Viele Jahre lebte die Schriftstellerin, Essayistin und Übersetzerin Esther Kinsky in Battonya im südöstlichen Ungarn, nahe der Grenze zu Rumänien, ehe sie den Ort 2015 verließ. Für Recherchen zu einem Buchprojekt kehrte Esther Kinsky Mitte März, kurz vor der ungarischen Parlamentswahl, nach Battonya zurück. An die Logbuch-Redaktion berichtete sie in einer E-Mail die Eindrücke dieser Reise.
Ich habe indessen viele Kilometer Zugstrecken hinter mich gebracht, nach Wien, dann nach Südostungarn und zurück, und jetzt bin ich – sage und schreibe schon wieder in einer Ersatzgarnitur! – auf dem Weg zurück nach Italien. Ungarn war ein seltsames Erlebnis. Mir ist alles dort so fremd geworden, aber das Land hat sich auch verändert. Immer noch torkeln zahnlose Betrunkene mittleren Alters über die Straßen, immer noch verfallen die Häuslein vor sich hin, setzen die Obstbäume Flechten an und verschilft der kleine Fluss, und immer noch laufen die schönsten Hühner der Welt – im Ernst – und so viele verschiedene! – auf den Seitenstreifen und in Gehegen umher und picken in der Erde. Die Saisonarbeiter, die trotz der großen Kälte schon aufs Feld müssen, segeln in kunstvoller Langsamkeit auf ihren Fahrrädern nach Hause Richtung Sonnenuntergang und balancieren ihre verschiedenen Gartengeräte sehr gekonnt. Das Leben dreht sich immer noch um Geld und Fleisch und Schnaps, und in den »bürgerlicheren« Familien, wie bei meinen Gastgebern, um Ordnung. Diese letzten verbliebenen Bekannten sind nette Menschen, sehr gutmütig und hilfsbereit, aber dieser Orbán hat sich in jede Faser der Leben gefressen. Es ist ein autokratisch regiertes Land, in dem Nachrichten gefiltert und manipuliert sind und der sichtbar »Fremde« unentwegt und unablässig zum Feind gemacht wird. Die Wahlplakate – ob ultrarechts, rechts oder Mitte (links existiert nicht mehr) – kreisen mit ihren Slogans nur um das Ungarische, eine ganz aufs Nationale ausgerichtete Rhetorik, als gäbe es nichts außerhalb. Ich habe aber auch das Gefühl, dass viele Menschen solche Angst vor dem anderen überhaupt haben, einer Welt in der, in ihren Worten, »Männer keine Männer mehr sind und Frauen keine Frauen«. Boys will be boys, hieß es früher mit einer wegwerfenden Handbewegung, wenn sich ein Junge etwas gewalttätig an einem Mädchen vergangen hatte, das eben nicht in so kurzem Rock hätte gehen dürfen. So denken viele dort, fürchte ich, erst recht, wenn sie keine Töchter haben, und dass das in Frage gestellt werden soll, macht ihnen Angst. Gruselig.
Das Kino war ein ziemlicher Trümmerhaufen, hätte ich das gewusst, wäre ich vielleicht nicht hingefahren. Der Besitzer, der im letzten Jahr an Covid gestorben ist, hatte kurz vor seiner Erkrankung begonnen zu »renovieren«, was für ihn wohl in der Tilgung aller Spuren bestand, die an das Leben dieses Gebäudes als Kino erinnerten. Der wunderbare Schriftzug von der Fassade war abmontiert, die Gestaltung des Saals zunichtegemacht, Decke und ein Teil der Wand waren, ähnlich wie im Gartenbaukino in Wien, ursprünglich in Pastellfarben mit geometrischen Mustern bemalt. Die Sessel standen aus ihren Verankerungen gerissen wie eine verängstigte Schar kleiner seltsamer Tierchen in der Mitte des Saals.
Die Reise war ziemlich anstrengend, auf der Hinfahrt, am Morgen in Budapest, merkte man wenig von Flüchtlingen, aber am Nachmittag, als ich zurückfuhr, kam ein völlig überfüllter Zug aus Rumänien an, dessen Passagiere vor allem in den Zug nach Wien umstiegen, den ich auch nehmen musste. Diese Flüchtlinge waren zum größten Teil ganz anders als die Frauen und Kinder, die durch Berlin kamen. Sehr elegante Mädchen, eine saß über den Gang neben mir und redete weinend am Telefon mit ihrem Liebsten, der auf dem Bildschirm des Telefons in Soldatenmontur zu sehen war. Sie weinte aus ihren geschminkten Augen und tupfte sich dann sehr sorgsam wieder sauber. Sie saß ganz still in ihren feinen Kleidern und mit ihrer Chanel-Tasche, alles in makellosem Beige, sie wirkte so einsam. Aber es waren auch vielköpfige Familien da, die nach Rom aussahen, allerdings trugen die Frauen die Haare im Nacken zusammengebunden in einem Kopftuch wie ein »Shejtl«, diese traditionelle Kopfbedeckung jüdischer Frauen, aber sie waren sicher nicht jüdisch. Sie sprachen ein ganz kehliges Russisch, von dem ich auch manche Wörter nicht verstand. Auch diese Frauen waren glamourös gekleidet, schwarz und golden, aber es war eher dieser Straßenmarktglamour, made in China, der abfuselt und im Gegensatz zum Glanz einer Chanel-Tasche in verlöschenden Goldflöckchen zu Boden sinkt. Sie waren laut und fröhlich und in Begleitung junger und älterer Ehemänner, obwohl Männer ja gar nicht aus dem Land dürfen. Vielleicht mischen sich auch schlaue Moldawier und Transnistrier unter die Menge, sollen sie, was macht das schon, ich kanns keinem verdenken, dass man aus dieser Zone fliehen will. Diese Familien hatten auch Unmengen von Gepäck, riesige Koffer und Taschen und Pakete.
In Ungarn gibt es überhaupt keine Restriktionen bezüglich Covid mehr, die Menschen dort unten in Südostungarn meinen auch tatsächlich, die Pandemie sei vorüber, obwohl allenthalben geschnaubt und geschnäuzt und gehustet und sogar geröchelt wird, je nach Hemmungsgrad, das alles in den kleinen und ohnehin ziemlich schmutzigen Abteilen (in den Südosten fahren keine Großraumwagen), und ich denke, in Anlehnung an Rilkes Herbstgedicht: Wer jetzt kein Covid hat, kriegt keines mehr. (Unterdessen unterhalten sich zwei Passagiere im Waggon über die Schweregrade ihrer kürzlich überstandenen Covidinfektionen, trotz Impfung, muss man gar nicht mehr dazu sagen.) Diese Pandemie hat in Ungarn das Gesundheitssystem wirklich zusammenbrechen lassen, das beste Krankenhaus der Gegend ist kaum noch funktionsfähig, so viel Personal ist dauerkrank oder gestorben oder hat die Flucht aus diesem Beruf ergriffen. Ach ja. Pest und Krieg gehn Hand in Hand.