»Putin ist wie Hitler« erklärte der fünfundzwanzig Jahre alte Pima. Er kam auf dem Krankenhausflur nur mühsam voran, Meter für Meter. Sein Gesicht war voller Narben, der Mund und die Augen hatten ihre ursprüngliche Form verloren. »Wie kann im 21. Jahrhundert ein Land einfach daherkommen und ein anderes Land einnehmen?«
Ähnliche Sätze wurden in den letzten Wochen unzählige Male wiederholt, aber dieser Satz ist genau sechs Jahre alt. Die Welt ist zurecht von dem
Widerstand der Ukrainer gegen die russische Übermacht beeindruckt. Die Ukrainer haben allerdings die Erfahrung auf ihrer Seit: Sie leben bereits seit acht Jahren mit dem Krieg.
Jedes einzelne Zimmer des Militärkrankenhauses in Kiew war 2016 mit Männern wie Pima gefüllt. Gewöhnliche Menschen, die ihr gewöhnliches Leben als Familienväter, als Arbeiter einer Papierfabrik, als Schneider oder Lehrer aufgaben, als der Krieg kam, und an die Front zogen, um für ihr Land zu kämpfen.
Nun kämpfen sie außerdem für ihre Familien, ihr Zuhause und ihre Freiheit.
Der Despot lässt die Maske fallen
2016 dauerte der Krieg bereits zwei Jahre. Es war kein neuer Krieg mehr, und ausländische Journalisten schrieben kaum noch darüber.
Aber die Spuren waren überall zu sehen. Straßensperren, Militärkolonnen. Fotos der Gefallenen auf allen zentralen Plätzen in allen Städten. Über zehntausend Menschen hatten bereits ihr Leben in den Kämpfen verloren. Der Krieg in der Ost-Ukraine wurde nie zu einem eingefrorenen Konflikt, wie viele es vorausgesagt hatten, darunter auch ich. Er blieb heiß mit ständigen kleinen Gefechten und sporadischen Verlusten von Menschenleben, bis er im vergangenen Monat wieder zu einem gewaltigen Inferno aufflammte.
Nun gibt es einen neuen Krieg in Europa, heißt es. Nein, es gab in Europa bereits seit acht Jahren Krieg. Während Russland vorher nie eine direkte Einmischung in den Krieg in der Ost-Ukraine zugegeben hat – trotz umfangreicher Dokumentationen –, hat der Despot im Kreml nun die Maske fallenlassen. Er will die eigensinnigen, freiheitsliebenden, demokratischen Ukrainer wieder vereinnahmen. Immer wieder hat er behauptet, die Ukraine sei kein Land, sondern eigentlich ein Teil von Russland.
»Es gibt keine ›Ukraine‹«
In der abtrünnigen Republik Donezk wurde ich 2016 mit der gleichen Rhetorik empfangen.
»Sagen Sie mir, was ist eigentlich die ›Ukraine‹«, schnaubte Linar, ein russischer Soldat, der behauptete, die Kriegszone auf eigene Initiative aufgesucht hatte. »Genau!«, antwortete er triumphierend, bevor ich überhaupt den Mund aufmachen konnte. »Es gibt keine ›Ukraine‹. Die Leute hier nennen sich Ukrainer, aber sie sind eigentlich Russen. Es gibt russische Dialekte, die schwierig zu verstehen sind«, fügte er hinzu. »Ukrainisch ist bloß ein solcher Dialekt.«
Derartige Gedanken verbreiteten sich in Russland und der Ost-Ukraine nach der orangenen Revolution 2004, gehen aber historisch sehr viel länger zurück. Nachdem die letzten freien Kosaken von Katharina der Großen im 18. Jahrhundert besiegt wurden, nannten die offiziellen russischen Quellen die Ukraine konsequent Malorossija, Klein-Russland. Auch die ukrainische Sprache war davon betroffen. Zar Alexander II., der im Übrigen eine Reihe liberaler Reformen durchführte, verbot 1864
Ukrainisch als Unterrichts- und Kirchensprache. Ein knappes Jahrzehnt später wurde das Verbot mit Ausnahme von historischen Dokumenten auf alle Publikationen erweitert. Das Verbot währte bis zur Revolution von 1905.
Wenn man schon in kindliche Diktatoren-Rhetorik verfallen will, ist Russland eher Klein-Ukraine. Der Name »Moskau« wird in den Chroniken zum ersten Mal im Jahr 1147 genannt, damals war die Stadt lediglich ein kleines Dorf mit einfachen Holzbauten. Zu diesem Zeitpunkt war das Kiewer Reich, das große Teile des heutigen europäischen Russlands umfasste, seit beinahe dreihundert Jahren eine Großmacht gewesen.
Eine typisch europäische Geschichte
Es hat natürlich keinen Sinn, die gegenwärtige Geopolitik mit tausend – oder auch nur hundert – Jahre alten Grenzen zu erklären, auch wenn dies in Europa eine weit verbreitete Praxis war.
Verschiedene Teile der Ukraine wurden im Laufe der Jahrhunderte unter anderem von Polen, dem Großfürstentum Litauen, Polen-Litauen, freien Kosaken, dem Krim-Khanat, dem Osmanischen Reich, dem russischen Imperium und der Sowjetunion regiert. Außerdem wurde das Land von Mongolen, Tataren, Schweden und Deutschen eingenommen, und am Schwarzen Meer hatten Händler aus Süd-Europa kleine Außenposten. Zum Beispiel wurde die Hafenstadt Odessa von einem spanisch-neapolitanischen Admiral nahe dem kleinen Tatarendorf Khadjebey gegründet und nach dem griechischen Außenposten Odessos benannt, der etwas weiter südlich lag. Die lange Geschichte der Ukraine ist also eine typisch europäische Geschichte.
Die Geschichte der Ukraine ist auch eng verwoben mit dem großen Nachbarland im Osten. Ähnlich wie viele andere ehemaligen Sowjetrepubliken, wurden die jetzigen Grenzen der Ukraine während der Sowjetzeit, genauer gesagt nach dem Zweiten Weltkrieg, festgelegt, als die Stadt Lwiw und andere westliche Gebiete der Sowjetunion zugerschlagen wurden. 1954 übertrug Chruschtschow die Krim-Halbinsel der ukrainischen Sowjetrepublik, möglicherweise aus praktischen Gründen – die Halbinsel ist mit dem ukrainischen, nicht mit dem russischen Festland verbunden. So lange die Sowjetunion bestand, hatten diese Grenzen ohnehin kaum eine Bedeutung.
Ein Jagdausflug, der die Welt veränderte
Interessanterweise waren es die beiden Länder, an deren Kontrolle Putin heute so viel gelegen ist, die die Sowjetunion auf den Müllhaufen der Geschichte schickte.
Am 24. August 1991 stimmte das ukrainische Parlament für die Unabhängigkeit. Und am 1. Dezember wurde eine Volksabstimmung abgehalten, um den Beschluss zu verankern. Im Gegensatz zu Gorbatschows Annahme stimmte eine überwiegende Mehrzahl der ukrainischen Bevölkerung für die Unabhängigkeit. Wohlgemerkt auch in den russischdominierten Gebieten Donbass und auf der Krim. Mit dieser Volksabstimmung war Gorbatschows Plan obsolet, eine Föderation der ehemaligen Sowjetrepubliken zu bilden – ohne das Baltikum, das sogar Gorbatschow für rettungslos verloren hielt.
Am 7. Dezember traf sich Boris Jelzin, der Präsident der russischen Sowjetrepublik, mit dem weißrussischen Staatsoberhaupt Stanislau Schuschkewitsch und dem ukrainischen Präsidenten Leonid Krawtschuk zu einem Jagdausflug in den weißrussischen Wäldern. Am folgenden Tag gaben sie eine Presseerklärung ab, in der sie erklärten, »die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken hätte als Subjekt des internationalen Rechts und als geopolitische Realität ihre Existenz beendet«. Die fünfzehn ehemaligen Sowjetstaaten sollten in die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten überführt werden, eine lockere Allianz ohne zentrale Leitung mit Hauptsitz in Minsk – nicht in Moskau. Russlands Stellung als Machtzentrum gehörte der Geschichte an. In weniger als vierundzwanzig Stunden hatten die drei Herren das Schicksal des größten Staatengebildes der Welt besiegelt.
Prinzipien vor Menschenleben
In seiner jährlichen Rede vor dem Parlament nannte Putin 2005 den Zusammenbruch der Sowjetunion die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Durchaus nicht alle Ukrainer teilen diese Sicht. Das ukrainische Volk gehörte zu denen, die den höchsten Preis dafür bezahlten, Teil eines gigantischen sozialistischen Experiments zu sein.
Die Einführung der Fünfjahrespläne und die Kollektivierung der Landwirtschaft führten zu enormem Leid in den ukrainischen Dörfern. Ende 1932 war die erste Fünfjahresperiode vorbei. Da das Ziel eine effektivere Landwirtschaft und eine erhöhte Produktion war, wurden die Quoten für die nächsten fünf Jahre angehoben. Aus verschiedenen Gründen fiel die Ernte 1932 jedoch schlechter aus als in den vorhergehenden Jahren. Die Bauern wurden gezwungen, ihre gesamte Produktion abzuliefern, dennoch gelang es ihnen nicht, die vorgegebenen Quoten zu erfüllen. Diebstahl, und sei es auch nur eine Handvoll Korn, wurde mit dem Tode bestraft. Obwohl die politische Führung in Moskau als geheim deklarierte Berichte über die Hungersnot erhielt, entschied man sich, die Quoten für das Jahr 1933 erneut anzuheben.
Es gibt keine exakten Zahlen, wie viele Menschen in diesen Jahren verhungerten, doch Historiker haben später errechnet, dass es in jedem Fall zwischen drei und vier Millionen Menschen gewesen sein müssen. In der Ukraine wird die Hungersnot Holodomor genannt, eine Abkürzung von moryty holodom, jemanden verhungern lassen. Die politisch Verantwortlichen in der Ukraine werten Holodomor als Völkermord an der ukrainischen Bevölkerung.
Der 26. April 1986 war der Tag, als der endgültige Niedergang der Sowjetunion begann, obwohl niemand es begriff, weder in Moskau oder Washington – noch in einem kleinen Ort in der Ukraine, von dem kaum jemand etwas gehört hatte: Tschernobyl. Der Kreml versuchte wie gewöhnlich die Katastrophe zu verheimlichen, doch radioaktive Strahlung kennt keine Landesgrenzen, und zwei Tage später schrillten in Schweden die Alarmsirenen. Die ukrainischen Behörden gehen von drei Millionen Tschernobyl-Opfern aus. Und mehr als vier Millionen Ukrainer und Weißrussen wohnen noch immer in Gebieten, die von radioaktivem Ausfall betroffen sind.
Jetzt hält die Welt den Atem an, wenn russische Artillerie wissentlich und willentlich ukrainische Kernkraftwerke ins Visier nimmt.
Des Kremls Albtraum
Putins inzwischen herostratisch berühmte Worte über den Zusammenbruch der Sowjetunion fielen 2005. Der Zeitpunkt war nicht zufällig gewählt. Ein Jahr zuvor hatten ukrainische Demonstranten den Maidanplatz in Kiew aus Protest gegen den Wahlbetrug bei der Präsidentenwahl besetzt. Die Demonstranten setzten sich letztendlich durch: Eine dritte Wahlrunde wurde abgehalten und der Leiter der orangefarbenen Revolution, Viktor Juschtschenko, zum Präsidenten der Ukraine gewählt, während Viktor Janukowitsch seinen Hut nehmen und gehen musste.
Den Aufstand der Ukrainer erlebte Putin als einen Schock, der mehr als alles andere eine ähnliche Revolution auf russischem Boden fürchtet.
Nach der Unabhängigkeit war es zeitweise schwierig, die ukrainische politische Situation zu verfolgen, die im Gegensatz zur russischen jedoch immer freier und demokratischer wurde. Russland hatte zum Jahrtausendwechseln einen Staatspräsidenten – vier Jahr lang trug Putin lediglich den Titel eines Ministerpräsidenten, aber niemand zweifelte daran, wer tatsächlich die Fäden in Russland zog. Die Ukraine hatte in diesem Zeitraum sechs Präsidenten.
Während der Winter-Olympiade in Sotschi 2014 beschloss Putin, zur Tat zu schreiten. Der Zeitpunkt war auch diesmal nicht zufällig gewählt.
Einige Monate früher war es in Kiew zu Protesten gekommen. Das Volk war empört, dass Präsident Viktor Janukowitsch, der durch die orangene Revolution abgesetzt worden war, aber die Wahl 2010 gewonnen hatte, ein lange geplantes Assoziationsabkommen mit der Europäischen Union nicht unterzeichnet hatte. Stattdessen knüpfte er ein engeres Bündnis mit Russland durch einen Milliardenkredit und die Mitgliedschaft in der Eurasischen Wirtschaftsunion, einer Zollunion, die von Russland dominiert wird. Im Laufe des Februars eskalierte die Situation. Am 22. Februar flüchtete Janukowitsch in aller Eile nach Russland. Zwei Tage später, während führende Politiker der Welt die kostspielige Abschlusszeremonie in Sotschi bewunderten, wurden prorussische Demonstrationen in Sewastopol auf der Krim abgehalten.
Einige Wochen später brach der Krieg in der Ost-Ukraine aus. Dieser Krieg wird noch immer geführt, doch nun mit der ganzen Ukraine als Tatort für Kriegsverbrechen.
Die gefährlichste Grenze der Welt
Es war schon immer gefährlich, Russlands Nachbar zu sein. Von den vierzehn Nachbarländern wurde nur eines nie von Russland okkupiert oder hat Krieg mit Russland geführt: Norwegen. Während europäische Großmächte wie Großbritannien und Frankreich Kolonien auf anderen Kontinenten eroberten, hat Russland immer expandiert, indem es seine Grenzen erweiterte. Jeder Zar strebte danach, ein noch größeres Imperium zu hinterlassen, als er oder sie es übernommen hatte. Es gibt rechtsgerichtete russische Kreise, die es Zar Alexander II. bis heute nicht verzeihen, dass er 1867 Alaska aus der Not heraus den Amerikanern verkaufte. Was einmal unter russischer Herrschaft war, ist immer in Gefahr, zurückerobert zu werden.
Dies wissen die Menschen in den Nachbarländern, und dies wissen auch ihre politischen Führer. Viele der ehemaligen Sowjetstaaten sind heute autoritäre Staaten, ohne jeden Ansatz von Demokratie und Meinungsfreiheit, mit Präsidenten, die nervös nach der Pfeife des Kreml tanzen. Die Georgier und die Ukrainer gingen stolz in die entgegengesetzte Richtung, ohne mächtige Freunde oder Militärallianzen im Rücken zu haben, für die die baltischen Länder gesorgt haben.
2014 hatte Russland vermutlich damit gerechnet, dass die Städte in der Donbass-Region wie Kartenhäuser fallen würden. »Die Menschen in Mariupol und Kramatorsk sehnen sich nach der Befreiung!«, behauptete ein Panzerfahrer, den ich in Donezk traf. »Der Westen wird von Moslems und Homos zerstört, nur Russland ist stark«, fügte er bombastisch hinzu.
Die von Russland unterstützten »Befreier« wurden nicht mit Jubel empfangen, sondern mit Gewehrkugeln. Das ukrainische Militär war auf den Krieg schlecht vorbereitet, aber an Kampfwillen mangelte es nicht. Die Separatisten mussten sich mit einem kleinen Teil von zwei Provinzen an der russischen Grenze im Osten begnügen.
Was die abtrünnigen Republiken 2016 vor allem prägte, war die Abwesenheit von Menschen. Über zwei Millionen Menschen waren bereits vor dem Krieg geflüchtet, die meisten in andere Orte in der Ukraine. Sie wollten nicht »befreit« werden, sie wollten in Frieden leben.
Nun gibt es keinen sicheren Ort mehr in der Ukraine, und Hunderttausende, ja, Millionen versuchen verzweifelt, außer Landes zu kommen. Weitere Hunderttausende, ja, Millionen, haben zu den Waffen gegriffen. Diesmal sind sie besser vorbereitet.
Wird die Ukraine Putin zu Fall bringen?
Erneut haben die Russen die Ukrainer unterschätzt. Man kann sich darüber wundern, mit welchen Militärstrategen Putin sich umgibt.
Im Nachbarzimmer von Pima im Militärkrankenhaus von Kiew lag der einunddreißigjährige Sergej. Sein rechtes Bein hing an einer Schnur von der Decke, bis zur Leiste in Gips.
»Frieden«, sagte er lakonisch, »ist abhängig von den Politikern, nicht von den Soldaten. Wir halten es nur aus.«
»Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln«, schrieb der deutsche Militärtheoretiker Carl von Clausewitz (1780-1831) in Vom Krieg. Er schrieb auch: Da im Krieg »der politische Zweck vorwaltet, so muß der Wert, den dieser hat, die Größe der Aufopferungen bestimmen, womit wir ihn erkaufen wollen. (…) Sobald also der Kraftaufwand so groß wird, daß der Wert des politischen Zwecks ihm nicht mehr das Gleichgewicht halten kann, so muß dieser aufgegeben werden und der Friede die Folge davon sein.«
Wenn wir allerdings etwas von kriegerischen Despoten im Laufe der Jahrhunderte lernen können, dann ist es die Tatsache, dass sie nicht von allein aufhören, auch wenn die politischen Ziele unerreichbar sind. Sie müssen gestoppt werden, mit allen Mitteln. Am besten von innen heraus.
Auch in Russland gibt es eine Tradition für Revolutionen.
Aus dem Norwegischen von Ulrich Sonnenberg