1995
Irgendwann im Februar ziehe ich mit meinem Schlafsack in eines der vierzehn Zimmer der Villa Aurora. Trotz meines Engagements am Staatstheater Stuttgart hat mir Schauspieldirektor Friedrich Schirmer großzügig erlaubt, der Einladung Heiner Müllers nach Los Angeles zu folgen. Als das Telefon in meiner Wohnung in Stuttgart geklingelt hat, konnte ich die Stimme des Anrufers kaum identifizieren. Vor wenigen Wochen hat sich Heiner Müller einem Eingriff an der Speiseröhre unterzogen. Eine Operation, die seine Stimmbänder in Mitleidenschaft gezogen hat. Die Zeit der Rekonvaleszenz verbringt er nun in Kalifornien. Die 1943 von Lion Feuchtwanger erworbene, an den Pacific Palisades gelegene Villa Aurora wurde kürzlich als Künstlerresidenz eingerichtet, um als Basis für einen kulturellen Austausch zwischen Deutschland und den USA zu dienen. Einige schöne Tage brechen an, auch wenn sie bereits von einem unübersehbaren Trauerrand überschattet werden. Tatsächlich wird Heiner dieses Jahr nicht überleben.
Der Aufenthalt in dem 1928 von dem Architekten Mark Daniels entworfenen und von einem andalusischen Schlösschen inspirierten Anwesen wurde in zwei Texten Müllers thematisch. Eine an Frank Castorf, Johann Kresnik, Matthias Lilienthal und das Ensemble der Volksbühne gerichtete Grußadresse nutzte der Dichter, um auf seine Schreibblockade zu sprechen zu kommen, die ihn seit 1989 heimsuchte:
[…] stöhnend unter der Last meines Versprechens, zum 80jährigen Bestehen der Volksbühne etwas aufzuschreiben, sitze ich in der VILLA AURORA, einer Bibliothek von 23 000 Bänden mit Blick auf den Pazifik, umgeben von einer Zivilisation aus übelriechenden Duftstoffen, fastfood (meine erste Futterallergie habe ich fast hinter mir), mehr oder weniger intelligenten Computern und lächelnden Idioten, HAPPINESS IS DUTY/GLÜCK IST PFLICHT […]. Mit jedem neuen Text, den ich lese, Literatur oder Zeitung, wächst der Widerstand meiner Schreibhand, rechts oder links macht keinen Unterschied, und es ist ein deutscher Reflex, den ich der kalifornischen Sonne nicht anlasten kann, gegen die trüben Signale, die von meinen maroden Gehirnwindungen ausgehn. MUTTER ICH KANN NICHT MEHR SINGEN / DIE WÜNSCHE DES HERZENS QUALMEN WIE LUNTE (Majakowski).
Eine Lyrik nimmt ein Motiv Bertolt Brechts aus dem Gedicht Vom armen B. B. auf, wo von amerikanischen Metropolen die Rede ist, konkret von den »langen Gehäuse[n] des Eilands Manhattan«, denen der spätere US-Emigrant prophezeite: »Von diesen Städten wird bleiben: der durch sie hindurchging, der Wind!« Daran anknüpfend machen auch Müllers Zeilen den Wind zum Subjekt, das die Lebenserwartung des urbanen Konglomerats, in diesem Fall des an der Westküste befindlichen Los Angeles taxiert:
VILLA AURORA Die Bäume verneigen sich
Vor dem Wind vom Pazifik der Bescheid weiss
Über die Dauer der Millionenstadt
Waiting for doomsday conscious unconscious
Of its fate rising from past and Asia
Die Vergänglichkeit ist eines der wesentlichen Motive dieser Tage. In der Gratulation zum achtzigjährigen Bestehen des Theaters am Rosa-Luxemburg-Platz fiel die in Versalien geschriebene Formulierung »AM VORABEND DES TODES«. Auch in einer weiteren Lyrik dieser Wochen, Welcome to Santa Monica, ist das Sterben das bestimmende Motiv, wie schon deren Anfang zeigt:
Ein sterbender Mann betritt das Hotelfoyer
Wo andre Sterbende ihre Zeit totschlagen
Kurz oder lang zwischen Geburt und Tod
Mit Geschäften oder allein mit dem Glas
Aus dem das Vergessen wohnt der neue Gast
Ist gezeichnet von einem andern Tod
Sein Gesicht seine Hände Blick und Gang
Halb schon ein Engel Oder ein Kupferstich
Von Dürer dem Pedanten der Melancholie
2017
Als Raimund Fellinger und Brigitte Maria Mayer mit mir zusammenkommen, um ein alphabetisch geordnetes Lexikon zum Komplex USA zu verabreden, ist keinem der Beteiligten klar, welchen Raum die ›amerikanische Sammlung‹ final umfassen wird. Vielfältige Beobachtungen und Reflexionen, Reiseeindrücke, lyrische Ver- und literarische Bearbeitungen, szenische Entwürfe, Aperçus und Bonmots, die Müller scheinbar unbegrenzt zu Verfügung standen, plus ein Hörspiel sprengen die anfänglich kalkulierten zweihundert Seiten. Der fertige Band wird stattdessen fast die Hälfte mehr zählen: 341 Seiten. Es wird ein Lesebuch entstehen mit überraschenden Aussichten und verblüffenden Volten, Reminiszenzen an eine Welt, die vom Zweiten Weltkrieg und den zwei Supermächten des Kalten Krieges geprägt wurde. Am Horizont der erlöschende Stern der Utopie.
2020
Eine zwanglose Führung durch Müllers Der amerikanische Leviathan beginnt am besten mit Exponaten aus unseren zahlreichen Gesprächen, die zwischen 1988 und 1995 entstanden und in den vierteljährlich erscheinenden Zeitschriften Transatlantik und Lettre International erschienen. Auch wenn die USA in diesen Interviews keine prominente Rolle spielen, sind sie dennoch stets am historischen oder kulturgeschichtlichen Horizont präsent, selbst in zu Träumen verdichteter Form:
Als ich in Texas war, träumte ich von einer »flying sausage«, von einer fetttriefenden, fliegenden McDonald’s-Wurst. In ungenießbares Weißbrot gehüllt. Ich fuhr fünfhundert Kilometer geradeaus auf einem Highway, und über mir flog dieses Riesenwurst-UFO. Das ist ein Bild des realen amerikanischen Alptraums. Dagegen hat Europa nur eine Chance, wenn es seine Schwerkraft, seine Geschichte, zum Schweben bringt. Wenn die Friedhöfe nicht an den Rand der Städte gepflanzt werden, sondern über den Städten kreisen. Schwebende Friedhöfe. Das wäre die Erfüllung eines uralten Traums der Menschheit, daß der Himmel zum Ort der Toten wird. Dagegen verblaßt die mexikanische Variante, die Knochen der Vorfahren zu Hause im Schuhkarton aufzubewahren.
Müller beherrscht wie kaum ein Zweiter die Kunst der Konzentration und Verdichtung des Heterogenen. Durch das Übereinander-Lagern der Bilder, Stoffe und Themen entstehen komplexe Gebilde auf der Grenze von Realität und Imaginärem.
In einem Gespräch über die mit 1989 verbundene Zeitenwende, mit der die Idee einer anderen Möglichkeit von gesellschaftlichem Miteinander endgültig begraben wurde, schlägt der Schriftsteller unversehens einen Bogen in die sogenannte McCarthy-Ära der 1950er Jahre, als in den USA antikommunistische Verschwörungstheorien das politische Leben wie den symbolischen Raum prägten:
Das allgemeine Lebensgefühl ist, daß man in einem Geschoß sitzt, das man nicht steuern kann. Es gibt ein Gefühl von Schwerelosigkeit – das Raumschiff Erde. Das ist die positive Erfahrung der Hilflosigkeit. Man sitzt nicht am Steuer und kennt den Mechanismus nicht, um es im Notfall zu bedienen. Aber das Ding fliegt. Das ist das Grundgefühl. Man ist schwerelos, hat keine Verantwortung. Alles ist gut. Alles ist Spiel. Wenn man aber einen hellen Moment hat, merkt man, wie die Substanz im Design verschwindet. Die Menschen werden von den Body Snatchers bei lebendigem Leib von innen ausgehöhlt. Die Body Snatchers tauchten zuerst in der McCarthy-Ära auf. Es sind außerirdische Pflanzenwesen, die Menschen doubeln oder klonen können. Deine Freundin sieht so aus wie immer. Sie hat nur einen etwas anderen Blick. Sie ist von den »Anderen« geklont. Aber da wird es kalt. Sie ist nur noch die perfekte Abbildung und Hülle. Da frißt ein metaphysischer Virus.
Was an der Oberfläche leicht, verspielt und unterhaltsam klingt und amüsiert, wird als Phänomen nicht nur historisch eingebunden und perspektivisch verschoben, sondern mittels Geschichte transzendiert. Invasion of the Body Snatchers, ein Science-Fiction-Horrorfilm von Don Siegel aus dem Jahr 1956, setzt in Müllers politisches Koordinatensystem transferiert zwanglos semantische Überschüsse frei, die in einer Epoche, die nach dem Echten und Authentischen giert, kaum Greifbares in unverbrauchten Bildern festhält. Auch die scheinbar harmlose Anekdote über John F. Kennedy erwächst einem geschichtsphilosophisch explosiven Boden:
Kennedy wurde bis in die Sexualgewohnheiten von einer Werbefirma nach dem Modell Cäsar aufgebaut. Cäsar trug den Spitznamen »maechus calva« – der kahle Ehebrecher. Wenn Cäsar irgendwo durchzog, wurden Spottlieder gesungen: »Macht die Haustür zu, sperrt eure Weiber ein, der kahle Ehebrecher kommt.« Das war bei Kennedy ähnlich.
Während der Amerikaner Francis Fukuyama das Ende der Geschichte ausrief, wird durch die figurierte Ähnlichkeit von Cäsar und Kennedy die postutopische Gemengelage gebündelt. Im Brennglas eines bis in die Antike und die Mythen zurückreichenden Langzeithorizonts überlappen das Römische Reich und die USA, wodurch der Zumutung eines allein um die Gegenwart zentrierten Bewusstseins mit der Macht der Anschaulichkeit nachhaltig Paroli geboten wird.
»Das neue Rom heißt USA, Che Guevara ist das Kreuz des Südens«, hat der Autor 1983 noch programmatisch in seinem Brief an Dimiter Gotscheff formuliert. In den 1990er Jahren beginnt Müller, sich mit dem Zusammenbruch der Römischen Republik und der Verwandlung Roms in ein Kaiserreich auseinanderzusetzen. Wie ein Alter Ego des Autors betritt der preußische Altertumswissenschaftler Theodor Mommsen die lyrische Bildfläche, der »nicht mehr die Leidenschaft« aufbringen konnte, »die faulenden Jahrhunderte« nach Cäsars Tod zu schildern. Die Übertragung auf die aktuelle Weltlage überlässt der Autor der Intelligenz seiner Leserinnen und Leser.
Wer Müllers ›amerikanisches Kabinett‹ durchstöbert, stößt auf eine Vielzahl von Spuren: Fäden, die auf das Feld des Politischen verweisen, die weiterverfolgt, gedacht und entwickelt werden wollen. Selbst die Kindheits- und Jugenderinnerungen werden erst im Licht der Geschichte beredt. Dabei entstehen durchaus skurril anmutende Kombinationen, so wenn unversehens Mickymaus Hand in Hand mit einem Protagonisten Viscontis über den Laufsteg des Imaginären flaniert:
Mein erstes Filmerlebnis war vielleicht das stärkste, ein Schiffsuntergang mit Mickey Mäusen – in einem Disneyfilm auf der Leinwand eines Dorfgasthauses in Sachsen, neben dem sehr späten der [kommerziell betrachtet überlangen] Originalversion von Viscontis »Rocco«, dem letzten Shakespeare, den ich, Bühne [und] Film zusammengenommen, gesehen habe/sehen konnte.
In diesem Universum gibt es keine Unschuld. Die subjektiven Bezüge sind von den realen historischen Kämpfen kontaminiert. Selbst Karl May, der den Heranwachsenden fasziniert und dem der Künstler mit gehöriger Skepsis begegnet, wird zu einer literarischen Klippe, an der sich die Wellen der geschichtlichen Strömungen brechen. Die Abenteuerromane des sächsischen Autors formen die Fantasie des Jugendlichen. Eine prägende Intervention in den symbolischen Haushalt, deren politische Implikationen Müller noch im zunehmenden Alter beschäftigen.
Die erste Amerikaerfahrung war – so simpel das klingt – Karl May. Da habe ich mich also wenig unterschieden von den anderen meiner Generation. Und da war zunächst Amerika das Land der Bösen […], die die edlen Indianer ausgerottet haben.
Die romantische Identifikationsfigur des ›edlen Wilden‹ erweist sich für den Künstler Müller als untauglich, lautet eine von dessen wesentlichen Fragen doch: Wie viel Schuld darf jemand auf sich laden, der überzeugt ist, im Namen einer besseren Zukunft zu handeln? Dass der geschichtliche Handelnde notgedrungen bereit sein muss, sich die Hände schmutzig zu machen, hatte bereits Georg Wilhelm Friedrich Hegel in einem Abschnitt über die schöne Seele in der Phänomenologie des Geistes ausführlich beschrieben. Ein Realitätsprinzip, das Müller in seine Stoffe einführt, womit er ihnen einen dramatisch-tragischen Beigeschmack abgewinnt.
Ich wußte noch nicht und ich ahnte schon, daß man kein Indianer bleiben kann, wenn man mit Kunst etwas ausrichten will. Wir schießen alle aus der Hüfte, und etwas ausrichten heißt in der Kunst etwas hinrichten, zuerst sich selber.
Damit ist das Leseerlebnis Karl May allerdings noch nicht endgültig erledigt, findet es doch einen prominenten Verteidiger. Dessen Schrift Erbschaft dieser Zeit ist in Bezug auf Müllers Rezeption der Mythen und Märchen wie auch des deutschen Traumas schlechthin, des Nationalsozialismus, kaum zu überschätzen. Das Für und Wider Karl Mays ist mit entscheidenden Auseinandersetzungen über Fragen der politischen Ästhetik im 20. Jahrhundert verknüpft, die bis in die Expressionismus-Debatte hineinreichen.
Ich war einmal bei Bloch […] kurz bevor er starb, in Tübingen. […] er war schon sehr alt, so eine Mischung aus Kind und Mumie, und das erste, was er sagte, war »Nun, es ist schon spät, und vor Morgengrauen müssen die Numas umzingelt sein. Wo steht das?« Also mir war klar, das konnte nur Karl May sein, soweit reichte es. Dann war er ganz böse und sagte: »›[Ardistan und Dschinnistan]‹, Band 2, Seite 64, Absatz 3.« Also ich war schon völlig zerschmettert. Er hatte das aber nur gesagt, um den nächsten Satz loszuwerden. Und der war sehr schön. Er sagte: »Nur ein Idiot wie Georg Lukács, der seine ganze Ästhetik von dem Faschisten Paul Ernst bezogen hat, konnte Thomas Mann für einen großen Romancier halten und Karl May übersehen, den genialen Erfinder der surrealistischen Kolportage.«
Die Erinnerungssplitter spiegeln Knotenpunkte des 20. Jahrhunderts, die mitunter über Leben und Tod, Lager und Exil entschieden. Als es gegen Ende des Zweiten Weltkriegs zu einem ersten leibhaftigen Kontakt mit ›dem Amerikaner‹ kommt, gestaltet sich die Begegnung erfrischend banal:
Ich bin dann in einen Zug gestiegen, der Richtung Westen fuhr. Irgendwann hielt der Zug, draußen hörte man die ersten russischen Kommandos, eine MP-Salve. Ich saß mit zwei Wehrmachtssoldaten in einem Abteil, die sagten: Wir hauen ab. Dann sprangen sie aus dem Zug, ich bin ihnen automatisch gefolgt. Sie haben hinter uns her geschossen, wir sind noch 500 Meter gelaufen. Dann stand ein Amerikaner vor mir und sagte etwas zu mir, was ich erst dreißig Jahre später verstanden habe, als ich in Texas war: Wa ya gojng. Das hieß: Where are you going? Dieser Texaner nahm mir eine Flasche Anisschnaps ab, den ersten Schnaps meines Lebens. Das war ein Verlust, der kränkte. Auf diesem Erlebnis beruht wahrscheinlich mein antiamerikanisches Ressentiment.
Diese kurze Besichtigung des amerikanischen Vivariums soll nicht enden, ohne in diesem Zusammenhang einen Blick auf das für den Dramatiker Müller elementare Gravitationszentrum Brecht zu werfen. Die sechs Jahre von 1941 bis 1947 seines vierzehnjährigen Exils verbrachte der bayrische Stückeschreiber ebenfalls in Los Angeles. Gerade diese kalifornische Etappe eröffnet Müller die Möglichkeit, sich von seinem Übervater Brecht zu lösen und seinen eigenen Weg als Theaterkünstler einzuschlagen:
Und die frühen Stücke sind einfach deswegen interessant, denn für die gilt eigentlich, was Brecht über den Sturm und Drang gesagt hat oder über Shakespeare im Verhältnis zur deutschen Klassik, also zum späten Schiller und Goethe, daß da noch rohes Material drin ist. Und daß nicht alles Material zu Form geworden ist und zu Form verarbeitet worden ist. Und das gilt eben leider auch für die späten Stücke von Brecht. Und ich glaube schon, daß das historische, biographische Gründe hat. Mit der Emigration war er abgeschnitten von den Klassenkämpfen in Deutschland, und das war so etwas wie Weimar für Goethe. Also sein Weimar war Hollywood.
Müller kritisiert, dass Brecht seine persönlichen Erfahrungen nicht in seine parabelhaften Theatertexte eingebracht hat und sich damit einem falschen Ideal von Objektivität als Abstraktion von der eigenen Subjektivität unterwirft. Der Vorwurf wiegt umso schwerer, als er von einem Autor vorgebracht wird, der mehrfach den Suizid seiner Ehefrau Inge Müller in seinen Stücktexten gestaltet und immer wieder auf seine frühkindlichen Gewalterfahrungen zu sprechen kommt. Entlang dieser Linie verläuft der Riss, der die literarischen Konzepte der beiden Dichter immer stärker trennen wird:
Der »Kreidekreis« ist in Hollywood geschrieben und davon nicht unbeeinflußt. Brecht hat aber in dieses Stück nichts eingebracht aus der Situation, in der er es geschrieben hat. Das schließt es jetzt ab gegen Realität und gegen den Gebrauch in der Realität und die Veränderung von Realität.
Geradezu programmatisch liest sich vor diesem Horizont Müllers Statement in Bezug auf seinen unbestreitbaren Welterfolg Die Hamletmaschine. Statt Isolation und Abkapselung nimmt Müller die Erfahrung des Fremden in sein Schreiben auf und plädiert für eine unbedingte Öffnung des artistischen Sensoriums. Statt ideologischer Scheuklappen plädiert er für metaphorische Sichtblenden.
Ohne die Amerika-Reise hätte ich das Stück so nicht schreiben können, überhaupt nicht ohne West-Reisen.
Bestätigt wird diese Haltung durch eine Epiphanie während Müllers Amerikareise 1975. Während einer Zugfahrt geht ihm eine für das weitere Werk strukturierende oder zentrierende Kategorie auf. Ob in Der Auftrag, Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten oder Bildbeschreibung – fortan bildet die Landschaft ein hermeneutisches Zentrum bzw. einen Gegenpol zur Geschichte, der zwar nicht völlig frei von ihr ist, aber auch nicht zur Gänze in ihr aufgeht.
Irgendwann stirbt man und wird Landschaft. Der andere Punkt ist, daß mir die Bedeutung von Landschaft in den USA zum ersten Mal begrifflich aufgegangen ist, wo durch die Ausdehnung Landschaft riesig vorhanden ist, wo sie eine Quantität hat, daß sie zur politischen Qualität wird. Die kann man nie wirklich industrialisieren. Das ist nicht drin.
Hiermit schließt diese kleine Tour d’Horizon durch Müllers amerikanische Sammlung. Niemand wird so naiv sein, anzunehmen, der DDR-Dramatiker hätte das Rätsel USA gelöst. Aber der Mythopoet gewinnt dem amerikanischen Komplex verblüffende Aspekte ab, generiert zuvor unbekannte Facetten, verleiht in zutiefst sinnlicher Weise den Widersprüchen Lebendigkeit und schlägt überraschende Verbindungen, die das scheinbar Bekannte in neues Licht tauchen. Gerade indem er die Hybris verweigert, die siegreiche Supermacht auf den Begriff zu bringen, schafft er ein durchaus spektakuläres Mehr: Der Dichter lässt uns aus zahllosen Augen(winkeln) schauend an dem zunehmend rätselhafteren Gebilde namens USA teilhaben.