In Fatma Aydemirs Roman Ellbogen steht eine junge Frau im Zentrum, die von einem ganz normalen Leben träumt, aber überall vor verschlossenen Türen steht: in der deutschen Gesellschaft, in ihrem türkischen Elternhaus, in der Schule, vor der Disko. An ihrem 18. Geburtstag geht Hazal mit ihren Freundinnen heimlich aus, der Abend eskaliert und am Ende ist ein Mensch tot. Hazal flieht nach Istanbul – aber auch dort fühlt sie sich fremd. Erschienen 2016 (bei Hanser, Bühnenrechte vom Suhrkamp Theater Verlag vertreten), wurde der Roman bereits mehrfach für die Bühne adaptiert und kommt jetzt in einer Fassung der Regisseurin Selen Kara mit Premiere am 18. Januar auch am Nationaltheater Mannheim auf die Bühne. Vor dem Probenstart trafen sich die Autorin, die Regisseurin und Sophie Kara, Referentin für Diversität am NTM, mit Dramaturgin Kerstin Grübmeyer zu einem Gespräch über Diversität, Tokenism und postmigrantisches Theater.
Kerstin Grübmeyer: Fatma, wenn Du als junge Frau mit einem türkischen Namen in Deutschland einen Roman über eine junge Deutsch-Türkin schreibst – besteht da nicht die Gefahr, dass das sehr stereotyp wahrgenommen wird?
Fatma Aydemir: Ja, natürlich. Aber ich hätte den Roman gar nicht geschrieben, wenn diese Geschichte nicht diese Dringlichkeit gehabt hätte, von der ich dachte: die muss und will ich erzählen. Über etwas ganz anderes oder einfach irgendein Thema hätte ich nicht schreiben können oder wollen. Ich habe ja mit dem journalistischen Schreiben angefangen und mir das literarische Schreiben selbst angeeignet. Und klar setze ich mich damit auseinander, wie das wirkt, wenn ich als Tochter von Migranten über genau dieses Thema schreibe. Aber auch: als Frau! Das Thema »Außenwahrnehmung« betrifft mich ja doppelt, denn auch Frauen müssen sich immer als »weibliche Autorin« bezeichnen und lesen lassen. Gleichzeitig fände ich es falsch, diese Geschichte deswegen nicht zu erzählen, auch wenn die Menschen dann diskret versuchen herauszufinden, wie autobiografisch der Roman ist. Dann kommen Fragen wie: Du bist ja nicht im Wedding aufgewachsen, wie kannst Du darüber schreiben? Darauf wäre meine Antwort: J.K. Rowling war auch nicht auf einer Zauberschule und hat trotzdem »Harry Potter« geschrieben. Die Fragen haben auch immer diese Widersprüchlichkeit: Einerseits sei das nicht authentisch, weil ich nicht aus dem Wedding komme – und andererseits ist da die Annahme, dass so eine Hazal auch in mir steckt. Dann gibt es Fragen wie: Wie hast Du es geschafft zu studieren, welche Lehrer haben Dich unterstützt? Das sind Rettungsfantasien oder auch Projektionen, die mit meinem Leben wenig zu tun haben. Als wäre der Roman mein Tagebuch und ich hätte selbst einen Studenten auf die Gleise gestoßen. Aber es ist ja Literatur und nur, weil auch meine Eltern aus der Türkei stammen, ist diese Geschichte nicht meine Biografie. Für mich sind die spannenden Fragen: Was ist Literatur, was bedeutet fiktionales Schreiben, bei welchen Autor*innen fragen wir uns das eher, als bei anderen? Ich liebe diese Figur und ich hasse sie, sie ist wie eine beste Freundin und zugleich distanziere ich mich von ihr. Aber vor allem ist ihr Blick auf die Welt ein Teil von mir, deswegen hatte ich auch das Bedürfnis, die Geschichte aufzuschreiben. Auch, weil aus Hazal am Ende des Buches noch alles werden kann, weil sie nicht reduziert ist auf nur diese eine Möglichkeit. Identität ist ja nichts Statisches. Und ich glaube, dass sich in der Figur viele verschiedene Menschen wiedererkennen können – aber auch an ihr reiben, weil sie nicht gefällig oder eindimensional ist.
Kerstin Grübmeyer: Du wünschst Dir eine diverse Besetzung in Ensemble und Regieteam bei Theateradaptionen von Ellbogen – was meinst Du damit genau und wie kam es zu dieser Entscheidung?
Fatma Aydemir: Diese Entscheidung ist noch relativ neu. Ich hatte mit dem Theater nicht viel zu tun und als die ersten Anfragen für Bühnenadaptionen kamen, hab ich erstmal gesagt: Ich überlasse es Euch, was Ihr damit macht. Nach den ersten drei Inszenierungen hatte ich langsam ein Gefühl dafür entwickelt, wie es am Theater läuft, nämlich: wie überall sonst auch, also auf jeden Fall wie in der Medienbranche oder im Literaturbetrieb. Das alles sind Räume, die sehr weiß dominiert sind. Die coolen Orte und Leute versuchen zwar, Vielfalt mitzudenken, auch, weil das gerade »cool« ist – aber es bleibt oft auf einem theoretischen Level hängen und die konkrete Praxis fehlt. Daher kam die Idee einer Quote, auch als Experiment. Ich wünsche mir, dass 50 % der Beteiligten an einer Inszenierung von Ellbogen Erfahrungen mit Rassismus haben. Denn Rassismus ist eines der großen Themen des Buches. Das heißt natürlich nicht, dass keine herkunftsdeutsche Person das spielen darf – natürlich können alle alles spielen. Aber andererseits eben auch nicht – es ist noch keine Realität an deutschen Bühnen, dass wirklich alle alles spielen. Und gerade bei dem Thema finde ich es falsch, wenn quasi von »Mehrheitsgesellschaft« zu »Mehrheitsgesellschaft« dieses Problem oder diese Realität verhandelt wird.
Kerstin Grübmeyer: Das war der Grund, warum wir in Mannheim Selen den Stoff angeboten haben – aber wir hatten dabei auch große Zweifel. Denn dabei tappt man ja wieder in die Falle der Zuschreibung, dass Selen damit auch wieder auf ihre Herkunft verwiesen wird. Wie stehst Du dazu?
Fatma Aydemir: Ich finde es gut, dass es diese Vorsicht vor der Falle gibt, aber das Wichtigste für mich ist das Gespräch darüber, also nicht direkt zu sagen: Du darfst den Schiller nicht machen, sondern: Hättest Du Interesse an einem Stoff wie Ellbogen? Ellbogen ist ja auch keine »Migrantengeschichte«, die nur Migrant*innen verstehen, es geht auch ums Erwachsenwerden, um Gewalt, Frau-Sein, Emanzipation, das ist in viele Richtungen offen.
Es gibt sehr viele Hazals in diesem Land
Sophie Kara: Im Rahmen meiner Arbeit als Referentin für Diversität am NTM sprechen wir viel über diese Zuschreibungen in Bezug auf Herkunft und Identität. Deshalb würde mich interessieren: Wirst Du, Selen, oft für Themen und Stoffe angefragt, die mit Deiner türkischen Herkunft zu tun haben, und wie gehst Du damit um?
Selen Kara: Ja, natürlich. Die ersten Anfragen liefen immer darauf hinaus, meinen Background einzubringen. Aber mittlerweile distanziere ich mich davon, weil ich mich mit Themen auseinandersetze, die mich interessieren und die müssen nicht immer was mit der Türkei zu tun haben. Und ich möchte auch nicht nur für Liederabende angefragt werden, weil ich Istanbul gemacht habe. Bei Ellbogen war es anders, ich habe das Buch gelesen und wollte es unbedingt irgendwann mal inszenieren – deswegen habe ich auch Euer Angebot sofort angenommen. Für mich ist es in erster Linie die packende Geschichte einer jungen Frau, die sich nach einem normalen Leben sehnt und Träume hat, wie jeder Mensch. Sie steht aber immer wieder vor verschlossenen Türen und führt ein Leben, das von außen bestimmt wird. Ich konnte mich mit Hazal identifizieren – auch wenn das natürlich auch nicht meine Geschichte ist. Es gibt sehr viele Hazals in diesem Land, von denen die meisten aber nicht die Distanz oder die Reflektiertheit haben, um beschreiben zu können, was in ihrem Leben fehlt oder schiefläuft. Und ich glaube, genau diese Reflektiertheit bringt Fatma ins Spiel – so dass ich als Leserin gut verstehen kann, woher Hazals Wut eigentlich kommt. Wir bekommen einen tiefen Einblick in das Leben und die Innenwelt »Hazalia« dieser jungen Frau. Das Klischee der aggressiven Migrantenkinder, die die Deutschen vor die Bahn werfen, wird hinterfragt. Und es gibt einen Ausblick, dass sie am Ende ihr eigenes Leben anfängt.
Ich glaube, aufgrund meiner Erfahrungen interessiere ich mich für ganz andere Stellen in dem Buch, die bisher vielleicht nicht so beleuchtet wurden. Die meisten Deutschen wissen gar nicht, wie fremd wir in unserer sogenannten Heimatkultur sind. Wenn Hazal sich in Istanbul nicht zurechtfindet, weil das auch für sie eine fremde Welt ist, dann ist das eine Erfahrung, die ich teile. Oder, wenn sie am Ende der Geschichte mitten in dem Putsch von 2016 landet, und gar nicht versteht, dass das ein Putsch ist, weil sie das türkische Wort für »Putsch« nicht kennt. Das sind traurige und wichtige Momente, die ich gerade auf einer deutschen Bühne erzählenswert finde.
Fatma Aydemir: Welche Aufgaben hast Du, Sophie, eigentlich als »Referentin für Diversität« an einem Stadttheater?
Sophie Kara: Bei dem Programm der Kulturstiftung des Bundes, das meine Stelle finanziert, geht es genau darum, dass das deutsche Stadttheater und auch andere Kultureinrichtungen in ihrem Programm und Personal sehr weiß sind und die Städte, in denen sie sich befinden, nicht wirklich wiederspiegeln. Mannheim ist dafür das beste Beispiel, fast 50 % der Bewohner*innen haben eine Migrationsgeschichte in ihrer Familie. Aber wenn ich ins Theater gehe, sind diese 50 % nicht da – und auch das Personal sieht nicht so aus. Hinzu kommt die Frage, was auf der Bühne gespielt wird. Mit meiner Stelle soll sich auf den drei Ebenen Personal, Programm, Publikum was verändern. Dabei stellen sich Fragen wie: Wer entscheidet eigentlich darüber, was gespielt wird? Wer steht auf, wer hinter der Bühne? Und wer kommt? Was sind unsere Beziehungen zur Stadt und zu Menschen, die sich mit dem Thema »Identität« in der diversen Gesellschaft schon lange auseinandersetzen, also zusammen mit bestimmten Communities und Vereinen langfristige Beziehungen aufbauen, nicht nur Einzelprojekte initiieren. Der Veränderungsprozess soll in den kommenden vier Spielzeiten angeschoben werden. Was ich gerade mache, ist vor allem, ein Bewusstsein für die Thematik »Diversität« zu schaffen, für die blinden Flecken innerhalb des Betriebs, für die Stereotype, die wir unbewusst reproduzieren. Das ist der Schwerpunkt im ersten Jahr, mit Fortbildungen und Trainings, aber auch ersten Veranstaltungen, in denen wir mit einem neuen Publikum ins Gespräch kommen wollen.
Fatma Aydemir: Aha, also Du bist jetzt dafür da, um die ganzen Probleme zu lösen? (Alle lachen)
Kerstin Grübmeyer: Wir haben auch eine »AG Diversität« gegründet, die Sophie bei ihrer Arbeit unterstützt. Aber der Kritikpunkt ist nicht ganz von der Hand zu weisen: Als junge Frau mit familiärer Migrationsgeschichte diese Stelle anzutreten, heißt für Sophie tatsächlich, dass sie plötzlich zuständig ist für alles, was mit Diskriminierung, vor allem mit Rassismus, zu tun hat. Und sie wird, das ist natürlich die Gefahr, auch zu einem »Token«, also zu einer Art automatischem Garanten für Diversität.
Ein automatischer Garant für Diversität?
Sophie Kara: Allein dadurch, dass es diese Stelle gibt, rücken jetzt Themen in den Vordergrund, die schon immer da waren, aber eben im Hintergrund. Alle wussten, dass es diese Auseinandersetzung braucht – aber erst die Förderung baut den Druck auf, das auch anzugehen. Klar frage ich mich manchmal: Was würdet Ihr jetzt machen, wenn es meine Stelle nicht gäbe? Es herrscht auch noch viel Unsicherheit bei dem Thema, die gehört dazu. Über Tokenism habe ich viel nachgedacht. Wem werden welche Themen zugeschrieben, wer wird wofür angefragt – oder auch »es kann nicht jeder alles spielen«. Wir wollen nicht, dass ein Stoff nur mit weißen Schauspieler*innen besetzt wird, aber andererseits auch nicht, dass Schauspieler*innen, die migrantisch »gelesen« werden, immer nur diese Rollen spielen. Die Schauspieler*innen wollen auch nicht in dieser Schublade landen. Dafür gibt es momentan keine einfache, klare Antwort.
Kerstin Grübmeyer: Nachdem wir uns in unserer ersten Spielzeit in Mannheim 2018/19 bemüht hatten, ein diverses Ensemble und Team zusammenzustellen, haben wir bald gemerkt, dass das natürlich nicht reicht, sondern dass es ein Gespräch mit allen darüber braucht, was »Diversität« eigentlich bedeutet, für unsere Zusammenarbeit. Und natürlich fragen sich einige Schauspieler*innen, wofür sie eigentlich engagiert wurden – für ihr Talent, ihre Künstlerpersönlichkeit oder ihre Herkunft. Und natürlich ist die Antwort: für alles das!
Fatma Aydemir: Wir können nicht alles richtig machen. Es wird immer auch Unzufriedenheit geben. Und Tokenism ist etwas, mit dem wir als PoC uns in hauptsächlich weißen Institutionen sowieso auseinandersetzen müssen. Ich dachte am Anfang bei der Zeitung auch immer, dass ich meine Stelle nur wegen meiner Herkunft bekommen habe, was einerseits doof ist – und andererseits war ich sehr froh darüber, weil es mir in anderen Häusern im Weg stand. Man kann das ja auch umdrehen: 90 % der weißen Männer haben ihre Jobs auch nur, weil sie weiße Männer sind, das ist im Grunde auch nur eine Quote und identitätsbasiert. Es ist schwierig, ein Token zu sein, und fast unmöglich, sich dem zu verwehren, vor allem, wenn man weiterkommen will. Aber ich versuche immer, diese Rolle sinnvoll zu verwenden und etwas strukturell zu verändern, damit ich nicht der Token bleibe, also vor allem: nicht die Einzige bleibe.
Sophie Kara: Das ist für mich ein ganz wichtiger Punkt: Wie kann ich den Umstand, dass ich, ob ich will oder nicht, Tokenism erfahre, so nutzen, dass ich den Diskurs mitbestimmen kann? Ich hab mir selbst oft die Frage gestellt, warum ich mir meinen Beruf ausgesucht habe, Politikwissenschaft studiert habe, mich mit Migrationsthemen beschäftige, sprich: warum habe ich mir als Kind türkischer Einwanderer dieses Thema ausgesucht? Ich glaube, ein Grund ist genau der, dass ich den Diskurs gerne mitbestimmen will. Weil ich keine Lust mehr habe, dass »über uns« gesprochen wird, sondern will, dass wir selbst sprechen.
Kerstin Grübmeyer: Mit Istanbul 2015 am Theater Bremen hast Du, Selen, gemeinsam mit Akɪn Emanuel Şipal und Torsten Kindermann selbst einen Abend entwickelt, der mit Deiner Herkunft zu tun hat. Wie kam es dazu?
Selen Kara: Ehrlich gesagt hatte Torsten zu Beginn die Idee, die »Gastarbeitergeschichte« nochmal aus einem neuen Blickwickel zu erzählen. In unserem Kennenlernen und unseren Diskussionen ist dann die Idee entstanden, die Geschichte verdreht auf die Bühne zu bringen, also dass Deutsche in die Türkei auswandern, um dort Arbeit zu finden und die Geschichte mit Songs von Sezen Aksu zu verbinden, die in der Türkei sehr populär ist. Auf diese Weise bietet der Abend eine Identifikationsmöglichkeit für Türken und Deutsche zugleich. Beide Seiten leben nämlich schon zu lange nebeneinander her und wissen immer noch viel zu wenig übereinander. Es findet kein richtiger Austausch statt, oder zu wenig. Der Abend hätte eigentlich viel früher entwickelt werden müssen. Wir haben bewusst die »türkischen Rollen« nicht mit türkischen Schauspieler*innen besetzt, sondern mit herkunftsdeutschen Spieler*innen aus dem Ensemble.Und die haben dann die türkischen Songs von Sezen Aksu eingeübt. In Bremen läuft Istanbul seit 2015. Wir haben das Projekt danach auch in Bochum und in Mannheim eingerichtet. Der Abend funktioniert also nicht nur für eine bestimmte Zielgruppe oder Stadt.
Sophie Kara: In dem Zusammenhang finde ich eine Frage spannend, die mir neulich von einem Zuschauer in Bezug auf Istanbul gestellt wurde, nämlich, ob es nicht eine Art »kultureller Aneignung« sei, wenn deutsche Schauspieler*innen Lieder auf Türkisch singen, die nicht Teil ihrer eigenen Kultur sind. Ich persönlich war darüber sehr überrascht, denn für mich wirkte das sehr wertschätzend und cool, der Vorgang, dass die deutschen Spieler*innen sich mit diesen Liedern so intensiv beschäftigt haben. Aber was meint Ihr dazu?
Fatma Aydemir: Da es Selens Entscheidung war, das so zu machen, stellt sich für mich die Frage nicht bzw. ist sie für mich damit beantwortet.
Selen Kara: Ich antworte mit einer Anekdote: Wenn mein Mann, der Deutscher ist, mit meinen türkischen Verwandten Türkisch spricht, dann sind die immer ganz begeistert und gerührt. Das ist für die eine ganz große Wertschätzung, eine Geste. Und das ist es für mich auch auf der Bühne – das gab es so vorher nicht. Ich hatte vorab viele Gespräche, dass wir die Lieder übersetzen sollen usw. und ich wollte es aber versuchen. Man kann den Abend natürlich kritisieren, aber wo er einfach funktioniert, ist genau auf dieser Ebene: Da sitzen plötzlich türkischstämmige Menschen im Publikum, die vorher nie ins Theater gegangen sind, singen, tanzen und weinen. Für die ist das ein Riesengeschenk, dass wir die Lieder auf Türkisch singen und ihre Familiengeschichte in einem deutschen Stadttheater auf die Bühne bringen. Und den Herkunftsdeutschen gefällt es auch.
Kerstin Grübmeyer: Aus all unseren bisherigen Überlegungen heraus – Tokenism und Zuschreibungen einerseits, andererseits die Diversitätsentwicklung, neue und andere Geschichten erzählen, neues Publikum gewinnen – wie seht Ihr in diesem Diskurs Ellbogen? Macht der Stoff unser Programm, unser Theater diverser? Oder bedeutet er eine Zuschreibung oder Einengung, weil er eine bestimmte Zielgruppe anspricht?
Das Ziel wäre ein Programm, das ohne Zuschreibungen funktioniert
Sophie Kara: Zu Beginn meiner Arbeit am NTM hätte ich wahrscheinlich noch gesagt: Ich finde Zielgruppenprogramm schwierig, weil ich dann ja wieder eine Zuschreibung mache. Mittlerweile glaube ich, dass die Krux eben darin besteht, wirklich »divers« zu sein im Programm, aber in einem anderen Sinne, also nicht als Abbild der Stadtgesellschaft, sondern in den verschiedenen ästhetischen Angeboten, so dass jede/r aus der Stadtgesellschaft etwas findet, was er/sie gerne anschauen würde. Und wir machen die ganze Zeit Zielgruppenprogramm – in erster Linie natürlich für die Stammbesucher*innen, die Abonnent*innen, was ja auch sinnvoll ist. Also warum dürfen wir dann nicht auch für andere Zielgruppen spezifisch was anbieten? Dann müssen wir am Anfang auch spezifische Themen setzen. Vielleicht kommen wir – und das wäre sicher das Ziel – in einigen Jahren zu einem Programm, das ohne Zuschreibungen funktioniert. Aber bis dahin sollten wir versuchen, ein Programm auch für die zu machen, die noch nicht vorkommen.
Kerstin Grübmeyer: Was sagt Euch der Begriff des »postmigrantischen Theaters« oder auch: »postmigrantischen Schreibens«? Mir scheint er immer noch sehr auf theaterinterne Debatten beschränkt – oder fast schon wieder aus der Mode gekommen, obwohl er so einen wichtigen Wandel markiert.
Fatma Aydemir: Ich mag den Begriff, für mich bezeichnet er Deutschland und setzt als selbstverständlich voraus, dass wir in einem Einwanderungsland leben – der Begriff bezeichnet nicht uns, die Migrant*innen. Sondern drückt eine Selbstverständlichkeit von Vielfalt aus – so wurde er ja auch von Shermin Langhoff am Ballhaus Naunynstraße eingesetzt. Ich würde es begrüßen, wenn der Begriff eine größere Verbreitung hätte, über den Theaterdiskurs hinaus.
Selen Kara: Für mich beschreibt der Begriff auch eine Entwicklung – früher sprach man von »Gastarbeiterliteratur« und »Gastarbeiterfilmen« oder von „Ausländern“, heute gibt es diesen Begriff, weil unsere Gesellschaft und ihr Umgang damit sich verändert haben. Und vielleicht gibt es irgendwann einen neuen Begriff. Ich werde oft gefragt, als was ich mich selbst definiere – Türkin oder Deutsche. Der Frage kann ich nicht gerecht werden. Und ich selbst habe mich eigentlich nie mit ihr beschäftigt, sie wurde mir immer aufgezwungen. Dann geht es um »Integration« – das sind Gespräche, auf die ich keine Lust mehr habe. Ja, es braucht Kategorien, um Phänomene wie Chancenungleichheit oder Rassismus zu beschreiben – aber ich wünsche mir, dass alles viel selbstverständlicher wird. Dass wir lernen, Vielschichtigkeit als Bereicherung wahrzunehmen, ohne diese kleinteiligen Definitionen oder Abgrenzungen vornehmen zu müssen. Das betrifft nicht nur den kulturelle Background, sondern auch die Sexualität, Alter, einfach alles.
Kerstin Grübmeyer: Ich habe manchmal das Gefühl, dass wir damals, als Shermin Langhoff anfing, »postmigrantisches Theater« zu machen, schon weiter waren, was wahrscheinlich mit der politischen Radikalisierung der Neuen Rechten seit 2015 zu tun hat. Es gibt diesen Begriff schon so lange, aber heute erscheinen Bücher wie Eure Heimat ist unser Albtraum oder Desintegriert Euch! und das ja aus guten Grund. Haben wir einen Rückschritt gemacht?
Sophie Kara: Für jemanden wie mich, die vor meiner Arbeit am NTM nicht viel mit Theater zu tun hatte, ist der Begriff »postmigrantisch« der eines Nischendiskurses, der sich nicht durchgesetzt hat. Und die Frage war nie weg: »Woher kommst du wirklich?« Und jede Antwort ist falsch. Der Diskurs war nie so präsent wie heute und es gibt viel mehr Stimmen und eine viel größere Präsenz und dadurch vielleicht auch Schärfe.
Fatma Aydemir: Es gibt verschiedene Strategien und eine davon ist: Wir gründen ein Theater wie das Ballhaus Naunynstraße oder das Gorki, wir besetzen diesen Ort, schaffen uns eine Utopie und bilden unsere Realität in unserem Haus ab – und das ist ein wichtiger Moment, aber er verändert natürlich nicht von heute auf morgen ganz Deutschland, nur, weil eine Bühne in Berlin dieses tolle Programm macht. Wir brauchten das, es war wichtig und es ist weiterhin wichtig, dass es nicht begrenzt bleibt, sondern Kreise zieht. Aber dann schauen wir uns 2020 um, und es gibt ein Heimatministerium, es ist plötzlich wieder »en vogue« von Heimat zu sprechen, in einer exklusiven Weise. Und das Wort »Integration« ist auch noch nicht in der Mülltonne. Die andere Strategie ist es dann eben, die Kritik lauter und härter zu formulieren, gegen die Normalisierung rechter Rhetorik zu rebellieren. Wir brauchen beides gleichzeitig: Räume für Utopien und harte und laute Kritik, die den Blick schärft. Theater ist immer noch ein elitärer Ort, wir versuchen alle, das zu ändern, aber es ist wichtig, die breitere Gesellschaft mitzudenken und nicht in den Kulturräumen stecken zu bleiben. Wir kriegen auch nicht ganz Deutschland in diesen Theaterraum – aber es wäre trotzdem schön, in diesem Theaterraum zu spiegeln, was Deutschland alles sein kann und bereits ist. Aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln.