Die Seilbahn hat der Österreicher gebaut, höre ich und denke: Wenn er sie bloß auch wartet. Im Inneren der Kabine, durch eine dünne Blechhaut vor der Außenwelt geschützt, haben Xhesi und Miri ihre Zeichen hinterlassen. Unten bellt ein gelber Hund. Wir steigen; die Baumkronen werden zu Moos. Vor uns: Dajti, hinter uns: die Stadt. Wir sind Innereien, geborgen in einem Exoskelett.
Früher fuhr man mit dem Auto hoch. Onkel Lymçja am Steuer, Serpentinen. Wasser, das aus dem Fels kam, kommt. Wir flossen bergauf. Todesangst, damals wie heute.
Die Bettler sind mittlerweile aus der Stadt verschwunden, die Schuhputzer, die Rentner mit dem Personenwaagen-Service. Die Straßenrandbuden verkaufen nur noch fünf Zigarettenmarken und bewerben Pepsi, alle. Selbst die Anzahl der Maiskolbenröster ist stark zurückgegangen. Es wäre falsch zu verschweigen, dass mir einige dieser Änderungen angenehm sind. Vieles ist modern und nett und unaufgeregt geworden. Die Armen können sich die Stadt nicht mehr leisten.
Wie ich also im Februar die Britische Bibliothek der Wirtschaftswissenschaften verlasse; es ist zwei Uhr nachts, die Tube fährt nicht mehr – die Schaufenster der Shops und Offices sind gesäumt von Männern in Schlafsäcken, bündig aneinandergereiht, lückenlos. Ihr gemeinsamer Atem hängt als Nebel mid-air. Ein Typ sperrt den Burger King an der Bushaltestelle Holborn zu und reißt eine Grimasse in meine Richtung. Ich klappe den Mantelkragen hoch und denke daran, wie es wäre, ihm die Nase zu brechen. Auf der Straße tanzt ein Kind. Es steht offenkundig unter Drogeneinfluss.
Im Wald die Schilder: Achtung, militärisches Sperrgebiet! Und dahinter: keine Absperrung, nichts. Ein Opa meint, da lang ist es aber kürzer. Und geht. Und verschwindet hinter den Buchen.
Furchtlos die Eiswürfel in den Schnaps schaufeln – Hepatitis wer? Die schwarzen Plastikfächer der Witwen. Brisen. Die schöne Xhina ist vor anderthalb Jahren gestorben. Partezettel. Ohne das Österreichische ließe sich eine Reihe dieser Phänomene nicht beschreiben. Vergangene Empires. Vergangen klingt erstaunlich friedlich und klingt auch nach: sich an jemandem vergehen.
Propolis heißt Bienenmilch. Das Unmögliche heißt Schwalbenmilch.
Ein illegal aufgebauter Balkon, vierter Stock, instabil. Die Frau mit dem geblümten Kopftuch, die an der U-Bahn-Haltestelle Holborn zwischen zwei Obstständen im Eingang einer katholischen Kirche kauert. Die katholische Kirche an der Rruga Kavajës, die früher einmal ein Kino war.
Abends die Nachrichten aus Europa und der Welt. Mein Großvater fragt, was es mit den Menschen auf sich hat, die sich vor Marx’ Kopf versammeln. Meine Antwort ist lang, ich sehe ihn abdriften. Zum gegebenen Zeitpunkt am gegebenen Ort scheinen »wir« gerade nicht »mehr« zu sein, und da liegt der Hund ja begraben.
Straßenhunde gibt es auch kaum mehr, aber die, die es gibt, paaren sich neuerdings mit Haushunden. Wie ich mich nachts in Ali Demi an einer Wand entlangdrücke, an einem Pitbull-Mischling vorbei.
Im Park bauen drei asiatische Arbeiter eine kleine Pagode, Geschenk einer chinesischen Investmentfirma an die Bürger Tiranas. Bürger von Texas!, fährt es mir durch den Kopf.
Auf einem Foto sehe ich eine hell erleuchtete Dönerbude am Rande der Chemnitzer Demo-Route. Ich denke an die Arbeiterinnen, die nicht krankmachen können, an die Schulkinder. Tatsächliche, eigentliche Todesangst. Den Nachbarn nicht trauen können.
Ich bestelle ein Stück Kompekai.
Fledermäuse heißen hier »Nackte der Nacht«. Ist die Nacht nicht immer nackt, entborgen? Kurzer Gedanke an die Arschlöcher, denen wir eine Reihe guter Wörter verdanken. »Auf jemandes Grab pissen«, ein toller deutscher Fluch.
Mittlerweile werde ich von Leuten bedient, die jünger sind als ich. Adler, ein Kopf, zwei Köpfe, Mutationen, eine Hydra im Fels, viel zu große Flaggen, aufgebläht, majestätisch, nutzlos. Wir sitzen unter jungen, frischgepflanzten Bäumchen auf dem Platz in der Mitte der Stadt und studieren das Mosaik, das die Legende von der Bildung des Volkswillens erzählt.
Glaub mir, das ist eine Sackgasse, sage ich tausendmal in diesen Tagen. Und beginne, mich an die Münzen zu gewöhnen. Und schüttle den Kopf für ein Ja.
Der Volksmund sagt: Über den Sozialismus haben sie damals Lügen verbreitet, doch über den Kapitalismus haben sie die Wahrheit gesagt.
Rummelbuden. Schießgewehre. Was geschähe, wenn hier ein Familienvater Amok liefe? Mit Cowboyhüten ausgestattete Pferdchen warten, gesattelt, auf ihren Einsatz, mampfen Bergwiese. Die Breakdance-Maschine auf der Leipziger Kleinmesse. Kräppelchen, Nordhäuser. Hinterkopftattoos auf rosa Haut. Ganz wenige Studenten. Hassen sie die Kirmes? Wie kann man die Kirmes hassen? Mädchen mit Thor-Steinar-Jogginganzügen. Liebenswerte Anachronismen im Wandel der Zeit. Das Gohliser Kaufland, wo die Oliven in der Ethnic-Food-Section standen. Mein fränkischer Mitbewohner, der den ersten Band der pudrig blauen Marx-Engels-Werke beim Zocken als Mauspad benutzte. Der Einbeinige mit dem anscheinend selbstgebauten motorisierten Dieselrollstuhl, wie er die Seepromenade runterbraust, gradewegs auf den Autobahnzubringer zu.
Wir erreichen den Gipfel so unversehrt als möglich.
Morgenröthe-Rautenkranz. Bad Schandau. Schande. Radebeul. Cottbus. Ledrige, nackte Rentner im ostdeutschen Schilf. Ich liebe sie alle. Özil schreibt: Ich bin enttäuscht, aber nicht überrascht. Exit-Strategien wälzen.
Das Viertel meiner Großeltern, stelle ich also als erwachsene Frau mit einiger Verspätung fest, hat die scharf segregierte Realität der Stadt nie abgebildet. Zu allem Überfluss standen die gemeinsamen Kaffeekränzchen und das rudimentäre Wissen über die Kultur der Nachbarn, das hier immerhin vorhanden war, einem ehernen Rassismus gegenüber, der – im Nachhinein betrachtet – von der Tatsache, dass man Seite an Seite überlebt hat, nur vage geschwächt worden ist.
Es hätte wunderbar kompliziert werden können, doch die kapitalistische Stadt lässt das erst recht kaum zu, und ihre digitalen Entsprechungen genauso wenig. Anders gesagt: Ihre Beschränkungen sind andere. Die Überlebenden widersprechen sich ununterbrochen.
Selvia, die Zypresse, ist eine Landmarke am nördlichen Rand des Stadtzentrums. Es handelt sich um einen alten Baum, der nur um wenig von den ihn umgebenden Hochhäusern überragt wird. Bloß im oberen Viertel trägt er Geäst.
Auf dem Hinflug Zwischenstopp in Budapest, nach sechs Jahren wieder. Damals wurden die Theaterdirektoren ausgetauscht. Blut-und-Boden-Stücke. Volk. Ein Blick in die Zeitungen suggeriert, es habe sich kaum etwas zum Guten geändert. Ich bin geneigt, das zu glauben. In der Stadtoper läuft Der große Diktator.
Der Buchhändler auf der Rruga Bardhyl erzählt, seine Tochter sei gerade für ihren Master nach Budapest gezogen. Welches Geschenkpapier willst du, fragt er, weiß, rot oder mit Stern? Mit Stern, sage ich, mit Stern, wiederholt er, früher hieß es, mit Stern, wie die Partei. Er lacht laut. Auf seinem Arm ein selbstgestochenes Fantasiewappen, verschwommen. Seine Töchter pflegen seinen Instagram-Account, so was braucht man heute, sagt er.
Zuerst erschienen in: Suhrkamp Theater Magazin 2019