täglich ein stück weiter ist eine kolumne mit theaterverlegerischen reisenotizen von frank kroll. es geht um momentaufnahmen aus dem theateralltag, um wegesrandbemerkungen über glanzlichter und merkwürdigkeiten eines ganz eigenen literaturmarktgeschehens.
im rheinischen neuss hat die firma 3M ihren sitz. dieses unternehmen kann, sollte das konzept von ulf schmidt wirklichkeit werden, in den nächsten jahren mit einem deutlichen umsatzplus rechnen. 3M produziert kleine bunte klebezettel. und die verbraucht man palettenweise in jedem »writers room«. (HIER ZUM BEISPIEL, UND DAS IST NOCH EIN MINDERSCHWERER FALL). das unternehmen 3M erklärt den erfolg seiner klebezettelchen übrigens so: »für alle produkte der marke post-it® gilt, dass sie zuverlässig haften, aber auch schnell und rückstandsfrei entfernt werden können – dafür sorgen die erfinder und entwickler in den 3M-laboren.«
szenenwechsel: ulf schmidt ist theaterwissenschaftler und stückautor. auf einer mannheimer dramaturgietagung bescheinigte er kürzlich dem deutschen theatersystem akute burnoutsymptome (hier nachzulesen). sein (von mir fahrlässig verkürztes) fazit: man verheddere sich in deutschen theaterleitungen permanent in ungerichtetem aktionismus, statt sich endlich der realität des eigenen wirkungsverlustes zu stellen. auf diese (nicht ganz neue?) diagnose folgt sogleich die behandlungsempfehlung: amputationen am lebendigen leib. schmidt schlägt einen rigorosen umbau des deutschen theatersystems vor.
»agiles theater« ist die überschrift, unter der ulf schmidt seine vorstellungen über neue künstlerische arbeitsweisen eines künftigen »theaters der digitalen naissance« zusammenfasst. theater müsse sich wieder gesellschaftlich relevant machen, indem es themen wie arbeit, »mitweltzerstörung durch technologie« und unser leben in »digitalien« auf die bühne bringt. darüber hinaus, so schmidts vorschlag, sollten sich theaterleitungen mit modernem projektmanagementverfahren vertraut machen.
agilität? relevanz? – das klingt für potentiell ausgebrannte theaterschaffende zwar nicht nach der erhofften entschleunigung. aber wer könnte etwas dagegen haben? WARTS AB, würde wolf haas schreiben, JETZT KOMMTS. und dann kommts: eher beiläufig erklärt ulf schmidt im hinteren drittel seines vortrags den »klassischen autorenbegriff« zum agilitätshemmenden alteisen. die herausforderungen der nächsten gesellschaft seien »zu komplex, um von einem einzelnen definiert, aufbereitet und auch noch niedergeschrieben zu werden«, so schmidt. stattdessen fänden sich in den »writers rooms« heutiger amerikanischer tv-serienproduktionen »modelle der zusammenarbeit, die den traditionellen autor ersetzen« könnten. mit organisationstechniken wie »scrum« und »kanban« ließen sich auf kooperative und effektive weise textvorlagen für das agile theater recherchieren und generieren.
KIEK AN. kein wort über den spezifischen realismusbegriff des serienfernsehens, der mit theater soviel zu tun hat wie seife mit klebe. kein wort über den sehr eigenen unterhaltungsanspruch von tv-produktionen. kein wort auch über den möglichen zugewinn, den theater durch die auseinandersetzung (und das heißt eben nicht bloß »interpretation«, sondern in den glücklichen fällen immer spielerische eroberung widerspenstiger vorlagen) mit moderner szenischer literatur erfährt. (bemerkenswert auch, dass schauspielerinnen und schauspieler im vortrag nur am rande erwähnt werden.)
WO ANFANGEN? längst berichtet herr pollesch an der volksbühne live aus digitalien, frau zeller begeistert vielerorts mit ihrer sprachmusik aus der gesellschaftlichen wirklichkeit, frau berg schreibt ein libretto für eine chorische choreographie über orientierungsnot in hochkomplexen zeiten, am akademietheater richtet herr lotz, richten die wunderbar durchgeknallten künstler des burgtheaters EINIGE NACHRICHTEN AN DAS ALL und lassen jeden naheliegenden globalisierungseffekt weit hinter sich und uns … WO AUFHÖREN?
warum sollte nicht möglich sein, was auf den bühnen längst wirklichkeit ist? schmidt will aufbruchstimmung verbreiten. das ist ihm hoch anzurechnen. vielleicht liegt das nicht-wahrnehmen heutiger theaterwirklichkeit, das für mich in schmidts beitrag dann aber auch deutlich wird, an etwas nebligen arbeitshypothesen wie: »es gibt keinen raum außerhalb des netzes mehr – und das netz selbst ist kein raum mehr.«? und ist es eigentlich ein zufall, dass schmidts aufruf zur autorenabschaffung zeitlich zusammenfällt mit der selbstamputation eines der wichtigsten foren für deutschsprachige gegenwartsdramatik in berlin?
der soziologe ulrich bröckling hat in einem hellsichtigen essay über die fragwürdigen beanspruchungen des kreativitätsbegriffs in neoliberalen zeiten ein schönes paradoxon notiert: »kreativität soll einerseits mobilisiert und freigesetzt werden, andererseits soll sie reglementiert und gezügelt, auf die lösung bestimmter probleme gerichtet, von anderen aber ferngehalten werden. entfesselung und domestizierung sind dabei ununterscheidbar verwoben, und doch ereignet sich kreativität gerade dort, wo das unterfangen scheitert, sie in regie zu nehmen.«
bin ich befangen, weil ich mein geld mit autorinnen und autoren verdiene, die ihre texte nicht in writers rooms erarbeiten und deren werke sich weder schnell noch rückstandsfrei entfernen lassen? das macht erstens diese literarischen produkte in keiner weise INAGIL. (zweitens verdiene ich mein geld mit MEINER ARBEIT.)
ich wünsche ulf schmidt von herzen die gelegenheit, sein konzept einmal über ein paar jahre ganz konkret ausprobieren zu können: als leitungsmitglied eines experimentierfreudigen hauses. es muss ja nicht immer gleich der große deutsche kehraus sein. – BONNE AGILITÉ!