im falschen Haus eingesperrt hatte und der sich im unverschuldeten Dunkel seiner Abgeschiedenheit eine Sonne erschuf, um nicht zu erkalten und mit einem Herz aus Stein zu enden. Im Grunde ist dieser Antiheld-Held einer jener Laternenanzünder, nach denen wir uns – alleingelassen in einem Zimmer voller fremder Schatten – verzehren, seit uns, wie durch einen Wink des Schicksals, Buchstaben und Sätze wie neue Augen erschienen, mit denen wir das Dunkel durchdrangen und glaubten, uns nie mehr fürchten zu müssen.
Das Böse, das unsere Wirklichkeit auf Schritt und Tritt begleitet – im Frieden wie im Krieg, in der Metropole wie im kleinsten Dorf, in absoluter Unauffälligkeit wie mit protziger Häme – das Böse darf im Kriminalroman nicht zur Gaudi verkommen, zum Pausenfüller, zum nettigen Alibi, zum Dackel in der Maske eines Dobermanns. Jeder Autor sollte vor dem Auftauchen des Bösen erschrecken und sich die Frage stellen, ob er ihm schreibend gewachsen wäre; wenn ja, gelingt ihm – vielleicht – ein Buch, das einem Leser oder einer Leserin, oder sei es nur einer einzigen Person, für alle Zeit den Schrecken nimmt: vor der Einsamkeit, vor der Tapetentür, vor den scheinbar unerschütterlichen Mächten dort draußen. Für Clarice Sterling, die jungen Agentin, haben durch die Begegnung mit Hannibal Lecter die Lämmer aufgehört zu schreien, die Wunden der Kindheit beginnen sich zu schließen.
Passt nun eine so gewaltige Menschengeschichte tatsächlich in das angeblich so triviale Genre des Kriminalromans? Thomas Harris stellte sich diese Frage nicht, er nahm die Geschichte und das Leben seiner Protagonisten todernst wie sein eigenes. Und vor allem: Er nahm seine Leser todernst, und die Macher des Films nahmen ihr Publikum todernst.
Wäre das nicht ein schöner Denkansatz für die Verbrecher hiesiger Kopfgeburten?