Vor fünf Jahren hatte ich einen Traum. Ich träumte, dass ich auf einer großen Landkarte von Land zu Land ging, aber nördlich des roten Strichs war es immer dasselbe Land: Russland.
Als ich aufwachte, hatte ich einen Plan für die kommenden Jahre und das nächste Buch: Ich beschloss, einmal rund um das größte Land der Welt zu reisen, von Nordkorea nach Nordnorwegen. Was heißt es eigentlich, Russland als Nachbarn zu haben? Wir Norweger wissen ein wenig, wie das ist, aber Russland hat viele Nachbarländer. Auf dem Weg entlang der russischen Grenze von Pjöngjang bis in die Finnmark – eine Reise, die insgesamt zweihundertneunundfünfzig Tage dauerte – überquerte ich selbst fünfzehn Landesgrenzen.
Eine Grenze zu überqueren, gehört zu den faszinierendsten Erlebnissen überhaupt, und manchmal auch zu den erschreckendsten. Du bist in der Hand des Grenzpostens, und wenn du richtig Pech hast, hat er viel Zeit. Der nordkoreanische Grenzbeamte, zum Beispiel, hatte alle Zeit der Welt. Geduldig sah er sich jedes einzelne meiner Fotos an und löschte die Bilder, die keinen vorteilhaften Eindruck seines Landes lieferten. Es waren ziemlich viele. Als ich endlich den Ausreise-Stempel in meinen Pass bekam, empfand ich vor allem ein Gefühl der Erleichterung. Als Teil einer Gruppe mit ausländischen Touristen hatte ich in dem totalitären Regime keine Not gelitten, sogar Coca-Cola wurde aufgetrieben, aber auch wir spürten die Unfreiheit, die Paranoia und die totale Kontrolle.
Verglichen mit dem durchkontrollierten und paranoiden nordkoreanischen Regime, erschien mir China als eine Hochburg der Freiheit. Ich hatte das Gefühl, als würden die Neonlichter mich willkommen heißen. Endlich etwas Bekanntes, etwas Heimeliges, etwas zum Anfassen! Nun ja, Facebook und Twitter waren zwar auch hier blockiert, aber ich hatte wenigstens Internet und ein Telefonnetz. Ich wurde aufs Neue zu einem Teil der Welt und konnte mich bewegen, ohne auf Schritt und Tritt von nervösen Wächtern verfolgt zu werden.
Die wenigsten Nordkoreaner sind jemals außerhalb ihres Heimatlandes gewesen. Diejenigen, denen es gelingt, die Grenze illegal zu überqueren, werden von der chinesischen Polizei routinemäßig zurückgeschickt, wenn sie erwischt werden. In Nordkorea erwarten sie dann Folter und ein Aufenthalt im Gefängnis oder im Arbeitslager. Man flieht nicht ungestraft aus dem besten Land der Welt.
Überquert man eine Grenze, ist die geographische Veränderung unbedeutend, es geht um wenige Meter, aber mental und kulturell sind die Kontraste hin und wieder so groß, dass man sich ebenso gut in eine Zeitmaschine hätte setzen können. Auch die sprachliche Barriere kann brutal sein. Abseits der üblichen Verkehrswege war ich in Nordchina eine sprachlose Analphabetin.
Jahrelang habe ich die Universität von Oslo als Ressource für Gratis-Sprachkurse genutzt. Es hat sich herausgestellt, dass der konkrete Wortschatz und die grammatikalischen Regeln, die ich in den unterschiedlichsten Sprachen gelernt habe, weitaus nützlicher sind als alle sozialanthropologischen Theorien der Welt. Wenn du dich nicht mit den Menschen unterhalten kannst, kannst du auch ihre Welt nicht verstehen. Das Problem ist nur, dass es auf der Welt annähernd siebentausend Sprachen gibt, doch hier in China konnte ich die einzige Sprache nicht, auf die es ankam. Ich hatte durchaus versucht, einige Überlebensphrasen zu lernen, bevor ich aufbrach, kam aber nicht weiter als bis zu den elementarsten Lauten. Drei Wochen lang reiste ich daher mit kleinen Zetteln durchs Land, an die ich mich wie an Rettungsringe klammerte – und im Großen und Ganzen landete ich auch dort, wohin ich wollte, allerdings nicht immer. Schon in einen Supermarkt zu gehen, war eine Herausforderung. Wie sollte ich wissen, ob ich Shampoo oder Hautcreme kaufte? Das Schlimmste war natürlich, dass die sprachliche Barriere ein Gespräch mit den Menschen verhinderte.
Eine Reise ist genau so groß und abenteuerlich wie die Menschen, die man unterwegs trifft.
Eine der erinnerungswürdigsten Begegnungen fand unter Bewachung von bewaffneten georgischen Soldaten an der Grenze zu einem Land statt, das es nicht gibt.
Große blaue Schilder verkündeten auf Russisch, Georgisch und sogar auf Englisch, dass wir uns an der südossetischen Grenze befanden. In der Ferne sahen wir die Betonbauten von Zchinwali, der Hauptstadt Südossetiens, einer der drei abtrünnigen Republiken im Südkaukasus. Auf der anderen Seite eines Stacheldrahtzauns käute eine Kuh bedächtig wieder, ein paar Meter weiter stand ein großes Haus. Ein alter Mann in schmutziger, einfacher Arbeitskleidung bemerkte uns und kam an den Zaun.
Ich war ihm noch nie begegnet, wusste aber, dass es sich um Dato Vanischwili handeln musste, den Mann, den wir kennenlernen wollten.
»Ihr habt zehn Minuten«, erklärte uns einer der Soldaten, der uns dorthin eskortiert hatte. »Die Russen beobachten uns ganz genau, sie wissen bereits, dass wir hier sind. In zehn Minuten sind sie da.«
Russische Soldaten hatten mehrfach Leute verhaftet, die dem Zaun zu nahe gekommen waren. Sie wurden beschuldigt, die Grenze illegal übertreten zu haben. Laut internationalen Recht war nicht unser Besuch, sondern der Stacheldrahtzaun illegal, aber für große und mächtige Länder gelten internationale Gesetze nur, wenn sie ihnen selbst folgen wollen.
»Eines Morgens vor fünf Jahren bin ich aufgewacht, und da stand dieser Zaun hier!«, erzählte der alte Mann. »Eigentlich verlief die Grenze hundert Meter weiter oben, aber vor einigen Jahren haben sie sie verschoben, und nun liegt mein Haus mitten in Südossetien!«
Dato sprach schnell und flüssig, offenbar war ihm klar, dass wir wenig Zeit hatten.
»Meine Frau sitzt da drin«, erklärte er und zeigte auf das Haus. »Sie hat Probleme mit dem Blutdruck und kann nicht aufstehen, ohne zu fallen. Sie muss ins Krankenhaus, aber sie bekommt keine Hilfe. Ich kann nicht einmal nach Zchinwali fahren, denn ich habe keine Papiere. Dies ist kein Leben. Vielleicht ist Selbstmord die Lösung?«
»Sie haben noch fünf Minuten!«, rief einer der Soldaten. »Die Russen sind gleich hier!«
»Ich bin hier in Khurvaleti geboren«, fuhr Dato fort. »Ich habe über achtzig Jahre hier gewohnt. Mein ganzes Leben habe ich in Georgien gewohnt, aber jetzt wohne ich plötzlich in Südossetien! Unsere Nachbarn sind alle fortgezogen, aber ich habe keinen Ort, wo ich hin könnte.«
Niemand, der Putins Auftreten im Kaukasus in den vergangenen achtzehn Jahren verfolgt hat, konnte auch nur im Geringsten über die Ereignisse in der Ukraine überrascht sein. Wenn es etwas gibt, das Russlands Grenze kennzeichnet, dann ist es Bewegung. Durch die Jahrhunderte hat sich diese Grenze sehr häufig geändert, zuletzt 2014, als Russland die Krim annektierte. Keine Grenze ist in Stein gemeißelt, und die neuen russischen Grenzpfosten aus Fiberglas sind leicht zu versetzen.
Was heißt es also, Russlands Nachbar zu sein?
Norwegen ist das Einzige der vierzehn Nachbarländer, das nie von Russland okkupiert wurde oder mit Russland Krieg geführt hat. Keines der Länder, die ich besuchte, war daher ohne Wunden oder Narben als Folge der Nachbarschaft mit dem Imperium. Vor allem die einfachen Leute wurden im Laufe der Jahrhunderte zwischen den Mühlsteinen zerrieben, von den Kriegern der Großmacht kujoniert und mal hierhin, mal dorthin umgesiedelt. Die Nationen haben kein Gedächtnis, die Nationen haben keine Wunden, die größer werden, die Nationen haben keine Narben.
Die Narben tragen die einzelnen Menschen, jeder einzelne für sich, Millionen von ihnen.
Aus dem Norwegischen von Ulrich Sonnenberg