James Joyce’ Ulysses, Virginia Woolfs Mrs Dalloway, Malcolm Lowrys Unter dem Vulkan: Es gibt zahllose Romane der Weltliteratur, die an einem einzigen Tag spielen. Ähnlich, aber doch ganz anders verfahren Clara Ehrenwerth und Victor Kümel, die für ihr Medienkunstprojekt Megapixel die Stadt Hildesheim in ein großes Spielfeld verwandeln: Einen Tag lang haben drei willkürlich ausgewählte Stadtbewohner mit kleinen Kameras, die wie Broschen getragen werden und alle 30 Sekunden automatisch ein Bild schießen, ihren Alltag fotografisch protokolliert (The Circle lässt grüßen!) und das so entstandene Material an das Autorentrio Lucy Fricke, Heinz Helle und Jakob Nolte übergeben, die daraus Geschichten entwickelten. Ich treffe die beiden, natürlich sowohl analog als auch virtuell via Google Docs, zum Gespräch über transparent gemachten Alltag, Überwachung und das Erzählen im digitalen Zeitalter.
Ich stelle mir das erst mal als eine ziemliche Herausforderung vor, mit so einem riesigen Berg an Material zu arbeiten und daraus eine stringente Geschichte zu destillieren. Gab es da von eurer Seite Vorgaben an die Autoren?
Eigentlich kaum. Dieses Material ist ja sozusagen eine »Stichprobe Welt«: von drei Personen innerhalb eines bestimmten Zeitraums völlig automatisch generierte Fotografien. Die Bilder haben also eine dokumentarische, biografische Qualität – mit welchen literarischen Mitteln diesem Materialhaufen beizukommen ist, war aber völlig den AutorInnen überlassen. Es stand ihnen frei, die authentische Qualität der Bilder als dokumentarischen Auftrag zu betrachten oder auch völlig dagegen zu arbeiten, die Chronologie aufzubrechen, die abgebildeten Handlungen zu ignorieren, die Perspektive zu wechseln. Der Auftrag war also ganz offen: Was erzählt euch das und was lässt sich damit erzählen?
Wie seht ihr euer Projekt im Spannungsfeld zwischen literarischer Tradition und Medienkunst?
Natürlich gibt es berühmte Romane wie Ulysses, in denen es auch um das Geschehen an einem Tag geht. Teilweise wurden auch Vergleiche zu aktuellen Autoren wie Knausgård gezogen, der ja stark autobiographisch und protokollarisch arbeitet. Der Unterschied ist, dass hier dieses Gerät, der narrative clip, dazwischengeschaltet ist, der automatisiert einfach alles mitprotokolliert, ohne auf irgendeine Weise schöpferisch zu sein. Damit rückt das Projekt auch in die Nähe konzeptueller Literatur, etwa dem Uncreative Writing eines Kenneth Goldsmith, der in Fidget jede einzelne Bewegung protokolliert, die er in einem Zeitraum von 13 Stunden macht. Bei Megapixel interessiert uns der Versuch, beides miteinander zu verkoppeln – automatisch generierte Bilder und genuine, narrative Literatur – und als Foto-Erzählung in das Medium Video zu überführen, in dem dann vielleicht so etwas wie eine Synthese sichtbar wird.
Wie war die Reaktion der Teilnehmer, als ihr ihnen erklärt habt, was mit dem von ihnen aufgenommenen Material geschieht?
Wir haben die Teilnehmer über einen Aufruf in der Lokalzeitung gefunden – alle wussten also von Beginn an, worauf sie sich einlassen. Bei unserem ersten gemeinsamen Treffen sagte eine der Teilnehmerinnen: »Jetzt werden wir also Kunst!« Natürlich ist das ein mutiger Schritt, völlig unbekannte Menschen in die eigene Privatsphäre eindringen zu lassen, die damit im Sinne der Kunstfreiheit machen dürfen, was sie wollen. Im Gegenzug wird dieser private Alltag zur Inspiration für einen literarischen Text – die Autoren müssen damit arbeiten, was sie vorfinden. Es ist also gar nicht zu sagen, wer hier am längeren Hebel sitzt. Im besten Fall ist es für beide Seiten eine bereichernde Erfahrung.
Wie seid ihr auf die Idee gekommen, dieses Projekt gerade so und nicht anders umzusetzen?
Ausgang unserer Überlegungen waren die gerade aufkommenden technischen Gadgets, für die der narrative clip nur ein Beispiel ist, und die Frage nach ihren ästhetischen aber auch gesellschaftlichen Implikationen. Bewegungen wie Quantified Self oder Lifelogging affirmieren die (Selbst-)Überwachung als Lifestyle – wir sind aber auch insgesamt als Gesellschaft zunehmend in der Situation, dass unsere Handlungen per Default Daten generieren, die eingelesen, interpretiert und in völlig anderen Kontexten weiter verwendet werden. Dieses Phänomen wollen wir mit dem Megapixel-Projekt mit künstlerischen Mitteln untersuchen. Das heißt: Die Autoren schreiben nicht Literatur zum Thema (Selbst-)Überwachung – sie schreiben mit Hilfe einer (Selbst-)Überwachungstechnologie Literatur.
Was sind denn eure Hintergründe, die zu der Entstehung von Megapixel beigetragen haben?
Schon während unseres Studiums haben wir uns viel damit beschäftigt, wie Literatur im Zusammenspiel mit anderen Künsten und Disziplinen produktiv erweitert werden kann. Beim Literaturfestival Prosanova 2011 haben wir zum Beispiel neue Lesungsformate – man könnte auch sagen: Literaturinszenierungen – entwickelt. Seit vergangenem Jahr arbeiten wir fest als Duo zusammen und entwickeln Formate, die Literatur, Technologie und Gesellschaft in ungewohnter Weise zusammenführen.
Geht Megapixel weiter? Habt ihr schon überlegt, das Experiment auch in anderen Städten zu starten?
Ja, daran arbeiten wir gerade! Wir möchten Megapixel gerne in anderen Städten oder auch in anderen Settings durchführen, die Versuchsanordnung aber immer wieder modifizieren. Gerade flattert immer wieder das größenwahnsinnige Stichwort Megapixel Europe durch unseren WhatsApp-Chat, aber wir wissen gerade beide noch nicht, was sich dahinter verbirgt.
Beitragsfoto auf der Startseite: Megapixel Hildesheim / Susann Stefanizen