Die Schriftstellerin Erika Fatland im Interview mit ihrem Übersetzer Ulrich Sonnenberg
Ulrich Sonnenberg: Die Länder, die Du bereist hast, sind Staaten, von denen wir wenig oder gar nichts wissen – und von denen wir bisher vielleicht auch nicht wirklich etwas wissen wollten. Wie bist Du überhaupt auf die Idee gekommen, ausgerechnet Turkmenistan, Kasachstan, Tadschikistan, Kirgisistan und Usbekistan zu bereisen?
Erika Fatland: Die kurze Antwort lautet: Neugierde. Wie viele andere wusste auch ich nur wenig über diese Länder – in Norwegen nennen wir sie gern ›Weitwegistan‹. Ich hatte als Rucksacktouristin und Sprachstudentin vor allem Indien und Mittelamerika bereist und war es leid, immer wieder die gleichen Typen mit Lonely Planet in der Hand zu treffen, überall. Ich wollte eine Region bereisen, die jungfräulicher war. Turkmenistan war in dieser Hinsicht ideal. Es ist das am wenigsten besuchte Land der Welt.
Die etwas längere Antwort lautet, dass ich die ehemalige Sowjetunion mehrfach besucht hatte und seit mehr als zehn Jahren fasziniert davon war. Es begann mit einem Besuch in St. Petersburg, als ich in Helsinki noch aufs Gymnasium ging. Die Busreise über die Grenze war nicht lang, aber es war, als käme man in eine andere Welt. Sie war häßlich und schön, erschreckend und faszinierend zugleich. Für uns Norweger ist Russland ein Nachbarland, und gleichzeitig ist es ein Land, das den meisten von uns fremd ist. Vieles ist bekannt – Dostojewskis Romane oder Schostakowitschs Sinfonien –, aber die kulturellen Unterschiede sind dennoch groß. Allein die Tatsache, dass Russen bei Dienstleistungen nicht lächeln, erleben wir oft genug als merkwürdig. Für Russen hingegen ist es vollkommen normal, im Gegenteil, es wird als unhöflich angesehen zu lächeln, wenn es keinen vernünftigen Anlass dazu gibt. Als ich von St. Petersburg nach Hause kam, habe ich beschlossen, nie wieder dorthin zu fahren. Eine Woche später kaufte ich mir eine Einführung in die russische Sprache. Und einige Jahre später fuhr ich nach Beslan in Nord-Ossetien im Nord-Kaukasus, um für meine Magisterarbeit in Sozialanthropologie zu forschen, welche die Nachwirkungen des Terrorangriffs im Jahr 2004 auf die dortige Mittelschule Nr. 1 zum Thema hatte, bei dem 331 Menschen, zum größten Teil Kinder, ihr Leben verloren. Es wurde dann mein erstes Sachbuch: Ort der Engel. Die Tragödie von Beslan und ihre Folgen.
Der erste Fehler, den ich beging, war, die Menschen, denen ich dort begegnete, als »Russen« anzureden. Denn obwohl sie Russisch sprachen, waren sie keine Russen, sondern Osseten. Im Kaukasus wurde mir erst wirklich klar – für den einen oder anderen vielleicht eine banale Einsicht –, dass Russland und die ehemalige Sowjetunion nicht nur aus Russen bestanden, sondern aus vielen verschiedenen Völkern und Kulturen.
Im Laufe der Zeit interessierte ich mich dann immer mehr für die Randzonen der Sowjetunion. Die Völker in Zentralasien waren zweifellos unter allen Nationalitäten der Sowjetunion diejenigen, die sich am meisten von den Russen und der russischen Kultur unterschieden – es waren Moslems, viele waren Nomaden, die Gesellschaft war in Klane organisiert und es gab keine wirkliche Staatenbildung. Das Leben dieser Völker war nach der russischen Okkupation in wenigen Jahren auf den Kopf gestellt worden. Sie wurden in einem rekordverdächtigen Tempo in die Moderne versetzt, sie wurden gezwungen, ihre nomadische Lebensweise aufzugeben und in feste Wohnungen zu ziehen, die Frauen mussten am Arbeitsleben teilnehmen, überall wurden Moscheen geschlossen. Was aber kam auf der anderen Seite dabei heraus? Heute besteht das ehemalige Turkestan aus fünf verschiedenen Staaten. Gemein haben sie, dass alle ein Teil der ehemaligen Sowjetunion waren und die Namen dieser Länder auf »stan« enden. Daher der Titel meines Buches: Sowjetistan.
Ulrich Sonnenberg: Wie hast Du Dich auf Deine Reise vorbereitet, wie hast Du im Vorfeld recherchiert? Und wie bist Du vor Ort an Deine Gesprächspartner gekommen? Inwieweit durftest Du Dich – als Frau – überhaupt frei bewegen?
Erika Fatland: Um ehrlich zu sein: Ich habe mich nicht sonderlich auf die Reise vorbereitet. Natürlich habe ich mir die notwendigen Visa beschafft, und mir selbstverständlich Gedanken gemacht, welche Orte ich besuchen, welche Themen ich aufgreifen und mit wem ich reden will. Aber für mich war es entscheidend, diese Länder ganz offen zu bereisen, so unvoreingenommen wie möglich, und mit der Option, unterwegs zu improvisieren. Die Menschen in Zentralasien sind gut darin, also musste ich es auch sein.
Mit Ausnahme von Kirgisistan sind alle postsowjetischen Staaten in Zentralasien autoritäre Regime. Turkmenistan und Usbekistan gehören zu den schlimmsten Diktaturen weltweit. Dort durfte ich nicht auffallen und habe mich deshalb als reisende Studentin ausgegeben. Dadurch konnte ich allerdings keine Interviews führen, alle Begegnungen passierten mehr oder weniger zufällig. In Turkmenistan sprach ich kaum mit jemand anderem als meinen Guides und Fahrern – wenn man sich länger als vier Tage im Land aufhält, braucht man einen Guide –, glücklicherweise waren sie sehr verschieden, einige von ihnen standen dem Regime sogar überraschend kritisch gegenüber.
Ansonsten gehört Zentralasien vermutlich zu den sichersten Reisegebieten der Erde, wenn man als Frau allein unterwegs ist. Die Leute fanden es allerdings seltsam, dass ich ohne Begleitung unterwegs war, dass ich fast dreißig Jahre alt war und noch keine Kinder hatte, beziehungsweise, dass mein Lebensgefährte (der bei diesen Gelegenheiten immer ein Upgrade zum Ehemann erfuhr) mir die Erlaubnis zu dieser Reise gegeben hatte. Aber abgesehen von diesen verwunderten Fragen gab es nicht eine unangenehme Situation. Diese autoritären Länder und Diktaturen sind generell sicher für Touristen. Überall gibt es Polizei, und für den Löwenanteil an Kriminalität sind der Präsident und seine nächsten Angehörigen verantwortlich.
Ulrich Sonnenberg: In einem der unglaublichsten Kapitel schilderst Du die Erfahrungen von Frauen in Kirgisistan, die regelrecht gekidnappt und dann zwangsverheiratet werden. Entspricht dies tatsächlich dem Frauenbild in diesen Ländern? Welche Anzeichen der Emanzipation gibt es?
Erika Fatland: Es ist paradox. Kirgisistan ist das einzige dieser Länder, das demokratisch und einigermaßen liberal ist, gleichzeitig aber auch das Land, in dem die Frauen die geringsten Freiheiten haben. Die Tradition des Brautraubs breitete sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion mehr und mehr aus, und obwohl es theoretisch verboten ist, wird davon ausgegangen, dass ein Drittel aller kirgisischen Frauen geraubt oder gekidnappt und zur Heirat mit dem Kidnapper gezwungen wurden. Nur sehr wenige Täter werden bestraft.
Zentralasien ist also keineswegs eine Hochburg der Gleichberechtigung, aber generell sind Frauen freier als in vielen anderen muslimischen Ländern. Traditionell mussten usbekische Frauen zum Beispiel den Kopf bedecken und durften das Haus nicht allein verlassen. Das Sowjetregime zwang sie, auf das Tuch zu verzichten, und sorgte dafür, dass auch Mädchen zur Schule gingen, außerdem wurden Frauen in den Arbeitsprozess integriert. Heute ist es üblich, dass Frauen, vor allem in den Städten, ausgesprochen gebildet sind und arbeiten gehen.
Ulrich Sonnenberg: In der Sowjetzeit hatten es die Menschen in den von Dir bereisten Ländern aber auch nicht leicht: Unter Stalin kam es zu Deportationen, und die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft hatte Hungersnöte zur Folge. In Kasachstan lagen das zweitgrößte Zwangsarbeitslager und ein geheimes Atomwaffentestgelände – an den Folgen der Strahlung leidet die Bevölkerung der Region noch immer. Inwiefern empfinden die Menschen dort den Zusammenbruch der alten Sowjetunion eigentlich als Befreiung?
Erika Fatland: Im Gegensatz zum Kaukasus und dem Baltikum gab es in Zentralasien keine sonderlich großen und erklärten Wünsche nach einer Loslösung von der Sowjetunion. Viele der schlimmsten Katastrophen wie die Hungersnot in Kasachstan, bei der ein Viertel der Bevölkerung umkam, fanden in den Anfängen der Sowjetzeit statt. Die letzten Jahrzehnte vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion waren relativ stabil, die Menschen erlebten überall einen wachsenden Wohlstand. Obwohl das Sowjetregime viel Negatives hervorbrachte, gab es aber auch viele positive Entwicklungen: Vor 1920 konnte so gut wie niemand in Zentralasien lesen und schreiben, heute ist der Analphabetismus so gut wie ausgerottet. Die Infrastruktur, das Gesundheitssystem, das Schulsystem – all dies entstand während der Sowjetzeit. Auch die politischen Eliten stammen aus der Zeit der Sowjets, und daher ist es vielleicht nicht so merkwürdig, dass viele Menschen dort eigentlich keine Veränderung wollten.
Ulrich Sonnenberg: Du beschreibst beinahe alle diese Länder als dysfunktionale Staaten mit mehr oder weniger grotesken Diktatoren und einer Korruption, die wir uns kaum vorstellen können. Haben diese Länder auf lange Sicht überhaupt eine Überlebenschance als selbstständige Staaten oder werden es nach und nach wieder Vasallen Russlands?
Erika Fatland: Eine interessante Frage. Vor allem Kirgisistan und Tadschikistan, die ärmsten der Stan-Länder, aber auch Usbekistan sind wirtschaftlich abhängig von Russland. Mehrere Millionen Zentralasiaten verdienen das Geld für sich und ihre Familien als Arbeitsemigranten in Russland. Tadschikistan ist das Land auf der Welt, das am meisten von dem Geld abhängig ist, das die Arbeitsmigranten nach Hause schicken – vor der Krise war es die Hälfte des Bruttosozialprodukts. Der wirtschaftliche Niedergang Russlands trifft diese armen zentralasiatischen Länder am härtesten. Auch Kasachstan ist abhängig von guten Beziehungen zu Russland: Die russisch-kasachische Grenze ist neben der Grenze zwischen den USA und Kanada die längste Grenze der Welt. Außerdem sind noch immer 20 % der Einwohner des Landes ethnische Russen.
China investiert im Übrigen derzeit gewaltig in der Region, nicht zuletzt durch den Ausbau der neuen Seidenstraße, daher spielt sich momentan ein Kampf zwischen Russland und China um Macht und Einfluss in Zentralasien ab.
Ulrich Sonnenberg: Aufgrund der vielen ganz persönlichen Begegnungen, von denen Du in Sowjetistan erzählst, habe ich den Eindruck, dass Dich letztlich die Menschen vor Ort am meisten fasziniert haben. Stimmt das?
Erika Fatland: Die Natur Zentralasiens ist auch eine Reise wert – über 90 % von Tadschikistan sind zum Beispiel Berge. Aber es stimmt, dass mich vor allem die Menschen beeindruckt haben. Die zentralasiatischen Völker sind bekannt für ihre Gastfreundschaft, und sie sind offen und neugierig. Überall, wo ich hinkam, wurde ich herzlich empfangen, und am Ende hatte ich den Überblick verloren, an wie vielen Hochzeiten ich eigentlich teilgenommen hatte.
Das Interview wurde geführt und übersetzt von Ulrich Sonnenberg.