Nina Bußmann über die Arbeit an ihrem neuen Roman Der Mantel der Erde ist heiß und teilweise geschmolzen, Nicaragua, Geophysik und die Grenzen der Freundschaft.
Dein Buch spielt in Deutschland und Nicaragua, reicht von der Kindheit der beiden Hauptfiguren bis zur Jetzt-Zeit und ist dabei doch nur etwas über 300 Seiten dick. Wie lange hast du daran gearbeitet? Wie hast du den Überblick über den Erzählbogen behalten, und hast du viel verdichtet?
Ich musste viel wegwerfen und umstellen, jahrelang. Manchmal versuchte ich, die Zettelhaufen in ein System einzuordnen, ich nahm mir Räume vor, die die Handlung durchschreiten sollte. Ich hatte keinen Überblick.
Eine namenlose Ich-Erzählerin reist ihrer verschwundenen Freundin Nelly nach, die als Geologin in Nicaragua unterwegs war, aber ihren Beruf mehr und mehr aus den Augen verloren hat. Was ist diese Nelly wohl für ein Mensch? Wärst du gerne mit ihr befreundet?
Als Geophysikerin, genau genommen. Sie beobachtet Naturereignisse, analysiert sie aber physikalisch: Welche Eigenschaften haben die Körper, welche Kräfte wirken, wie hängt das alles in Raum und Zeit zusammen? Die anderen Fragen sind schwieriger: Was ist sie für ein Mensch? Um das herauszufinden, habe ich den Roman geschrieben. Ich wüsste nicht, ob Freundschaft möglich ist mit einer, die sich immer so entzieht. Im echten Leben würde ich mir wohl sagen: Lass das sein, das ist nicht gesund. Aber mit dem Wünschen ist es eine andere Geschichte.
Mir gefiel die Vielschichtigkeit, mit der du Nicaragua schilderst, sehr gut, insbesondere auch den romantischen Blick der Europäer, die sich zum Helfen verpflichtet fühlen, aber unter Umständen nicht immer wissen, worauf sie sich einlassen. Einmal im Buch fällt das Wort »Mitleidstourismus«. Spiegelt das auch deine Erfahrungen mit Zentralamerika wider? Und warum gerade Nicaragua?
In den 1980ern reisten Brigaden nach Nicaragua, um die Revolution zu unterstützen. Dieses internationalistische Projekt galt den meisten als erledigt, als ich selbst dort eine längere Zeit verbrachte, von 2000 bis 2001. Geht doch zur Caritas, sagte uns vor der Abreise ein ehemaliger Brigadist aus Offenbach, wenn ihr keine politische Agenda habt. Niemand von uns wollte zur Caritas. Die Vorstellungen waren diffuser.
Es gibt Stimmen aus dem Globalen Süden, die gar nicht grundsätzlich etwas gegen diese Form des Tourismus haben. Es gibt aber auch die Forderung, endlich jede Form kolonialer Einmischung zu beenden. Was haben wir dort verloren? Die Antwort ist: nichts. Es gibt inzwischen auch Jugendliche aus Zentralamerika und anderen Ländern des Südens, die als sogenannte Freiwillige nach Deutschland kommen, um zu helfen: in Kindertagesstätten, Altenheimen etc., Bedarf gibt es ja genug. Es könnten noch viel mehr kommen, theoretisch. Das Recht auf Mobilität ist ungleich verteilt, das wissen alle, die Asymmetrie ist der Skandal. Ich wollte aber im Buch keine Thesen darüber verbreiten, dass und warum das nicht in Ordnung ist. Ich bin keine Politikwissenschaftlerin. Im Roman habe ich nach Möglichkeiten gesucht, die Unbeholfenheit in kleinen konkreten Situationen zu verstehen und Erfahrungen von Instabilität zu beschreiben. Ich habe mich dann auch dagegen entschieden, von den Erfahrungen einer »Freiwilligen« zu erzählen. Nelly ist älter als die typische Freiwillige, sie hat einen Beruf, bricht auf zu einer naturwissenschaftlichen Expedition, die Erzählerin reist ihr nach. Beide kommen schnell vom Weg ab, sie haben schlecht geplant, aber sie hatten ein Forschungsvorhaben.
Wir müssen natürlich noch einmal zur Geologie kommen, der Roman hat ja den, wie ich finde, wunderschönen Titel Der Mantel der Erde ist heiß und teilweise geschmolzen, und es geht in teilweise sehr ausführlichen Exkursen um die Beschaffenheit der Erdkruste, Plattentektonik und Vulkanausbrüche, Erdbeben und Naturkatastrophen. Wie bist du auf dieses Thema gekommen?
Ich muss noch mal pedantisch sein, es geht um Geophysik! Ich wollte schon lange einen Roman darüber schreiben, seit ich ein paar Studenten begegnete, die beiläufig erwähnten, bald würden sie zur Feldforschung nach Chile reisen, in die Wüste, Sprengungen durchführen. Sprengungen? Grundlagenforschung, bekam ich zur Antwort. Später las ich nach: Man erzeugt künstliche Beben und misst die Geschwindigkeit, mit der die Wellen sich im Erdboden ausbreiten und von härteren Schichten zurückgeworfen werden. Es sind indirekte Messverfahren, erforscht werden unzugängliche Tiefenstrukturen. Materie und Prozesse unter unseren Füßen. Ich erinnere mich an den Glanz in den Augen des Doktoranden, als er mir erklärte, dass es fuzzy sets gibt, und eine Logik der Unschärfe. Unter anderem deshalb bleibe er dabei, und wegen der Schönheit mancher Elemente und Strukturen.
Dein erster Roman Große Ferien handelt von einem Lehrer, der sich in seinem Haus einigelt, und wurde von der Kritik u.a. als »Kammerspiel« bezeichnet. Auf den ersten Blick hat er mit deinem neuen Buch nichts gemeinsam. Siehst du trotzdem auch Parallelen?
Die Mantel-Erzählerin und der Lehrer haben Schwierigkeiten, voranzuschreiten und die Dinge in die Hand zu nehmen. Sie schauen zurück, die Dinge entgleiten ihnen, sie verlieren sich in nebensächlichen Details. Die Erzählerin verhält sich nachgiebiger, sie versucht gar nicht erst, die Kontrolle zu behalten. Das macht sie beweglicher, aber auch empfindlicher.