Das Kollektiv »kaboom«, bestehend aus der Literaturwissenschaftlerin Carolin Schmidt und der Szenografin Margaret Schlenkrich, macht Texte auf sinnliche Art erlebbar. Bei ihrem aktuellen Projekt »A Poem for Dinner« entwickeln vier Berliner Restaurants ein Gericht, basierend auf William Carlos Williams’ Gedicht This Is Just To Say. Den Anfang macht die Wildeküche, es folgen St. Bart, Schwarze Heidi und Kreuzberger Himmel. Jeweils einen Monat lang steht das Menü auf der Speisekarte der jeweiligen Restaurants.
Die Definition von Sünde ist ja, weiß Gott, sehr verschieden. Ich muss oft an das dämliche Google-Motto Don’t be evil denken. Immer besser, man rückt mit der Wahrheit raus, so wie William Carlos Williams. C. und ich haben uns an diesem Abend schrecklich viel zu erzählen, kriegen aber trotzdem die Begrüßungsworte mit, in denen es heißt, bei dessen Gedicht handle es sich um »die poetische Provokation einer fast perfekten Ehe«. Zu Eheleuten, die über an den Kühlschrank gepinnte Post-Its kommunizieren, fällt mir Folgendes ein: Schreibt ein Mann eine Nachricht an seine Frau: »Weckst Du mich morgen früh um sieben?«, schreibt sie darunter: »Aufstehen, es ist sieben Uhr.« Als Eheszene würde ich This Is Just To Say nicht bezeichnen. Eher als WG-Leben-Miniatur, wo es völlig normal ist, sich ungefragt am Twix-Vorrat der Mitbewohner zu bedienen. Das Schuldgefühl variiert je nach Level des Bekifftseins. Ich hörte von einem besonders strengen Charakter, der den Füllstand seiner nicht zu teilenden Apfelsaftflasche mit einem Filzstift markierte, um sehen zu können, ob jemand heimlich abgetrunken hat. Menschen!
Was ich an Williams’ Gedicht nicht verstehe: Was haben Pflaumen im Kühlschrank zu suchen und welche Art Frühstück soll sich daraus ergeben? Ich tippe auf eine Smoothie Bowl oder Kokos-Speckwaffeln mit glasierten Haselnüssen und Pflaumenrelish. Oder man hält es wie Nigel Slater, der nicht nur Englands niedlichster Kochbuchautor, sondern auch ein männliches Role Model ist. Nach dem Bügeln belohnt er sich mit einer alkoholgetränkten Feige.
Oh, König Alkohol. Als Aperitif, der gleichzeitig der erste von vier Gängen ist, gibt es Gin mit Honig, Thymian, Pflaumen und, der Karte eine extra Erwähnung wert, Eiswürfeln. Ich habe Hunger. C. und ich waren vor dem Essen schon Negroni trinken, was die Sache nicht besser macht. Mit knurrendem Magen denke ich erst an die Weisheit »Drei Bier sind auch ein Schnitzel«, dann an Marguerite Duras’ furchtbar deprimierenden Satz »Eine trinkende Frau, das ist, wie wenn ein Tier, ein Kind tränke.«
Was soll’s, sagen C. und ich uns, und leeren auch noch die beiden herrenlosen Drinks auf den Plätzen neben uns. Leben am Limit! Wenigstens in diesem Punkt hat die Bibel recht: Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Bei mir ist leider oft schon der Geist zu faul. Gilt das auch für Instant-Fleisch? Mit solchem haben wir es nämlich im Hauptgang zu tun, »Hühnchen« mit gegrillten Pflaumenspießen. Ach, wenn man doch alles im Leben einfach mit Anführungsstrichen versehen könnte, »Liebe«, »Wahrheit«, »die Pünktlichkeit der Deutschen Bahn«. Als jemand, der Fleisch aus sensorischen Gründen verweigert, möchte ich dieses »Hühnchen« nicht essen, weil es zu sehr nach Hühnchen schmeckt. Der Hunger bleibt.
Spätestens beim Nachtisch wird klar, dass sich die gedichtinterpretatorischen Fähigkeiten der Wildenküche darauf beschränken, in jedem Gang Pflaumen zu verwenden. Haben die jetzt überhaupt Saison? Ich wundere mich nur so lange über die Behauptung der Karte, der Nachtisch sei warm, bis ich auf die im Zimtparfait versteckte, »sündhaft« rote Chili beiße. Das ist »raffiniert« und ein bisschen so, als würde man die Zahnpasta der Mitbewohnerin durch Schuhcreme ersetzen.
Weil bald Weihnachten ist, hat C. mir einen Nagellack mitgebracht, der zur Rahmenfarbe meines Rennrads passt, und eine Praline aus ihrer Lieblingspâtissérie. Wir überlegen, nach dem Essen noch auszugehen, weil Ausgehen unvernünftig ist und Spaß macht, lassen es aber sein. Zu präsent ist die kürzlich zurückliegende Lektüre von Self-Care, die uns lehrte, dass der Schlaf vor Mitternacht der wertvollste sei.
Zu Hause freue ich mich über mein neues, bei Amazon bestelltes Bio-Lavendelkissenspray, obwohl es sich falsch anfühlt. Habe ich mir die Melancholie des Paketboten nur eingebildet, gibt es eine richtige Self-Care in der falschen? Schon wieder haben wir den ganzen Abend lang nicht über den Mindestlohn gesprochen. Mir fällt C.s Praline ein. Irgendein Netflix-Koch hat mal gesagt, seine Sünde sei, jeden Abend vor dem Einschlafen ein Stück Schokolade zu lutschen, ohne sich anschließend die Zähne zu putzen. Ich esse die Praline, sie schmeckt wie die Kaffeebohnen im Sambuca. Dann putze ich mir die Zähne und gehe schlafen.
»A Poem for Dinner«, Zeiten und Orte:
Wildeküche, Spreewaldplatz 5, 10999 Berlin / 14. Dezember 2018 – 16. Januar 2019
St. Bart, Graefestraße 71, 10967 Berlin / 09. Januar – 03. Februar 2019
Schwarze Heidi, Mariannenstraße 50, 10997 Berlin / 23. Januar – 13. Februar 2019
Kreuzberger Himmel, Yorckstraße 89, 10965 Berlin / 06. Februar – 03. März 2019