Ein guter Leser muss sich jedes Buch, das er lesen will (sofern es sich um literarische Kunst und nicht um Schnickschnackschicksalsromane handelt), in drei Exemplaren zulegen.
Das mag zunächst bedauerlich, befremdlich, ja bestürzend klingen, ist aber so.
Begründung as follows:
Das erste Exemplar liest er zuerst. Anschließend, fast unmittelbar danach, also am nächsten Tag oder in der folgenden Woche, liest er das Buch selbstverständlich ein zweites Mal, wie Nabokov es verlangt (»Ein guter Leser, ein bedeutender Leser, ein aktiver und kreativer Leser ist ein Wiederleser«) – greift dafür aber (wir werden gleich sehen, warum) zum zweiten Exemplar.
Diesmal, beim zweiten Durchgang, wird er sich viel besser auskennen im »inneren Gewebe des jeweiligen Meisterwerks« (V. N.) und unfehlbar Anstreichungen, Anmerkungen machen – was er sich beim ersten Lesen, in Unkenntnis des Ausgangs der Sache, ihrer Gesamtkonstruktion und der Fügung der Einzelheiten darin, selbstverständlich versagte.
Will der gute Leser nun aber – in einem Jahr oder fünf Jahren – das Buch erneut zur Hand nehmen, es also zur Überprüfung seiner durch das Wiederlesen und Anstreichen überhaupt erst realisierten ersten Lektüre noch einmal wiederlesen (»double reread«), hätte er jetzt ohne zweites, oder genauer gesagt: erstes Exemplar ein Problem.
Denn natürlich machen die Anmerkungen im zweiten Exemplar dessen Zurhandnahme – gestärkt durch die Erinnerung an die erste Wiederlektüre, doch unvoreingenommen wie frischgefallener Schnee – völlig unmöglich. Die eigenen Eindrücke und Einfälle von vor einem Jahr, von vor fünf Jahren – wer könnte ihnen ohne Häme und Selbstmordgedanken begegnen? Sie würden jede Re-Lektüre ins Reich der noch nicht einmal erträumenswerten Wünsche schießen.
Doch kann unser guter Leser eben nunmehr getrost zu jenem ersten Exemplar greifen, das er zwar bereits einmal las, aber spurlos, und das noch immer anmerkungsfrei wie frischgefallener Schnee in seinem Bücherregal steht.
Er kann es unvoreingenommen lesen und abermals Anmerkungen die Herzensmenge machen und nachher, wenn er will, mit den überholten des ersten (also zweiten) Exemplars vergleichen.
»Na gut, also zwei Exemplare«, höre ich Sie an dieser Stelle stöhnend konzedieren (Sie, der Sie sich mit Selbstverständlichkeit zwei Jahresurlaube leisten, zwei Autos, zwei Garagen, zwei Fr… – nun gut.) »Wozu drei?«
»Ich sprach von einem guten Leser«, lasse ich in der klaren Absicht, Sie einzuschüchtern, etwas höhnisch, jedenfalls hochmütig ertönen. »Ein solcher wird im Lauf seines Lebens immer wieder dahin kommen – unser Leben ist in Kreisbahnen unterteilt, die einander zunehmend leichter überschneiden –, gewisse ältere, ihn einmal tief beeindruckt habende Leseerlebnisse wiederholen oder überprüfen zu wollen. Um herauszufinden, was mit ihm, was mit der Welt seither geschehen ist, in zwanzig Jahren nach dem zweiten Durchgang, in dreißig oder mehr. Gespiegelt in und gemessen an der kühlen Schneide des sich materiell gleichgebliebenen Buchs.«
»Ja gut«, werden Sie sagen (Sie sagen immer »Ja gut«, ohne Komma, wenn Sie glauben, sich damit einen Vorteil verschaffen zu können), »falls dieser überaus gründliche Leser das so will, kann er sich dann ja immer noch ein drittes Exemplar besorgen.«
»Ja«, sage ich, äußerlich vollkommen ruhig, denn jetzt habe ich Sie da, wo ich Sie haben wollte.
»Nur«, fahre ich, mir über die Lippen leckend wie ein Raubtier, fort, »ist das Buch dann, nach zwanzig, dreißig, fünfunddreißig Jahren, in der Regel überhaupt nicht mehr lieferbar (selbst Klassiker nur in so rattigen Frustausgaben von Rechtefrei-Geiern mit räudiger Typographie).«
Und während Sie mich entgeistert in allmählichem Begreifen ansehn, schließe ich rasch: »Und deshalb ist es gut, wenn man sich als ernsthafter, ernsthaft an literarischer Literatur interessierter, bedeutender, aktiver und kreativer Leser, der es auch mit sich selbst und seiner von seinen Lektüren unablösbaren Biographie ernst und lieb meint, von vornherein drei Exemplare jedes Titels zulegt.«
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Bekanntlich gruselte sich Arno Schmidt vor dem von ihm berechneten und, wie er fand, »erschreckenden Umstand«, dass man von 13 ½ bis Mitte 50 »mit Verstand« »nur 3000 Bücher zu lesen vermag« – doch hier irrte der Bargfelder Meister! Bzw. sprang zu kurz: Denn wenn die von ihm anderswo als seit Goethe unverändert konzedierten [und sogar nicht nur, wie hier ursprünglich und irrtümlich behauptet:] 3000 [sondern sage und schreibe »hoffnungsvoll geschätzt … 5000«*] ernsthaften Leser in diesem Land in ihrem Leben die von Schmidt versprochenen je 3000 Bücher schaffen, haben sie, geschickte Aufteilung vorausgesetzt, überhaupt kein Problem damit, die gesamte Titelproduktion der deutschen Buchbranche in den ihnen zugestandenen 41 Lesejahren (bei etwa 80.000 Titeln im Jahr inkl. wiederaufgelegten Klassikern schlappe drei und ein bisschen Millionen Titel) »mit Verstand« unbeschwert wegzulesen: Und sogar jedes, wie von mir gefordert, dreimal!
Vladimir Nabokov: »Gute Leser und gute Autoren«, in: V. N.: Vorlesungen über westeuropäische Literatur. Hg. von Fredson Bowers und Dieter E. Zimmer. Aus dem Englischen von Ludger Tolksdorf und Dieter E. Zimmer. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2014, S. 33-43, hier: S. 37, 40.
Arno Schmidt: »Julianische Tage«, in A. S.: Über die Unsterblichkeit. Erzählungen und Essays. Hg. von Jan Philipp Reemtsma. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009, S. 160-165.
* Arno Schmidt: »Sind wir noch ein Volk der Dichter & Denker?«, in: A. S.: Bargfelder Ausgabe, Werkgruppe III. Essays und Biografisches, Bd. 4. Zürich 1995: Haffmans, S. 313.