Dem Schriftsteller Linhard Holstein gegenüber, an der Schmalseite des Acht-Personen-Tisches, saß ein Mann in einem blauen Pullunder, dessen Gesicht mit dem kantigen Kinn und der leicht nach links gekrümmten Nase er schon einmal gesehen zu haben glaubte; wo, das wusste er so wenig wie dessen Namen; das Einzige, was ziemlich sicher feststand, war, dass es sich um einen Kollegen handeln musste, einen Autor der Belletristik oder der Poesie, eher nicht um einen gewöhnlichen Publizisten oder womöglich Journalisten.
Holsteins Verhältnis zu den meisten seiner Kollegen grenzte seit der Veröffentlichung seines ersten Buches vor achtundzwanzig Jahren an Verachtung und fundamentale Gleichgültigkeit, was ihn jedoch nicht daran hinderte, jeden Tag die Feuilletonseiten dreier Tageszeitungen zu studieren und jede Kritik einer Neuerscheinung Wort für Wort zu lesen. Warum er zum ersten Mal die Einladung des Kulturdezernenten zu diesem regelmäßig stattfindenden »Gedankenaustausch« im Gasthof Rosenblatt überhaupt angenommen hatte, war ihm schon beim Betreten des angemieteten Nebenraums ein Rätsel gewesen.
Seitdem hatte er noch keinen einzigen Gedanken, stattdessen mit dem Kollegen Wasmaier Banalitäten über gesundheitliche Malaisen getauscht und sich insgeheim gewünscht, der Mann im blauen Pullunder möge einen Satz in die Runde werfen, der die anderen am Tisch in die Flucht trieb und ihn, Holstein, zu einem kleinen Gespräch verführte, das vielleicht zumindest die Ahnung einer Art Gedankenaustausch bei ihm aufkommen ließ.
Doch der Mann saß nur da, trank ein Glas Weißwein nach dem anderen, wechselte ab und zu ein Wort mit der älteren Frau schräg neben ihm, offensichtlich aus purer Höflichkeit, denn er brach die Unterhaltung jedes Mal von sich aus nach wenigen Sätzen wieder ab.
Holstein langweilte sich bis ins Mark. Der Wein schmeckte ihm nicht, noch weniger die mit dubiosen Wurst-Käse- und Gemüsesorten belegten Häppchen, und das permanente Auftauchen des Kulturdezernenten, der anscheinend einen Sport daraus machte, ununterbrochen von Tisch zu Tisch zu sprinten, um seine Jovialität zu trainieren, ruinierte die Behaglichkeit seiner Langeweile.
Nach zwei Stunden stand Holstein auf, warf dem Mann ihm gegenüber, der ihn mit seinen wässrigen, stieren Augen nicht mehr wahrzunehmen schien, einen enttäuschten Blick zu, drückte dem unvermeidlich an der Tür lauernden Kulturdezernenten die Hand und eilte in die kalte Nacht hinaus. Morgen um sechs Uhr würde er an seinem Roman weiterschreiben, möglicherweise ein Kapitel beenden und das nächste vorbereiten, so wie es sein musste, wenn man ein Schriftsteller war und nicht bloß ein Publizist.
Während er gedankenvoll durch die Stadt ging, zauberte die Gewissheit, auch für sein zweites Buch einen Verlag zu finden, ein silbriges Lächeln auf sein Gesicht. Und den seriös gekleideten Mann am anderen Ende des Tisches, da war Holstein sich jetzt sicher, hatte er vorher noch nie im Leben gesehen.