täglich ein stück weiter ist eine kolumne mit theaterverlegerischen reisenotizen von frank kroll. es geht um momentaufnahmen aus dem theateralltag, um wegesrandbemerkungen über glanzlichter und merkwürdigkeiten eines ganz eigenen literaturmarktgeschehens.
nicht jedes brett vorm kopf bedeutet schon die welt. über theater als markt.
dieser – ursprünglich englische – redetext entstand für das norwegisch-deutsche symposium THE OTHER EYE beim mülheimer stückewettbewerb im mai 2014
guten morgen, vielen dank für die freundliche einladung zu diesem symposium. mein name ist frank kroll, ich leite den theater- und medienverlag unter dem dach des suhrkamp verlages in berlin. suhrkamp theater & medien vertritt autoren wie bertolt brecht, marieluise fleißer, max frisch, thomas bernhard, peter handke, martin heckmanns, gesine schmidt, christoph nußbaumeder, ingrid lausund, wolfram höll und viele, viele andere. wir sind einer von ca. 60 deutschsprachigen theaterverlagen. allein diese zahl sagt vielleicht schon etwas über die besondere struktur und den reichtum des deutschsprachigen theatersystems aus.
ich bin gefragt worden, ein impulsrefarat über das hiesige THEATERSYSTEM ALS MARKT zu halten. das tue ich gern. gleichzeitig geht es mir um unsere entscheidungen und verantwortung als teilnehmer dieses speziellen kunstmarktes.
ein paar nüchterne zahlen zum einstieg (aus der aktuellen werkstatistik des deutschen bühnenvereins über die zuletzt untersuchte spielzeit 2011/2012):
– es gibt 417 professionelle bühnen, die sich im deutschsprachigen bereich im schauspielbereich tummeln
– es wurden in dieser spielzeit 3243 verschiedene schauspielwerke inszeniert
– es gab 4792 neue schauspielinszenierungen
– darunter 493 premieren deutschsprachiger werke
– sowie 71 premieren fremdsprachiger stücke
ich bin als theaterverleger ein teil dieses öffentlich geförderten theatersystems. ich bekomme mein gehalt u.a. dafür, dass ich stücke lese und mit autoren und theaterleuten rede. ich arbeite gleichzeitig als lektor, anwalt, promoter und reisender vertriebsmensch für unser programm. manchmal umfasst die arbeit auch mehr als das (psychologe, freund). vertrauen ist die grundlage meiner arbeit. vertrauen in unsere programmatischen entscheidungen und in die verbindlichkeit unserer vereinbarungen. ich habe die interessen eines verlages zu wahren. also spreche ich hier nicht von einer neutralen warte aus. ich habe ganz bestimmte inhaltliche und wirtschaftliche interessen als teilnehmer des theatermarktes, die durch meine position bestimmt sind.
die situation für zeitgenössische theaterautorinnen und -autoren hat sich in den letzten zwei jahrzehnten stark verändert. aber nicht alles hat sich verbessert. ein blick auf aktuelle spielpläne macht sofort deutlich, dass dort etliche namen zu finden sind, die vor jahren noch keine rolle gespielt haben. und viele namen, die vor wenigen jahren noch eine rolle spielten, sind heute nicht mehr zu lesen. der deutschsprachige theatermarkt ist hungrig und schnelllebig.
die portfolios der theater haben sich geöffnet und entwickelt. es finden sich zahlreiche studioproduktionen zeitgenössischer stücke und gleichzeitig eine steigende zahl neuer theaterstücke auf mittleren und größeren bühnen. in berlin, in mannheim, in wien, in nürnberg und anderswo – in den metropolen wie in den regionen.
neue dramatik wird nicht mehr automatisch als spielplanrisiko angesehen. neue stücke finden ihr publikum, sobald mit ihnen wie mit klassikern wie shakespeare, ibsen oder tschechow umgegangen wird: erstranging besetzt und von erfahrenen regieleuten inszeniert. in räumen, in denen diese stücke atmen können. die inhalte und formen sind nicht auf einen nenner zu bringen, die schreibweisen sind extrem divergent, es gibt konventionell dialogische stücke neben dramatischen poemen oder neuartige dokumentarische theatertexte, um nur wenige beispiele zu nennen. und alle beanspruchen sie relevanz und fordern zu neuen spielweisen heraus.
im schnelldurchlauf ein paar namen (altersunabhängig) höchst lebendiger und produktiver theaterautorinnen und -autoren, deren werke mehr als einmal in den werkstatistiken der letzten jahre zu finden waren: lukas bärfuss, marc becker, sibylle berg, andri beyeler, oliver bukowski, tankred dorst, john von düffel, hartmut el kurdi, nurkan erpulat/jens hillje, werner fritsch, claudia grehn, peter handke, nino haratischwili, martin heckmanns, kai hensel, rudolf herfurtner, pia hierzegger, ulrich hub, lutz hübner, elfriede jelinek, thomas jonigk, fritz kater, lothar kittstein, oliver kluck, heiner kondschak, rebekka kricheldorf, franz xaver kroetz, fitzgerald kusz, dirk laucke, ingrid lausund, philipp löhle, kristof magnusson, marius von mayenburg, jan neumann, christoph nußbaumeder, ewald palmetshofer, rené pollesch, thilo reffert, kathrin röggla, marianna salzmann, roland schimmelpfennig, gerhild steinbuch, nis-momme stockmann, botho strauß, bernhard studlar, patrick süskind, ulrike syha, peter turrini, theresia walser, felicia zeller. (die versehentlich nicht genannten mögen mir verzeihen – es ist nicht einfach, die übersicht zu behalten.)
ich schlage vor, den begriff NEUE DRAMATIK abzulösen und zu ersetzen durch die geräumigere, umfassendere bezeichnung NEUE SZENISCHE LITERATUR. der begriff dramatik legt dialogische strukturen nahe, zentrale konflikte, psychologisch motivierte charaktere und anderes mehr. neue szenische literatur nimmt sich die freiheit, alle vorhandenen literarischen mittel zu verwenden und fürs theater nutzbar zu machen. natürlich hat das auch etwas mit der entwicklung moderner spielweisen zu tun. und mit unseren veränderten sichtweisen als theatergänger. es gibt keinen konsens darüber, wie ein gutes stück auszusehen hat. das heißt umgekehrt auch, dass sich jedes neue werk szenischer literatur von seinem eigenen konzept her als relevant erweisen muss. das erzeugt natürlich komplexität und verwirrung. aber auch hier, in der kunst wie im leben, gilt: WIR HABEN DIE WAHL. es sind unsere entscheidungen als theatermarktteilnehmer, die das erscheinen neuer szenischer literatur auf den bühnen bestimmen.
insgesamt halte ich die allmähliche öffnung der spielpläne für eine positive entwicklung. und natürlich hat der relative boom, den neue werke und autoren seit mehr als zwei jahrzehnten erlebten, auch seine gründe in der verstärkten förderung neuer szenischer literatur in dieser zeit. gleichzeitig lässt sich angesichts aktueller spielpläne noch immer eine andere relation zwischen klassischen, klassisch-modernen und zeitgenössischen werken vorstellen. womit wir bei den schwierigkeiten wären, die sich als begleiterscheinungen dieses kleinen booms eben auch ergeben haben. um es in wirtschaftliche begriffe zu fassen: wir haben es heute gleichzeitig mit einem VERSCHÄRFTEN WETTBEWERB, mit INFLATION und FEHLERNDER NACHHALTIGKEIT zu tun.
verschärfter wettbewerb: neue szenische literatur steht heutzutage in konkurrenz zu verschiedenartigsten projekttheaterformen, von denen nur einige literaturbasiert sind. manche nutzen literarische zulieferungen, legen aber weniger wert auf poetische aspekte. die spielpläne sind offener geworden, aber sie haben sich eben auch für andere theaterformen geöffnet, in denen sprache eine untergeordnete rolle spielt. neue szenische literatur ist nicht die einzige profiteurin der neuen offenheit in den theatern. der theatermarkt ist ein umkämpfter markt. es gilt heutzutage als selbstverständlich, dass ein stadttheaterspielplan klassische und neue werke umfasst, aber neben neuer szenischer literatur finden sich eben auch viele prosa- oder filmbearbeitungen, cross-over-projekte mit tanz und musik oder dokumentarisch arbeitende projekte in den spielplänen. das hat den kampf um spielräume nicht leichter gemacht. übrigens gehen auch die theaterverlage unterdessen mehr und mehr dazu über, diese bandbreite der theatermöglichkeiten in ihren programmen abzubilden.
inflation: die intensivierte förderung neuer szenischer literatur in den letzten jahrzehnten hat zu etlichen werken geführt, die niemals aufgeführt wurden oder auf deren uraufführung keine neuinszenierungen folgten. ONE HIT WONDERS. dafür gibt es zahlreiche gründe, zwei davon sind: der jungdramatiker, die jungdramatikerin wurden auf einmal zu einem hoffnungsfrohen neuen berufsbild. die ausbildungsmöglichkeiten, etliche werkstätten, workshops und preise vermittelten den eindruck, dass es einen markt für hunderte neuer stücke pro spielzeit gibt. man muss es ganz klar sagen: DEM IST NICHT SO! schreiben fürs theater bleibt ein hartes brot. und ich verstehe es als meine persönliche verantwortung als leiter eines theaterverlages, eine auswahl zu treffen und schwache stücke entweder zu entwickeln oder nicht ins programm zu nehmen. wir sollten weiterhin behutsam bleiben mit der erweiterung unserer kataloge. jährlich entstehen neue stücke, aber insgesamt haben sich die spielpläne nicht weit genug geöffnet, um alle diese stücke auch nur punktuell in erscheinung treten zu lassen. und da verschafft die konzentration auf uraufführungszahlen ein falsches bild, denn die eigentliche relevanz eines werkes erweist sich ja vor allem in der wirkung, deren äußeres anzeichen eben auch möglichst zahlreiche inszenierungszahlen sind.
fehlende nachhaltigkeit: das jahr 1993 markiert einen wendepunkt für das deutschsprachige theatersystem. in diesem jahr wurde das renommierte berliner schillertheater geschlossen. das war damals ein schock und ein kulturpolitischer tabubruch. seither sind etliche weitere theater aus finanziellen gründen geschlossen worden. seither wurden ensembles ausgedünnt, verwaltungen abgebaut und zahllose lean management prozeduren angewandt. heute muss man sagen: mehr geht nicht. die theater sind am rande ihrer leistungsfähigkeit. personell und finanziell ausgedünnt ächzen sie unter immer strikteren sparvorgaben. gleichzeitig schmilzt das publikum weg, das hat allein schon demographische gründe. und wo es früher 6 oder 10 premieren gab, werden plötzlich pro saison 50 premieren angekündigt, um mit ständig neuen werbeimpulsen lebendigkeit zu suggerieren. das führt zu burnout und herzattacken, so bescheinigen es auch insider. und es führt zu weniger nachhaltigkeit in der auseinandersetzung mit neuen werken. die rechnung ist in unserem repertoiresystem so simpel wie folgerichtig: wo neue werke früher 20 oder 30 vorstellungen pro spielzeit erlebten, werden sie heute gerade noch 8 oder 10 mal pro saison gezeigt. kaum uraufgeführt, sind sie auch schon abgespielt. wie sollen sich neue werke durchsetzen, auf sich aufmerksam machen können? für neudramatiker heißt das: will ich meine miete weiter bezahlen können, brauche ich mindestens 6 parallele produktionen meiner stücke.
ein anderer punkt im zusammenhang mit »nachhaltigkeit«: es gibt ihn noch immer, den hype um sogenannte »uraufführungen«. dieses thema ist komplex und widersprüchlich, deshalb hier nur so viel dazu: natürlich freut uns jede uraufführung eines stückes. passiert aber nach der uraufführung nichts weiter mit dem stück auf anderen bühnen, weil sich das interesse der theater nach erfolgter uraufführung erledigt, werden wir auf lange sicht nur weitere one hit wonder produzieren. dessen müssen sich alle marktteilnehmer bewusst sein. vor diesem selbstverantworteten hintergrund wirkt dann die klage vieler theaterleute über die kleinteiligkeit und das bloß singulär interessante neuer werke einigermaßen paradox. auch hier sind also entscheidungen gefragt, denn spielplanpolitik ist kein naturhaft sich vollziehender prozess.
ein letztes wort zum thema uraufführungen: jede inszenierung, auch die zehnte produktion eines stückes, ist ein originärer kreativer akt. deshalb ist auch der begriff NEUINSZENIERUNG richtiger als das abqualifizierende wort von der folgeinszenierung. es liegt in der verantwortung der theater, dem rasenden stillstand aktueller kleinteiliger produktion entgegenzusteuern.
zum abschluss noch zwei worte zu aktuellen debatten. während des diesjährigen theatertreffens wurde von professioneller seite die polemische forderung laut, man solle doch alle autorenförderungen für ein paar jahre einfrieren und dann schauen, ob wirklich ein verlust entstehe. man kann das für zynisch oder polemisch halten, aus meiner sicht zeugt eine solche haltung von wenig weitblick. aus meiner sicht käme es eher darauf an, die bestehenden förderinstitutionen einer evaluation zu unterziehen und neue ziele zu formulieren. war es nötig, den stückemarkt des berliner theatertreffens faktisch abzuschaffen? ist neue szenische literatur erwachsen geworden und daher ein erwachsenerer umgang (wie bei den neuen autorentheatertagen am dt berlin) die richtige antwort? fehlt es nicht eigentlich weiterhin an eimem prominenten berliner preis – neben heidelberg und mülheim? wie hoch ist die summe, die hierzulande für die förderung neuer szenischer literatur pro jahr aufgewendet wird, rechnet man alle institutionen, preise und stipendien einmal zusammen (meine schätzung beläuft sich auf einen allenfalls mittleren 6-stelligen betrag). wie kann vor diesem hintergrund überhaupt von »überförderung« die rede sein?
wir setzen weiterhin auf den engen austausch zwischen unseren autorinnen und autoren, uns und engagierten theaterleuten, die sich für eine qualifiziertere zusammenarbeit stark machen. wir versuchen enge kooperationen zwischen regieleuten und autoren zu initiieren, die möglichst mehrere spielzeiten überdauern. wir begleiten autorinnen und autoren bei stückaufträgen, inhaltlich und vertraglich. wir unterstützten hausautorenschaften, wobei autoren in der regel gar nicht das interesse und die zeit haben, proben täglich beizuwohnen. wichtig ist bei all dem aber vor allem: redet miteinander, überwindet berührungsängste UND WERDET VERBINDLICH. es geht um eine kreative konfrontation von text und spiel, nicht um die dominanz von regie oder text.
möglicherweise sollten ermüdete jury-mitglieder ihre gremieren nach ein paar jahren einfach mal verlassen, statt sich über die vergeblichkeit ihres tuns auszulassen. dem system ist mit radikalen schnitten nicht geholfen – im gegenteil. die errungenschaften der letzten jahrzehnte sollten nicht kleingeredet werden. es geht um eine neujustierung von fördermechanismen, die gut gearbeitet haben, aber besser wirken könnten. die BAUSTELLEN heißen: qualifizierung der vorhandenen förderinstrumente, neujustierung der spielplanentscheidungen, vertiefung der arbeitsbeziehungen.
zum schluss: bitte twittern sie niemals vor schauspielern. möglicherweise verpassen sie das beste.
vielen dank für ihre freundliche aufmerksamkeit.