Im Jahr 1975 war ich sechzehn Jahre alt und draußen. Ich ging durchs Dorf, in dem ich aufwuchs, und empfand eine beinah körperlich spürbare Nichtzugehörigkeit. Die mit Geranien geschmückten Balkone an den zu jeder Tages- und Nachtzeit herausgeputzten Häusern kamen mir vor wie Kulissen eines verlogenen Filmes. Und der Film, in dem ich zwangsläufig mitspielte, triefte vor Verlogenheit. Damit hatte ich mich abgefunden. Mein Vertrag als Laiendarsteller war unkündbar, vorerst.
Am Ufer des Sees setzte ich mich auf eine Bank und schlug mein bereits nach einem Monat zerlesenes Taschenbuch auf. Der Autor war ein österreichischer Schriftsteller, dessen Name aus zwei Vornamen bestand.
Ein Künstlername, dachte ich, nicht gerade originell, aber immerhin. Der Mann hatte es geschafft, ein Pseudonym zu finden. Im Gegensatz zu mir. Mir fiel seit fünf Jahren kein Name für mich ein – seit dem Tag, an dem ich meine erste Geschichte geschrieben und sie in der Klasse vorgelesen hatte.
Einschneidendes Erlebnis. Die (meisten) Kinder lachten, auch der Lehrer rang sich ein Lächeln ab. Dass es nicht von Herzen kam, wurde mir klar, als er nach dem Ende meiner kurzen Lesung zu meiner Bank kam und meinte: Schöne Geschichte, aber die hast du nicht selber geschrieben.
Schöne Geschichte, aber die hast du nicht selber geschrieben.
Schon komisch, auf welch dünnem Eis so mancher Lebensweg als Schriftsteller beginnt. An jenem Vormittag in einer oberbayerischen Kurstadt im Jahr 1970 – glaube die Wahrheit, wer will, spielt heute keine Rolle mehr für mich – keimte der heilige Zorn des Außenseiters in mir auf. Nie wieder würde jemand zu mir sagen, ich hätte eine von mir geschriebene Geschichte nicht selbst geschrieben. Nie wieder.
Nie wieder.
Was wollt ihr? So denkt man, wenn man elf ist und ein Bücherverschlinger, ein Buchstabenbesessener und Seitenvollkritzler. Seit ich lesen konnte, wollte ich schreiben – wie andere die Musik für sich entdecken und auf dem Klavier oder der Gitarre oder dem Schlagzeug herum hauen und Dinge und Töne entdecken, von denen sie vorher keine Ahnung hatten.
Alles, was ich bis diesem Zeitpunkt – jenem weltverändernden Vormittag in der Deutschstunde – zu Papier gebracht hatte, entsprang dem Verlies meiner vor sich hin dümpelnden Kindheit auf dem Land. Gedichte, Kurzgeschichten, Szenen, Monologe, Songtexte, Hörstücke (die Rollen sprach ich – naturgemäß – selbst auf meinen Kassettenrecorder, mein Heiligtum). Was immer passierte, wenn ich still in meinem Zimmer saß – ich war bereit, alles zu notieren und nicht weiter darüber nachzudenken, was ich damit sagen wollte.
Was ich sagen wollte, war eindeutig: Hier bin ich, wollte ich sagen und schrieb. Das bin ich, mich gibt es tatsächlich, wollte ich sagen und schrieb. Auch wenn ihr mich nicht wahrnehmt, dies ist mein Schatten, wollte ich sagen und schrieb. Euer Leben ist nicht das meine, wollte ich sagen und schrieb. Ich stehe in Flammen, und ihr errichtet Schneemänner um mich herum, wollte ich sagen und schrieb.
Beheimatet in einer elementaren Lächerlichkeit, lief ich durchs Dorf und nagelte mein Schweigen an die Häuserwände und schrie im Stillen zum Himmel hinauf, wo der Herrgott hauste, wie mir die katholische Kirche seit jeher weismachte.
Schöne Geschichte, aber die hast du nicht selber geschrieben.
Am Ende jener Stunde ging ich auf den Flur hinaus, weg vom Schulterklopfen der anderen, und horchte der Stimme in meinem Kopf nach. Und die Stimme sagte: Geh weiter, aber geh in die entgegengesetzte Richtung.
Fünf Jahre später las ich in einem der Bücher des österreichischen Schriftstellers mit den zwei Vornamen die Formulierung wieder und wieder: in die entgegengesetzte Richtung gehen.
Wohin denn sonst?, dachte ich und schrieb eine Weile keine Zeile mehr.
Der Österreicher hatte offensichtlich alles schon gesagt.
Thomas Bernhard.
1975.
Wieder die oberbayerische Kurstadt. Dasselbe Gymnasium. Ein anderer Deutschlehrer. K. war sein Name.
Die Tür geht auf, und Herr K. kommt mit einem Karton herein, den er auf dem Pult abstellt. Das übliche Nölen im Raum, jeder erzählt jedem das Wichtigste der Welt. Den allgemein respektierten Herrn K. scheint der Geräuschpegel nicht zu stören. Er packt den Karton aus. Lauter orangefarbene Taschenbücher, ein ganzer Stapel. Dann geht er durch die Reihen und drückt jedem Schüler ein Exemplar in die Hand, wortlos. Nachdem er seine Runde beendet hat und mit leeren Händen zum leeren Karton zurückkehrt, bittet er um Ruhe, die ihm augenblicklich gewährt wird.
Herr K. sagt, dies sei ein neuer, wichtiger Autor, er schätze ihn hoch, deswegen habe er auf eigene Kosten die Bücher gekauft. Wir sollten, wenn wir Lust und Zeit hätten, mal reinlesen. Er werde keine Arbeit darüber schreiben lassen, es gehe ihm nur ums Lesen, um unsere Erfahrung mit dieser Literatur, um die Eindrücke, die wir vielleicht gewinnen würden. Darüber könnten wir, falls Interesse bestünde, bei Gelegenheit reden.
Das war alles.
Herr K. und das Taschenbuch mit dem Titel Prosa. Verfasser: Thomas Bernhard.
Vier Jahrzehnte, acht Umzüge und ungezählte Vernichtungsaktionen (Manuskripte, Schallplatten, Tagebücher) später gehört der Band mit den sieben Kurzgeschichten noch immer zum Kanon meiner Lektüre.
Und obwohl ich mir schon früh angewöhnt hatte – vermutlich unmittelbar nach dem Lesen meines letzten Bilderbuchs -, Zeilen oder einzelne Wörter zu unterstreichen, und zwar auf jeder Seite mehrfach, habe ich auf den 117 eng bedruckten Seiten von Prosa nur eine einzige Stelle markiert.
In der Erzählung Das Verbrechen eines Innsbrucker Kaufmannssohns heißt es: »Alles an ihm war anders; sie empfanden ihn als die größte Schande ihrer sonst nur aus Wirklichkeit und nicht im geringsten aus Einbildung zusammengesetzten Familie.«
Kein Wunder, dass mir solche Sätze wie aus der Seele geritzt vorkamen. Überhaupt erkannte ich bei Bernhard unfassbar viel wieder, was zu meinem gewöhnlichen Alltag gehörte, zumindest so, wie dieser auf mich wirkte. »Tatsächlich seien mehr Brutale und Verbrecherische auf dem Land als in der Stadt. Auf dem Land sei die Brutalität wie die Gewalttätigkeit das Fundament. Die Brutalität in der Stadt sei nichts gegen die Brutalität auf dem Land …« Und dergleichen Wahrheiten mehr.
Endlich hatte ich einen Verbündeten gefunden, der auszudrücken vermochte, was mir unmöglich erschien; dessen Furor meinem entsprach; dessen Zertrümmerungsakrobatik das Ziel meiner Übungen wurde. So wie Bernhard musste man Widerstand leisten, dachte ich, so wie er in die entgegengesetzte Richtung gehen, dachte ich, mit einem Feuerschweif von Wörtern hinter sich, die das lausige Einerlei ringsum in Schutt und Asche legten, ein für alle Mal.
Die Übertreibungskunst auf die Spitze treiben.
Die Einsamkeit als einzig angemessene Lebensform begreifen. Dem Massenmensch den Rücken kehren und zum bedingungslosen Einsamkeitsmenschen werden, lebenslang. Zu der Erkenntnis gelangen: »Ich habe nie einen bessern Gesprächspartner gehabt als mich selbst.«
Verstörung lesen und ein Anderer werden. Falsch: Der Eine werden, der ich selber bin.
Am Ende der Prosa-Eruption Ja aus dem Jahr 1978 – dem Jahr, als ich endlich mein Elternhaus verließ und in der Großstadt untertauchte – habe ich geweint. Etwas in dem Buch klang wie die Autobiografie meiner ersten achtzehn Lebensjahre. Dass ich noch am Leben war, erschien mir vollkommen willkürlich. In den von Seelenvernichtern und Kopfzerstörern und Schmerzensmenschen bevölkerten Büchern und Theaterstücken des Thomas Bernhard kehrte ich ins Leben zurück, in das mir angemessene, in das eine, das zu formen mir aufgetragen war.
Durch das erste große Interview, das der inzwischen berühmte und öffentlichkeitsscheue Romancier und Dramatiker einer Zeitung gab, wurde ich auf den Namen eines anderen Österreichers aufmerksam, der bald zu meinen liebsten Freunden zählte: André Müller. Er wurde – auf seine sehr eigene und wunderbare Weise – eine Art Thomas-Bernhard’scher Lebensmensch für mich. So schloss sich ein Kreis.
Das Interview erschien ein halbes Jahr nach Bernhards denkwürdigem – oder denkunwürdigem – Auftritt in der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität im November 1978, wo linke Studentengruppen die Lesung torpedierten, und Bernhard nach einer kurzen Lesung aus dem Erzählungsband Der Stimmenimitator den Saal vorzeitig verließ. Auf einem Foto sieht man ihn wenig später in einer Gaststätte gemeinsam mit André Müller.
Vielleicht – wäre ich mutig genug gewesen – hätte ich den beiden von der Universität aus folgen sollen. Denn ich war nach der Lesung auf die Straße gerannt, weil ich dem Schriftsteller eigentlich zurufen wollte, wie sehr ich ihn für seine Haltung in dem aberwitzigen Tumult bewunderte.
Stattdessen sah ich ihm nur hinterher, wie er verschwand, in der entgegensetzten Richtung.
Müller und er schrieben sich Briefe und Karten (»Lieber Herr Bernhard, Ihr letztes Buch Atem hat mich so tief beeindruckt, dass ich es nach mehrmaligem lauten Vorlesen nun fast auswendig kann …«). Oft reagierte Bernhard prompt (»Lieber André-Andreas Müller, die Sympathie bewirkt eine sofortige Beantwortung Ihres Briefes vom 7. …«).
Ob Bernhard wusste, dass Müller ebenfalls literarisch arbeitete?
Vermutlich nicht.
Müller war eben nicht nur Journalist, der das feuilletonistische Gespräch mit Schriftstellern und anderen Künstlern zur Meisterschaft erhob. Insgeheim war er ein Prosa-Schriftsteller, in dessen Arbeiten Bernhards Echos einen neuen Klang erhielten und sich in Müllers eigene Stimme verwandelten – am eindrucksvollsten in Gedankenvernichtung und Zweite Liebe.
Als er starb, viel zu früh und viel zu schnell, schrieb ich ein paar Sätze für ihn und wollte sie sagen. Doch auf dem Friedhof sprachen schon andere, und die Stille wurde knapp.
Was ich gesagt hätte:
Er trug eine eng anliegende Lederhose und hatte einen seltsamen Gang. Seinen Arbeiten nach zu urteilen hielt ich ihn für einen Menschen, der sich schwertut mit dem Sprechen – nicht wegen einer Behinderung, sondern wegen der quälenden Suche nach den angemessenen Worten.
Auf dem Tisch stand ein altes Aufnahmegerät von Uher. Das Band reichte für zwanzig Minuten, das Gespräch oder der Beitrag im Radio sollte nicht länger als drei Minuten dreißig dauern. Müller setzte sich vor das Gerät und begann – unmittelbar nach der ersten Frage – zu sprechen. Er sprach fünf Minuten ins Mikrophon. Dann – vermutlich ausgelöst durch eine weitere, kurze Frage – wiederum fünf Minuten und kurz darauf etwa zehn Minuten, bis das Band ins Leere lief. Müller hörte deswegen nicht auf zu sprechen. Er beantwortete ungestellte Fragen. Er geriet in ein sachliches Erzählen hinein, welches mitzunotieren enorme Konzentration und Schnelligkeit erforderte.
Nach beinah eineinhalb Stunden verstummte er. Auf die behutsam vorgebrachte Frage, ob er Zeit und Freude daran hätte, in einem Lokal ein Glas Wein zu trinken, erhob er sich sofort und sagte Ja.
In einer Trattoria in der Augustenstraße verging der Abend, und die Freundschaft begann. Das war am 24. Mai vor mehr als einem Vierteljahrhundert.
In der Zeit nach dem Abend im italienischen Restaurant gab es andere lange Abende – Heiligabend in der Leder-Bar Pimpernel und dergleichen schiefen Lokalitäten. Abende der eigentümlichen Art, wenn er nicht sprechen, sondern besprochen werden wollte. Das vergaß ich immer wieder: dass er am liebsten sprach, wenn er schrieb, dass er überhaupt lieber schrieb, als im Gasthaus zu sitzen oder ein Leben zu führen, wie man einen Hund ausführt, wenn man ihn erst einmal hat und nicht in der Isar ertränken möchte. André Müller führte sein Leben beim Schreiben.
Zwischendurch ein Interview mit jemandem, der ihn nicht besonders interessierte, wie er jahrzehntelang behauptete. Immerhin brachte ihn das Interviewen immer wieder zum Schreiben zurück. Was die Leute sagten, war seiner Meinung nach drittrangig, wie er sie sprechen ließ auf bedrucktem Papier – dafür lohnte der höllische Aufwand.
Irgendwann wurde deutlich, dass die junge Frau an seiner Seite nicht ein vorübergehender Liebesschatten war. Sondern ein Lebensmensch. Eine große Anwesenheit, wie der Himmel, eine Gegenwart aus unbedingter Nähe und im Besitz von Worten, in die er seine Einsamkeit hüllen konnte wie in einen guten Mantel.
Bestimmt fror er weniger mit ihr an seiner Seite.
Bestimmt zupfte sie ihm manchmal seine Todessehnsucht vom Herzen wie einen lästigen Fussel.
Bestimmt war C. dem A. ein Buch, das nicht mühevoll geschrieben werden musste wie die andern, das einfach da war, eine Wahrheit aus Fleisch und Blut und Blicken, die in seiner Seele blättern durften.
Bestimmt war dies alles ein Glück, so wie es sein musste.
An das Vermissen werde ich mich nicht gewöhnen.
Dafür, dass er mir kurz vor seinem Tod erlaubt hat, zum ersten Mal nach all den Jahren seine vom Schriftstellersein erfüllte und vor fremdem Schauen abgeschirmte Wohnung zu betreten, dankte ich ihm unendlich – wie für seine Gastfreundschaft an jenem sonnigen Sonntag in seinem letzten Zimmer, wo plötzlich ein katholischer Pater ihn bekehren wollte und durchaus unverrichteter Dinge wieder abziehen musste.
Und so wird André Müller in meiner Erinnerung wohnen für alle Zeit: als ein Mensch, der sich vor niemandem mit seinem Wesen zierte und dasselbe von uns allen erwartete. Wir haben ihn, fürchte ich, allzu oft enttäuscht. Er uns jedoch nie.
Kein Tag bis zum letzten eine Lebensenttäuschung, vom ersten Tag an bis hin zum letzten ein Lebensglück: Das Lesen der Bernhard-Sachen, das Leben in der Müller’schen Nähe. Der Schmerz aber ist untilgbar: Ein Wieder-Lesen, immer. Ein Wieder-Sehen, nimmer.
Weiter schreiben. Ja?