Alle warteten auf den Ministerpräsidenten. Er habe noch zu tun, hieß es. Die Müllsäcke waren so unauffällig wie möglich hinter das größte der vier Zelte gebracht worden, freiwillige Helfer, die seit Monaten Wasser, Decken, Spielsachen, heißen Tee und Lebensmittel verteilten, hatten weißblau karierte Tischtücher auf die Bierbänke gelegt und von zu Hause rote Kerzen mitgebracht, die im Eiswind unaufhörlich flackerten, ohne zu erlöschen. Männer und Frauen standen, eingehüllt in wattierte Jacken und von Spendern zur Verfügung gestellten Mäntel und mit tief ins Gesicht gezogenen Mützen wie ehrfürchtig Spalier in der vom Frost der Nächte hart gewordenen Wiese. Das Gras hatte die Farbe abgenutzter, verschmutzter Fußabstreifer angenommen. Die extra angereisten Journalisten und Fotoreporter traten ungeduldig und fröstelnd auf der Stelle. Niemand, außer der Frau im roten Anorak abseits der Gruppe, sagte ein Wort, seit mindestens einer Stunde. In den bleichen Gesichtern der Männer vom Sicherheitsdienst war keine Regung zu erkennen, sie trugen Waffen und Schlagstöcke am Gürtel und schüchterten viele Neuankömmlinge durch ihr wortloses Auftreten ein, verhielten sich ansonsten ruhig und hatten bisher nur unbedeutende Auseinandersetzungen zwischen einigen vom langen Weg erschöpften und vor Ratlosigkeit aufgewühlten jungen Männern zu schlichten. Jetzt galten ihre Blicke fast ausschließlich der Landstraße am Rand des Feldes. Schon längst hätten die Limousinen der Staatskanzlei dort auftauchen sollen. Gelegentlich fuhren Autos aus dem nahen Dorf vorüber. Der Abend brach herein, die Temperaturen sanken weiter. Die Mitarbeiterin des Roten Kreuzes im roten Anorak, die während des ganzen Tages Kontakt mit den Behörden in der Landeshauptstadt gehalten hatte, telefonierte weiter ununterbrochen. Basima, eine der jungen Mütter, schaukelte sanft den Kinderwagen, den sie geschenkt bekommen hatte und in dem ihr vierzehn Monate alter Sohn Abdul Karim lag. Wo Djadi, ihr Verlobter, sich aufhielt, wusste sie nicht. Aber sie hatte noch Hoffnung. Als die Mitarbeiterin des Roten Kreuzes ihr Telefongespräch beendet hatte und den Anwesenden mitteilte, der Ministerpräsident müsse wegen dringender Verhandlungen mit einer Delegation aus Fernost seinen Willkommensbesuch bedauerlicherweise absagen, beugte Basima sich über den Kinderwagen und verharrte reglos. Das Foto der gekrümmten Frau erschien später in allen Zeitungen. Wie der kleine Abdul Karim unter den Augen so vieler erfrieren konnte, wurde landauf, landab leidenschaftlich diskutiert, auch in fünf Talkshows.
Anis Eck 2: Unter unserem Himmel
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