Vor zwei Wochen bin ich mit dem letzten Zug, der noch von Österreich nach Italien ging, nach Hause gekommen, seitdem sitze ich hier in einer ehrlich gesagt ganz angenehmen Isolierung. Ich bin eigentlich gerne allein. Das Einzige, was ich nicht gerne mache, ist alleine essen und immer bloß für mich kochen. Aber jetzt geht es nicht anders. Die Katzen sind ja übrigens auch noch da. (Sie mögen aber nicht, was ich koche, und haben auch keine angenehmen Tischmanieren.) Es sind in der Tat drei Kater, zwei graue, ein schwarzer, letzterer möchte aber, glaube ich, lieber eine Katze sein und benimmt sich auch so, sehr seltsam, sogar die Tierärztin wollte anfangs nicht glauben, dass es ein Kater ist. Sie sind, glaube ich, sehr froh, dass die Koffer derzeit auf dem Dachboden bleiben. Sie haben im Augenblick einen großen Feind, der sie auf Trab hält, einen sagenhaft großen Kater namens Romeo, der das mythical beast dieses Teils des Dorfes ist. Romeo ist neun Monate des Jahres unsichtbar, und dann ist er drei Monate überall. Er inkubiert sich selbst, sozusagen. Kürzlich saß er draußen vor dem Badezimmerfenster im Dunkeln, auf dem ersten Stock. Erst recht noch während dieser corona-stretta erwartet man da keinen Besuch und ist nicht auf »das Andere« vorm Badezimmerfenster gefasst, ich hielt es beim ersten flüchtigen Hinschauen für mein Spiegelbild, und dann habe ich mich erschreckt.
Die erste Clematis blüht. Ganz weiß. Das frische Laub ist rötlich und wird erst später dunkelgrün. Hellblaue kleine Schmetterlinge suchen die Blüten auf, solche Schmetterlinge gab es auch in Olevano im März.
Jeden Tag gibt es ein neues Dekret, neue Regeln, ein neues Formular der »autocertificazione« zum Herunterladen. Die Dekrete kommen immer am späten Nachmittag heraus. Kurz darauf fährt ein Auto mit Lautsprecher durch die Straßen, zwei Männer der Protezione Civile sitzen darin, sie fahren ganz langsam, und aus dem Lautsprecher tönt eine Frauenstimme, die mich immer stutzen lässt, wenn ich den Wagen sehe, weil ich mich unwillkürlich frage, wo die Frau versteckt ist, die verkündet, dass es ein neues Dekret gibt. Manchmal erklärt sie auch den wesentlichen Inhalt der neuen Bestimmungen: zum Beispiel, dass die Geschäfte sonntags geschlossen sind, dass man nur einzeln in ein Geschäft kann, dass Kinder nicht mehr auf der Straße spielen dürfen. Ich wohne so weit von der Straße, dass ich den Inhalt der Durchsage nicht verstehen kann, aber ich lese ja die Zeitung. Nur dieser Klang, gelegentlich – sehr passend – untermalt vom einsamen Sterbeglöcklein (ja, Trakl), der wird sich mir einprägen, sich ins Archiv der italienischen Lautsprecherdurchsagen in meinem Kopf finden. Seit Freitag darf man sogar nicht mehr spazieren gehen, auch nicht allein. Die Leute sind so hilflos in ihrem Kampf gegen diese Krankheit. Was in der Lombardei geschieht, ist wirklich erschütternd, und niemand hat eine richtige Erklärung dafür. Man kann nur hoffen. Jeden Abend zwischen 18 und 19 Uhr werden die Statistiken des Tages veröffentlicht, wenn die Amseln am schönsten singen, jedenfalls bis zur Umstellung auf Sommerzeit, dann werden zur Statistikstunde noch die Singdrosseln in Aktion sein, die Amseln noch die Gurgel pflegen für den Dämmerauftritt. Diese abendliche Statistik ist eine Nachricht, die ich mir zumute, ansonsten nicht mehr viel, denn es gibt ja auch nicht viel anderes. Es ist, als hätte man all den Kummer der Welt, all diese Ungerechtigkeiten, Kriege, die furchtbare Situation der Flüchtlinge schlafen gelegt. Oder in Quarantäne geschickt. Jeder horcht bloß noch in die eigene Brust, aber nicht auf Herzensregungen, sondern ob vielleicht schon Corona kratzt.
Hier in Italien gehen wir jetzt in die dritte Woche lockdown. Die vierte Woche ohne Schule für die Kinder. Die Nerven fransen sichtlich aus, obwohl alles noch sehr friedlich-fröhlich-höflich zugeht. Die meisten Menschen haben ja auch Gärten. Ein wenig machen sich jetzt auch Versorgungslücken bemerkbar, aber die sind sehr anders als in Nordeuropa. Was in meinem hiesigen Coop abgeräumt wird, sind Wein (vor allem die preiswerten Sorten), Kartoffelchips (die Italiener machen die besten Kartoffelchips der Welt!) und diese bombastischen, riesigen Schokoladenostereier. Letztere wurden schon zweimal nachgeliefert, dann kann man sich in dem verhältnismäßig kleinen Supermarkt kaum bewegen, aber – nach zwei Tagen waren sie verkauft. Ich wollte eigentlich ein Foto der unberührt und ungerührt vor sich hindämmernden Türme mit Toilettenpapier machen, aber das habe ich dann doch gelassen, sonst kommen die Deutschen mit Drohnen.
Ich hänge Euch ein Foto an von meinem neuesten Oeuvre – meinem ersten selbstgenähten Mundschutz! Ich bin hier die Einzige im Dorf »ohne« und trau mich kaum noch aus dem Haus, so nackt. Jetzt habe ich dieses Modell entworfen und genäht, eigentlich als Geschenk für eine englische Freundin in Udine, die morgen fünfzig wird und sehr traurig ihre Feier absagen musste. Aber angesichts der Weltlage könnte ich das ausbauen, ich habe noch so viele schöne Stoffreste. Sie ist so gemacht (mit unsichtbarem Druckknopf!), dass man drinnen eine Zellstoffeinlage auswechseln kann. Und waschen kann man das ganze Stück natürlich auch!
Mit der Zeit, allein, ohne Gesprächsgegenüber, ohne einen außerhalb des eigenen Gehäuses befindlichen Resonanzboden für Ängstlichkeiten, Traurigkeiten, überhaupt Gedanken, verfalle auch ich ins Lauern auf »sintomi«. (Meine Nachbarin mit ihrem weißen Pudel ruft mir immer zu, ich solle nur sofort anrufen, sobald ich »sintomi« habe.) Ein Horchen auf alles im Körper, ein schrecklicher Zustand. Ganz am Anfang dieser seltsamen Zeit hier, vor drei Wochen, war ich etwas panisch (abgeschnitten von aller Familie!) und hatte diese Horchattacken, alles wurde plötzlich verdächtig. Das kehrt jetzt wieder, selten, aber unangenehm. Niemand ist da, der sagen würde: Stell dich nicht an, deine Stirn ist eiskalt! Und zwar OHNE eines dieser Fieberschießeisen zu brauchen, wie sie die Grenzer in Tarvisio in den Taschen trugen, am 10. März, im letzten Zug Richtung Venezia. Gegenstände, die ich früher für verworfene Requisitenmodelle aus einer Star-Wars-Mottenkiste gehalten hätte.
Es ist kalt heute, nieselig und kalt, und tagsüber sah man an den Bergen, wie tief die Schneegrenze gefallen war. Heute morgen hat Nadja wie jeden Tag aus ihrem »Virus Retreat« angerufen und gesagt: »We woke up to a blanket of snow«, und einen Augenblick lang musste ich in meinem isolationsgeschädigten Kopf das Denken wieder geradebiegen und mir klarmachen, dass sie und die Kinder nicht unter einer tatsächlichen weißen Decke aus weichem Schnee aufgewacht waren. So ist das in der Einsamkeit. Winterreise als Dauerzustand. Aber ohne Gehen. Fast ohne. Wegen des schlechten Wetters habe ich heute in der Tat wieder einen Spaziergang gewagt, ich glaube nicht, dass man es bei kaltem Nieselregen für möglich hält, dass jemand freiwillig spazieren geht. Und es kreuzte auch keine Polizeistreife meinen Weg. Ich habe ein Paradies an Sclopit entdeckt, das ist noch unerblühtes Leimkraut, die hellen grünen Blätter sind das friulanische Nationalgericht schlechthin im Frühling, Polenta verde und Risotto mit Sclopit. Vielleicht kann ich eines morgens mal etwas ernten, ganz früh. Heute hatte ich keine Lust. Das Alleine-Kochen, Alleine-Essen ermüdet mich so. Ich habe ja normalerweise sehr viel Besuch.
Was mir allerdings bei dem Spaziergang aufgefallen ist, war diese unglaubliche Stille. Man sieht auch mehr Vögel als sonst. Sogar die sonst verborgenen kleinen Heckenbewohner trauen sich hinaus. Die Menschen haben immer mehr Angst, die Vögel immer weniger. Die Abwesenheit des Verkehrs empfinde ich als etwas Zauberhaftes. Es ist auch ein wenig unheimlich, aber man sieht ja Zeichen von Leben, an einem so kalten Tag kommt Rauch aus den Schornsteinen, es riecht nach Essen. Und an warmen, hellen Tagen machen sich die Menschen schon bemerkbar mit Rasenmähern und Sägen und dergleichen.
Das Wochenende war sehr warm und schön, ich habe viel im Garten gearbeitet, auch, wie jeden Tag, viele Briefe geschrieben, Gedichte gelesen. Endlich hört man seit ein paar Tagen wieder Kinder draußen spielen. Einer meiner Nachbarn gewährt offenbar einer jungen Familie, die sicher in einer Wohnung ohne Garten lebt, gelegentlich Zugang zu seinem verwahrlosten Stück Land. Der Garten ist nicht viel mehr als ein von zwei bedrohlichen Doggen, die dort dreimal täglich zum Gehorsam kommandiert werden, verwüstetes Stück blanker Erde, aber am Rand wachsen noch ein paar Grasbüschel, und derzeit blüht ein wilder Birnbaum sehr schön. Beim ersten Mal brachte die eingeladene Mutter mit den beiden kleinen Kindern – vielleicht sechs und drei Jahre alt – einen Spielzeuggrill aus Plastik mit, den sie auf der nackten Erde platzierte, dann forderte sie die Kinder auf, Grillen zu spielen. Es klappte nicht gut, die Kinder wollten nur auf diesem blankgewetzten Boden herumrennen, und ab und zu stießen sie spitze Freudenschreie aus. Die Mutter klappte den Grill wieder zusammen (in den ersten Wochen der Ausgangssperre gingen so viele Strafzettel an Eltern, die verzweifelt etwas für ihre eingesperrten Kinder kaufen wollten, und beim Anblick dieses völlig nutzlosen Gegenstands habe ich mich gefragt, ob der auch zu den Dingen gehörte, für die sich ein Elternteil einen Strafzettel eingehandelt hatte, weil der Erwerb eines Spielzeuggrills nicht zu den triftigen Gründen für ein Verlassen der Heimatgemeinde zählt), und dann pflückte sie die kleinen blauen Blumen, die zwischen den Grasbüscheln am Rand wachsen. Der Vater kam auch noch dazu und rief schon von weitem: Ach, ihr seid schon fertig mit Grillen?! Inzwischen macht die Mutter Lesestunden im Garten mit dem älteren, während das kleine Kind im Kreis läuft und ein Pferd ist. Ein Pferdchen.
Jetzt ist die Woche vor Ostern. Es ist sehr warm, sehr hell. Morgens ein leichter Dunst über dem Tagliamento, dahinter die Berge, erkennbar an den glänzenden weißen Schneefeldern, die über dem Dunstband schweben. Der Tagliamento fühlt sich so fern an – sonst eine kleine Fahrradtour entfernt, jetzt unerreichbar, weil meine Sehnsucht nach dem Fluss auch kein triftiger Grund für die »autocertificazione« ist. Für diese Woche sind besonders häufige und strenge Kontrollen angesagt, die Strafen sind auch noch einmal erhöht worden. (Kürzlich musste ein Vater 400 Euro Strafe zahlen, weil er seine vierjährige Tochter mit auf den Hundespaziergang im Park genommen hatte!) Irgendwo hinter dem unbewohnten Nachbarhaus wohnt jetzt ein Trauerschnäpper. Manchmal zwitschert er mir zu, vom Dach, er hat eine schöne Stimme, kann man nicht von jedem Trauerschnäpper sagen. Er legt sich mit den Tauben an, dem Gesindel, das sich im Dachboden der verlassenen Scheune angesiedelt hat.
Die Nächte sind schon fast warm, jedenfalls muss ich kein Feuer mehr im Herd machen, eine Erleichterung. Zuletzt bekam ich Maulbeerholz geliefert, es splittert so, die Splitter (Schiefer!) dringen unter die Haut. Das Holz verbrennt zu einer staubigen, stumpfgrauen Asche, die mich aus unerfindlichen Gründen immer traurig stimmt, wenn ich sie am Morgen in den Ascheeimer leere.
Die Abende sind so berückend schön, und ich kann sie mit niemandem teilen! Der Mond ist fast voll (aber noch blass am Sonnenuntergangshimmel), und vor meinem Haus – die Vorderseite geht nach Süden – blühen schon die Nachtviolen und verbreiten nach Sonnenuntergang einen so unglaublichen Duft. Ich hatte auch in Ungarn immer Nachtviolen vor meinem Haus, aber da ging die Vorderseite nach Osten, und sie bekamen nicht so viel Sonne wie hier, die Blüten waren blasser und der Duft weniger stark, aber ich liebe den ungarischen Namen sehr: Estike, das ist ein zärtlicher Diminutiv von Abend: lauter kleine Abendlein, die dort blassrosa nachts ihren Duft in mein Schlafzimmer trugen, ungeachtet der Randale in der Kneipe an der Ecke, gut 100 Meter weiter. Manchmal schwappte die Randale auch auf die Höhe meines Hauses, aber daran konnte man sich gewöhnen. Das waren noch Zeiten, als sich der Nachtviolenduft in Ungarn mit Randale mischte.
Mein alter Nachbar, der mir fast jeden Tag zuruft: »La vita è bella!«, wenn er mich im Garten arbeiten sieht, trägt jetzt den Schal des Udineser Fußballclubs bei der Gartenarbeit. Zum Schutz gegen das Virus, hat er mir versichert.
Aus unbekannten Gründen höre ich wieder mehr Autos auf der Dorfstraße, und – wer hätte das gedacht – es erleichtert mich, es ist ein kleines Winken aus der Zukunft, aus dieser sagenhaften Zeit »danach«, die uns erwartet.
Im März 2020 ist Esther Kinskys neuer Gedichtband, Schiefern erschienen. Eine Online-Lesung der Autorin aus diesem Band finden Sie hier.
Marie Luise Knott hat die Gedichte in ihrer Lyrik-Kolumne Tagtigall für den Perlentaucher besprochen.