Liebe Brechtianer*innen, schön dass Sie da sind,
liebe Alevitische Gemeinde, vielen Dank, dass wir heute Abend bei Ihnen zu Gast sein dürfen,
lieber –
Ja, ich habe lange überlegt, wie ich dich ansprechen soll. Heute ist schließlich dein 125. Geburtstag und ich darf eine Geburtstagsrede halten, die ja immer eine gewisse Vertrautheit ausdrücken soll, insofern wäre es wohl naheliegend, lieber Bertolt zu sagen, oder lieber Bert, aber das würde sich seltsam anfühlen, denn ich kenne weder einen Bert, noch einen Bertolt, ich kenne bloß einen Brecht, und deshalb bleib ich bei:
Lieber Brecht,
im Türkischen gibt es diese Redewendung: Coğrafya kaderdir. Wortwörtlich auf Deutsch übersetzt heißt das: Geografie ist Schicksal. Im Alltag wird diese Wendung eher negativ gebraucht, für die ungünstigen Einflüsse, die geografische und ökonomische Bedingungen an einem spezifischen Ort auf die Menschen dort haben.
In der vergangenen Woche musste ich immer wieder an diesen Spruch denken. Ich versuchte nachzulesen, woher dieser Ausspruch eigentlich stammt, aber die Quellen sind widersprüchlich. Manche datieren den Ursprung ins 14. Jahrhundert zurück und sehen den Satz als Referenz zu den Schriften des islamischen Gelehrten Ibn-Chaldun. Andere sind überzeugt, die erste Person, die den Satz so verwendete, sei der türkische Romancier Ahmet Hamdi Tanpınar gewesen, der nur drei Jahre nach dir zur Welt kam, Brecht, und im Gegensatz zu dir durch und durch Nationalist war. Am Ende aber interessiert mich persönlich vielmehr, was aus diesem Satz geworden ist, nachdem er entweder über Jahrzehnte oder vielleicht sogar Jahrhunderte von Mund zu Mund ging, und was die Menschen meinen, wenn sie heute voller Wehmut verkünden: Geografie sei Schicksal.
Und ich frage mich, was du zu diesem Satz gesagt hättest, Brecht. Zu dieser Idee. Denn in gewisser Weise hat Geografie dein Schicksal und dein Schaffen ja geprägt, vielmehr noch als meines würde ich sagen, ich bin ganz langweilig in der Bundesrepublik geboren und aufgewachsen, habe mir mal ein Auslandsjahr im Studium geleistet, aber lebe und schreibe nach wie vor hier. Du dagegen musstest viele Jahre deines Lebens im Exil verbringen, hast einen wichtigen Teil deines Schaffens fern von deinem Publikum gewirkt, bist quasi bei erstbester Gelegenheit zurückgekehrt, nach Berlin, um deiner Arbeit wieder nachgehen zu können, um ein eigenes Theater zu gründen, um auf der Bühne Geschichten zu erzählen, die das Publikum nicht rühren, sondern zum kritischen Denken anregen sollen. Geschichten von Orten und Personen, die vermeintlich fremd und sehr weit weg sind, und doch so viel mit der Realität des Publikums zu tun haben – wenn es das Publikum denn erkennen möchte.
Ist Geografie also Schicksal, Brecht? Ich möchte dir gern von einem Ort erzählen, von dem du wahrscheinlich nie gehört hast.
Vor vier Tagen hat sich ein verheerendes Erdbeben im Südosten der Türkei, in Teilen Syriens und in Westkurdistan ereignet, bei dem nach derzeitigem Stand etwa 17.000 Menschen ums Leben gekommen sind. Die Zahlen werden leider steigen, denn die Toten sind noch lange nicht alle geborgen (Anm. d. Red: einen Monat später lagen sie bei über 50.000). Um keine Zeit zu verlieren, suchte man bis heute morgen noch ausschließlich dort, wo aus den Trümmern Hilfeschreie zu vernehmen waren, um Überlebende zu retten. Erst im Laufe der nächsten Tage wird man wohl dazu kommen, auch in die stillen Trümmer zu schauen.
Das Epizentrum dieses Erdbebens befand sich mehrere Kilometer unterhalb einer unscheinbaren mittelgroßen Stadt namens Pazarcık (auf Kurdisch: Bazarcix) in der südosttürkischen Provinz Kahramanmaraş (Kurdisch: Mereş). Etwa 70.000 Einwohner zählt diese Stadt Pazarcık, durch deren Zentrum eine hoch frequentierte Durchfahrtsstraße verläuft, die von der Metropole Gaziantep nach Malatya führt. Die vielen Ampeln in Pazarcık sorgen dafür, dass die täglich Durchreisenden sich an die Geschwindigkeitsbegrenzungen halten müssen. Im Sommer gibt es zudem frische Feigen an kleinen Straßenständen zu kaufen, und schockgefrorenes Speiseeis aus Orchideenwurzeln, das Reisende bis zu zwei Tage transportieren können, ohne dass es schmilzt.
Im Grunde ist Pazarcık für einen Großteil der Gäste heute Abend eine Art Szechuan: Es ist fremd, sehr weit weg, irgendwie exotisch mit seinem Orchideeneis und hat auf den ersten Blick nicht viel mit unserer Realität hier bei der Eröffnung des Brecht-Festivals in Augsburg zu tun. Der alevitischen Gemeinde aber ist Pazarcık sehr wohl ein Begriff und zwar nicht nur wegen des Erdbebens, von dem alle, die Familie in der Südosttürkei haben, in irgendeiner Weise betroffen sind. Pazarcık ist vor allem eine alevitische Stadt, eine kurdische Stadt, die auch lange vor dem Erdbeben schon ein bekannter Ort war, zumindest in der Diaspora. Denn es besteht die Annahme, dass Pazarcık die Stadt in der Türkei ist, aus der prozentual an ihrer Einwohnerzahl gemessen, die meisten Einwohner nach Europa ausgewandert sind. Vor allem nach Deutschland, aber auch nach Frankreich, in die Niederlande, nach Großbritannien. Ich sage, es besteht die Annahme, weil die offiziellen Zahlen jene Auswanderungen, die auf informellen, also illegalisierten Wegen stattfanden, nicht erfassen können, und diese Zahl liegt gerade in Pazarcık wohl viel, viel höher als die Zahl der »legal« Ausgewanderten, also im Zuge des Anwerbeabkommens, der Familienzusammenführung oder des politischen Asyls. Es wird sogar gesagt, im Ausland gibt es mehr Menschen, die gebürtig aus Pazarcık sind, als es Menschen in Pazarcık gibt. Mit höchster Wahrscheinlichkeit befindet sich in diesem Raum heute Abend auch jemand, der selbst aus Pazarcık stammt.
Aber ich bin sicher, auch andere Gäste hier werden Menschen aus Pazarcık kennen, ohne es zu wissen. Etwa die, die regelmäßig in türkische Restaurants gehen, oder eben in Restaurants, die als »türkisch« gelabelt werden: In der Gastro gibt es tatsächlich überdurchschnittlich viele Selbstständige und Beschäftigte aus Pazarcık, die auf eine sehr reiche kulinarische Tradition ihrer Region zurückblicken, hierzulande dann diesen Reichtum aber natürlich auf ein Angebot für den deutschen Geschmack anpassen müssen.
Aber warum ist es ausgerechnet die Stadt Pazarcık, aus der so viele Menschen auswandern wollten, auswandern mussten? Die jährliche Bevölkerungswachstumsrate der Stadt, die Anfang der 1970er plus 22 Prozent betrug, sank laut Erhebungen in den Jahren 1975-1980, also kurz vor der Militärdiktatur, auf minus 77 Prozent. Gerade junge Männer verließen ihre Stadt in Scharen, nach der Nacht des 23. Dezember 1978. Da begannen die sogenannten Maraş-Pogrome, die sich explizit gegen die alevitische Glaubensgemeinschaft der Türkei richteten, und speziell der alevitisch geprägten Provinz Kahramanmaraş. Imame hielten Hetzreden in Moscheen, Rechtsextreme markierten Wohnhäuser von Alevit*innen mit roter Farbe, plünderten sie, Bewohner*innen wurden auf die Straßen gezerrt, gefoltert, vergewaltigt, ermordet. Die offizielle Zahl der Toten ist 111, die Dunkelziffer wird auf das Doppelte geschätzt. Es war nicht das erste Massaker an alevitischen Bürger*innen in der Geschichte des türkischen Staats, es blieb leider auch nicht das Letzte.
Anfang der 90er-Jahre dann tobte der bewaffnete Konflikt zwischen der kurdischen Arbeiterpartei PKK und den türkischen Streitkräften, in dem die Provinz Kahramanmaraş und auch Pazarcık zu den Hauptschauplätzen zählten. Der Alltag in der Region wurde noch gewaltvoller, unsicherer. Aus dem gesamten Südosten der Türkei wurden Menschen vertrieben oder sie versuchten zu entkommen, es sprach sich damals das Gerücht herum, dass man in Pazarcık besonders schnell an Reisepässe komme, so wurde Pazarcık in den 90ern zu einer Art Schleuse nach Europa.
Die, die aus Pazarcık weggegangen sind, haben Menschen zurückgelassen, Familien, Freund*innen, wenn sie können, kehren sie immer wieder dorthin zurück, haben vielleicht kleine Häuschen gekauft, mussten diese dann irgendwann an Bauunternehmen abtreten und haben im Gegenzug kleinere Wohnungen in größeren neu gebauten Gebäudekomplexen bekommen. Sommer für Sommer werden sie beobachtet haben, wie Pazarcık sich verändert, moderner aussieht, bessere Straßen bekommt, aber was mit dem bloßen Auge nicht zu sehen ist: Auch die Luftqualität verschlechtert sich von Jahr zu Jahr, durch zwei Zementfabriken die direkt an der fruchtbarsten Tiefebene des Landkreises gebaut wurden; die Bodenfruchtbarkeit verringert sich massiv in dieser traditionell auf Landwirtschaft angewiesenen Region, eine große Mülldeponie für den Industriemüll der gesamten Provinz wird trotz Protesten im Untergrund von Pazarcık errichtet.
Für dich, Brecht, ist an dieser Stelle vielleicht interessant, dass der Name Pazarcık eine Bedeutung hat, ja, dass er ein sprechender Name ist, als hätte ihn jemand für ein Theaterstück erfunden: Pazarcık leitet sich vom türkischen Wort für Markt ab, Pazar, ist aber durch das »cık« am Ende eine Verniedlichung davon, also: »Das Märktchen«. Das klingt doch ganz so, als würde man den Markt unter einem Brennglas beobachten, mit all seinen Verheißungen, aber auch seiner Schonungslosigkeit und seinem Grauen, wie sich all dies auf der begrenzten Fläche dieses kleinen Ortes manifestiert. »Entmenschlichungspolitik« nennt es der gebürtig aus Pazarcık stammende HDP-Abgeordnete Mahmut Toprul, wenn er den Umgang des Staats mit seinem Heimatort im Laufe der vergangenen Dekaden bis zur aktuellen Umweltpolitik nachzeichnet.
Und nun erreichen uns seit Tagen die Bilder aus Hatay, aus Adıyaman, aus Gaziantep, aus Malatya, auch aus Kahramanmaraş und unserem Pazarcık – von zerstörten Hochhäusern, die teilweise vor wenigen Jahren erst errichtet und als erdbebensicher ans Volk verkauft wurden. Nachrichten von Menschen, die obdachlos und verletzt tagelang bei Minusgraden draußen warten, auf den Katastrophendienst, der ihre verschütteten Angehörigen retten soll, der aber einfach nicht eintrifft. Es gibt keinen Strom, kein Gas, kein Essen mehr, das Handynetz funktionierte erst gar nicht, Tage später dann schon, aber da beschloss die Regierung, die sozialen Netzwerke einzuschränken, über die Betroffene Hilfe suchten. Man wolle Desinformation vermeiden. Erst am dritten Tag nach dem Erdbeben, am Mittwoch, kommt der türkische Präsident persönlich nach Pazarcık. Er tritt vor die Betroffenen und sagt: »Das hier ist ein Plan des Schicksals.«
Ich bin unschlüssig, ob du was mit dem Schicksalsglauben anfangen kannst, Brecht. An eine Vorbestimmung, die sich jeder Entscheidungsfreiheit des Menschen entzieht und eine Auflehnung gegen die Umstände sinnlos erscheinen lässt, glaubst du mit Sicherheit nicht. An das Sich-Abfinden, an das »Es ist schrecklich, wie es ist, aber so ist es nun einmal.« Das ist nicht deins. Ich glaube, du bist hoffnungslos, aber nicht auf diese Art und Weise. Du bist nicht religiös, aber du findest Religion hochinteressant. Interessant genug, dass du die Bibel mal deine Lieblingslektüre nanntest. Das heißt, du hast dich mit den Schicksalsgläubigen auseinandergesetzt, du hast ein Potenzial in ihnen erkannt, vielleicht sogar ein Potenzial in der Idee des Schicksals, wenn denn der Umgang mit ihm ein anderer ist.
Gewiss lässt sich der genaue Zeitpunkt und Ort eines Erdbebens nicht berechnen, verhindern lässt sich ein Erdbeben schon gar nicht. Insofern entzieht es sich tatsächlich jeder Willenskraft, ein Erdbeben existiert als höhere Gewalt. Doch lässt sich wissenschaftlich durchaus erforschen, in welchen Regionen stärkere Erdbeben erwartet werden, und dass die Türkei sich in einer tektonischen Hochrisikozone befindet, ist hinlänglich bekannt. Vorkehrungen hätten getroffen werden müssen. Das Erdbeben mag ein naturgegebenes Schicksal sein, das Nicht-Eintreffen des Katastrophenschutzes in weiten Teilen des betroffenen Gebiets ist es nicht. Das Einstürzen angeblich erdbebensicherer Hochhäuser ist auch kein Schicksal. Das Zweckentfremden der Erdbebensteuer, die seit 20 Jahren eingesammelt wird, um Wohngebiete sicherer zu machen, ist kein Schicksal.
Unterlassene Hilfeleistung ist das eine. Vorkehrungen bewusst abzulehnen, um sich an den dafür nötigen Ressourcen selbst zu bereichern, das andere. Was Pazarcık und vielen Orten in dieser Region, für die Pazarcık symbolisch stehen kann, gerade widerfährt, ist keine Ausnahmesituation in einem ansonsten funktionierenden System. Es ist Symptom einer Politik der Vernachlässigung, der Vertreibung, der Zerstörung, der Entmenschlichung. Und diese Politik wird gerne auf eine bestimmte Person, den Despoten, reduziert – nicht, dass er als Staatsoberhaupt nicht ein Hauptverantwortlicher für diese Verhältnisse wäre, das steht nicht zur Debatte. Aber es gehört tatsächlich mehr dazu als diese eine Person. Es gehören Unterstützer dazu, es gehören Verhandlungs- und Handelspartner dazu, es gehören vor allem Zeug*innen dazu, die dabei stehen und nichts dazu zu sagen haben, weil sie von dieser Situation, wenn auch über Umwege, im Grunde auch profitieren. Ich weiß, es ist nicht in deinem Sinne, Brecht, das Publikum mit konkreten Antworten und Lösungsvorschlägen nach Hause zu schicken, deswegen lasse ich diese Geschichte nun einfach in diesem Raum stehen, in dem sich ja auch einige Entscheidungsträger*innen aus ganz verschiedenen Feldern befinden, und wer will, kann darüber nachdenken, was Pazarcık mit uns zu tun hat. Was Sezuan mit uns zu tun hat.
Ich möchte diese Geburtstagsrede gerne mit einem Zitat von dir beenden, Brecht, in dem deine Position zum Thema Schicksal ein bisschen durchscheint. »Der Mensch braucht Gott. Er ist machtlos gegen das Schicksal«, heißt es nämlich an einer Stelle in deinem Stück Die Mutter, was sich für mich sehr ähnlich anhört, wie die Worte, die der türkische Präsident soeben zu den Überlebenden von Pazarcık sprach. Aber du begreifst dieses Schicksal eben nicht als unabwendbares Los, Brecht, sondern als ein durch Humanismus, durch Solidarität und durch Erkenntnis formbares, wenn du deine revolutionäre Protagonistin Pelagea Wlasowa antworten lässt: »Das Schicksal des Menschen ist der Mensch.«
Diese Rede entstand im Auftrag des Brechtfestival Augsburg und wurde am 10. Februar 2023 zur Eröffnung und anlässlich des Festakts zum 125. Geburtstages von Brecht in der Alevitischen Gemeinde Augsburg von Fatma Aydemir gehalten.