täglich ein stück weiter ist eine kolumne mit theaterverlegerischen reisenotizen von frank kroll. es geht um momentaufnahmen aus dem theateralltag, um wegesrandbemerkungen über glanzlichter und merkwürdigkeiten eines ganz eigenen literaturmarktgeschehens.
lily brett in hamburg. ein wiedersehen mit der großen new yorker autorin anlässlich der deutschen erstaufführung von CHUZPE in den hamburger kammerspielen am 25.01.2015
um 21:05 wird sie von den schauspielern auf die bühne geholt. da steht sie: scheu, schmal, ungeschützt und trotzt minutenlang dem tosenden applaus. neben ihr ulrike folkerts, die gerade noch als warmherzige geschäftsfrau RUTH das alter ego der autorin in CHUZPE verkörperte. glückliche erschöpfung, tränen fließen. auch hinter der bühne, wo der theaterleiter kurz darauf allen beteiligten persönlich dankt. noble gesten an einem hamburger haus mit großer tradition.
mehr als drei jahre sind seit der letzten begegnung mit lily brett und ihrem mann, dem maler david rankin, vergangen. damals, im november 2012, war CHUZPE am wiener theater in der josefstadt herausgekommen und hatte sich schnell zum publikumserfolg entwickelt. in stück und roman geht es um den betagten jüdischen holocaust-überlebenden EDEK, der mit seiner ungebrochenen lebenslust seine tochter RUTH und seine umgebung in fahrt bringt. joachim bliese spielt ihn in hamburg als charmanten schlawiner. man hat diesem feinen boulevardstück mit seinen spuren ins historische in deutschland bis zu diesem großen abend keinen erfolg zugetraut. ich bin mir nach dieser premiere sicherer denn je, dass es mit CHUZPE weitergehen wird.
den premierentag verbrachten wir mit lily brett und dem CHUZPE-filmteam, um über die weitere drehbuchentwicklung des geplanten fernsehfilms zu reden. es dauerte nicht lange, und alle hingen an ihren lippen. sie erzählte von ihrer familie, von der verfolgung durch die nazis, von der grotesken not der nachkriegsjahre und dem aufbruch nach australien. es brauchte vier strenge aufforderungen des kellners, bis wir uns irgendwann dem längst kalt gewordenen lunch widmeten. unmittelbare nähe von schrecken und komik, engste verstrickung von literatur und erleben. dann eine heftige diskussion über das scheitern des feminismus. am tag nach der premiere ein mehrstündiges arbeitsgespräch mit den deutschen produzenten, die aus ihrem roman TOO MANY MEN (ZU VIELE MÄNNER) einen internationalen kinofilm machen wollen. wieder gerät das meeting zu einer begegnung. mit lily brett, mit ihren geschichten, mit ihrer geschichte. sie erzählt von der zufälligen wiederbegegnung ihrer eltern nach der befreiung, von ihren besuchen im „kz-museum“ ausschwitz. wir erfahren, warum sie jahrelang von interpol gesucht wurde, nachdem das „black cab“, mit dem sie in den 60ern auf eigene faust und gegen den erklärten willen ihrer eltern durch halb europa gereist war, am hafen von genua fahrerlos aufgefunden worden war. mit jedem ihrer erlebnisse wird die tatsache, neben lily brett zu sitzen, unwahrscheinlicher.
im frühjahr wird lily brett wieder in europa sein und aus ihren romanen lesen – in frankreich, in polen, österreich und deutschland. scheu, ungeschützt und strahlend klar.
Beitragsfoto auf der Startseite: Anatol Kotte