Vermessen wir das Feld mit weißen Maßbändern. Stecken wir es in regelmäßigen Abständen mit weißen Fähnchen ab. Betasten wir seine Ecken mit dem Harkenende. Drücken wir unsere Fersen in seine Unebenheiten. Hier beginnt das unwegsame Gelände. Hergestelltes zwar – doch das ändert nichts.
Ich liege auf einer mit Beton ausgegossenen Veranda im Süden Kretas, die Azalee blüht offenkundig noch lange nicht, März. Buntgepanzerte Wanzenrücken leuchten im Morgenlicht. Olivenhaine, Meer, es ist wirklich alles da, lächerlich, wunderbar. Ich schlage in die Tasten. Ein fadenscheiniges Handtuch zittert an der Leine. Wieder einmal der unvermeidliche, aller Wiederholung zum Trotz niemals stumpfer werdende Schock darüber, wie einfach es ist, diese Verhältnisse zu beschreiben, wie sie zu Tode beschrieben sind, diese warmen, diese mediterranen Verhältnisse, und die immer gleichen Beschreiberinnenschuldgefühle noch dazu. Ich liege also auf dem rissigen, aufgeheizten Beton und räkele mich in der Sonne wie eine Eidechse, die ihren Schwanz, zöge man an ihm, abwürfe, und überlebte, wenn auch lädiert. Und frage mich, wie man also überlebt, wenn man von Anfang an über keinen Schwanz verfügt. Und habe gehört, der Bruch des Steißbeins, dieses Ex-Gleichgewichtsorgans, dieses ur-, nein, un-zeitlichen Fragments, schmerze um ein Vielfaches mehr als eine Geburt. Da bricht sich nicht die Zukunft Bahn aus einem Körper, da bricht die Vergangenheit, nein, die Vorvergangenheit einfach weg, nicht einmal heraus aus einer, und inoperabel der Schaden, und kann nicht geklebt werden, nur selbst verheilen, und immer krumm und schief. Ob das wirklich so stimmt? Plausibel wäre es.
Masseerhaltungssatz: Verloren geht nichts, und wenn: Dann ist es eine Schande.
Betreten wir also das Feld. Es heißt: das Körperliche. Seine Grenzen sind mit langen Schritten überschreitbar. Die Namen der Distanzen können Fuß heißen oder Elle oder Spanne oder Fingerbreit oder Klafter oder Faust oder Handbreit oder eben Schritt. Man nennt sie nach Abschnitten des Körpers, nein, man hat sie einmal so genannt. Ein Meter bezeichnete einmal den zehnmillionsten Teil der Entfernung vom Nordpol zum Äquator. Ein Meter war einmal ein Platinstab, keine Idee, sondern ihre Verkörperung. Doch das ist lange her.
Die Grenzen des Felds sind also unter Kraftaufwand überwindbar. Es ist möglich, sich gegen sie zu stemmen, und auf einer anderen Seite herauszupurzeln; es ist möglich, die Grenze als Mauer zu betrachten, oder als Haut.
Der Körper ist ein Gewinde – wer schraubt denn da, und woran? Wie sehen sie aus, die Träume der zukünftigen Autotunerinnen? Handeln sie vom Bau neuer, wunderbarer Körper? Von Stimmen, jenseits der Menschlichkeit gepitcht? Hormone sickern durch ein Pflaster. Eine Nase wird begradigt. Fettzellen werden verschoben. Muskeln werden aufgebaut. Es werden Sudokus gelöst.
Ist es wahr, dass »nobody ever regretted a workout«? Dass »there is no change in the presence of comfort«? Dass »strong is the new skinny«? Wie viel Eiweiß kann ein Mensch täglich zu sich nehmen, ohne die Gicht zu riskieren? In welchem Verhältnis stehen die bautechnische Unüblichkeit eines kurvigen Türrahmens und eine Wespentaille, die in einen dicken, dicken Arsch mündet? Was hat es auf sich mit den zu cyborgschöner Unkenntlichkeit retuschierten Mädchengesichtern auf den Fahndungsplakaten?
Soeben ist meine Monatsmitgliedschaft bei Fitness First abgelaufen. Ich bin stundenlang bei fünfzehnprozentiger Steigung gewandert. Ich habe die Mädchen auf den Steppern gesehen und die Greise in der Rückenschule. Ich habe einen Zentner mit der Innenseite meiner Oberschenkel gestemmt. Ich bin ganz persönlich von der Trainerin angesprochen worden, einer starken Frau mit Headset, die mühelos die Langhantel durch die Luft wirbelte und rief, ich möge nicht aufgeben, ich könne es schaffen. Ich habe blondbezopfte Walküren gesehen, die formvollendet kniebeugten und seilchenspringende Hünen und einen sehnigen, schwarzhaarigen Jungen, der Klimmzüge machte, bis mir die Arme schwach wurden, und auf seiner schweißglänzenden Wade prangte, unbeeindruckt, Schwarz-Rot-Gold. Ich habe fettreduzierte Landjäger gegessen und Evian getrunken und bin nie zum Saunieren gekommen. Etwas Friedliches hat sich in mir ausgebreitet. Obwohl ich seinen Namen nicht kenne, ist mir seine Beschaffenheit vertraut. Es hat sich geregt, wenn ich die Geräte mit einem alkoholgetränkten Papierhandtuch desinfiziert habe, wenn ich gestöhnt habe, ohne an etwas Bestimmtes zu denken. Ich habe mich verausgabt und meine Mitstreiterinnen bewundert und die Best-of-Naughties-Playlist auf Spotify angehört.
Der Körper ist eine Wunde, sie öffnet und verschließt sich, er ist Schilfrohr, das von der Flut gebeugt und durchdrungen und gedemütigt wird, und sich doch, lässt die Überschwemmung nach, wieder heiter aufrichtet, so überliefert es uns die mit Striemen bezeichnete Elisabeth von Thüringen – 1207 geborene ungarische Königstochter, sofort Verwitwete, Opfer höfischer Intrigen, und eines irren Beichtvaters dazu. Sie steigt aus, wird Schwester in der Welt und außer ihr, in und außer sich.
Außer sich sein heißt: die comfort zone verlassen, heißt: levitieren, einen halben Zentimeter neben sich schweben. Da sind: keine Klostermauern, kein schützender männlicher Arm, bloß die Nische zwischen den Füßen eines Leprakranken, und Elisabeth wäscht diese Füße, nicht weil sie muss, sondern weil sie will. Das Außersichgeraten, das ist auch: die Verzückung, altgriechisch: die Ekstase, ist also: ein Ausnahmezustand, und nicht immer einer mit Höhepunkt. Ist: das milchsäureschwangere Zucken eines ermüdeten Bizeps, ist: das schläfrige Flackern eines Augenlids, wenn sich die Finger schon – scheinautonom – in die Urlaubsfotos des Jahres 2015 runtergescrollt haben, ist – und eigentlich lächerlich, das zu erwähnen –: die erdige Verbindung zwischen nacktem Estrich und schweren, beturnschuhten Füßen zur Mitte einer Partynacht, ist: ein Hauch, ein Vibrieren, das Verlieren des Fadens.
Elisabeth weigert sich. Verweigert sich dem gierigen Beichtvater, der ihr Erbe in eigene, prestigeträchtige Projekte investieren will, der sie von den Leprösen fernhält, damit sich der Goldesel nicht ansteckt und vor Abschluss der Geschäfte eingeht. Verweigert sich ihrem Vater, der sie wieder verheiraten will, droht sich die Nase abzuschneiden, sich zur Unverheiratbarkeit zu entstellen. Keine Verstümmelung so groß wie die ihrer Autonomie. Verweigert sich der Enteignung, der finanziellen, der körperlichen. Wird immer radikaler, dogmatischer, verschreibt sich dem täglichen, christlichen self-improvement – ein Fehlurteil, das Notwehr heißt.
Und zeigt ihren Freunden – als sie sie noch hat – ihren blutiggeschlagenen Rücken, um die Gerüchte, der Beichtvater sei ihr Geliebter, habe sie womöglich geschwängert, zu entkräften. Um einen Gegenbeweis anzutreten: Ich bin autonom, aber eine Schlampe bin ich nicht. Gibt es eine zeitgenössischere Geschichte? Ein Leben in der Scheinwirklichkeit der Religion, abseits weltlicher Verantwortungen, ein Leben als Dominance & Submission-Beziehung, und weit und breit kein consent.
Der Körper ist ein Knotenpunkt – hat Millionen Neuronen und ist selbst eines im globalen Netzwerk der Sprechenden, die Kaffee kochen, die Kinder in die Schule bringen, darüber twittern, und abends am Fuße derjenigen Moschee protestieren, die nach der Mystikerin Rabia von Basra benannt ist und doch in Kairo steht, die nach Rabia benannt ist, die Wunder tat und nach jener Schönheit suchte, die über die Körper hinausweist, und dort in Kairo im schmalen Schatten der Minarette stapelten sich also die Toten, Überschreiter der Grenzen, Übergangene.
Wie kommt es also, dass eine Frau – genauer: eine wundersam befreite Sklavin, eine unorthodoxe Einsiedlerin, eine Sufistin, eine Freundin der Wüste, eine unabhängige Bewohnerin der Stadt Basra – wie kommt es also, dass diese Frau, nein, der Name dieser Frau, ausgerechnet den Muslimbrüdern zum Symbol des Kampfes wird? Ich weiß schon: „Rabi’a“, das ist nicht nur: „der Frühling“, sondern auch „die Vierte“, und in Erinnerung an den Moscheevorplatz, Schauplatz des Massakers, recken die Islamisten vier Finger ihrer Hand in die Höhe, Erdoğan macht es vor. Und doch: dass es das überhaupt gibt: ein Name, als Symbol solcher, die ihn nicht tragen.
Ich liege also auf dem Beton, eine knorrige Oma humpelt – selbstverständlich in schwarz – am unvermeidlicherweise kornblumenblau gestrichenen, mit einer rostigen Eisenkette gesicherten Tor vorbei; die Glieder der Kette sind schwer, sie klirren nie. Oxi, sagt eine Frau zu ihrem Kind, einige Häuser weiter oben. Es gab einmal dieses Gerücht unter Medizinstudierenden, das ging so: Zum Höhepunkt der Finanzkrise sei man in einigen griechischen Krankenhäusern dazu übergegangen, Nadeln nach Desinfektion mehrfach zu verwenden. Meine Recherchen können das nicht bestätigen, ich glaube, das stimmt einfach nicht. Und lässt mich, als Überlegung, trotzdem nicht los. Die Nadel: rein in den Körper, durch die kutane Grenze hindurch, rein und raus und rein ins Ethanolbad und raus und rein in den Wattebausch und raus und rein in den nächsten Körper, und das Reinemachen nicht vergessen. Es gibt Milchgeschwister, Kinder gleichen Alters, die von derselben Brust getrunken haben und denen an vielen Orten auf der Welt die Heirat miteinander untersagt ist. Es gibt Lochschwager, zwei Männer zum Beispiel, die durch den konsekutiven Geschlechtsakt mit derselben Frau lebenslang miteinander verbunden sind, so will es zumindest bedeutungonline.de. Es gibt die gute alte Blutsbrüderschaft, geschlossen mithilfe eines großväterlichen Taschenmessers, wie es heute im Westen kein Kind mehr in die Hand bekäme, geschlossen im Gebüsch am Rande des Spielplatzes oder versteckt im Dickicht des goldenen Weizens – welche Farbe sollte er auch sonst haben. Wenn es also all das gibt, wieso nicht auch Nadelschwestern und –brüder, deren Körpergrenzen von derselben Spitze durchbrochen wurden? Vielleicht, nein, ganz wahrscheinlich gibt es auch dieses Wort schon, plausibel wäre es.
Der Körper ist ein Wunder und prüft solche, ist ein Pater am Tatort einer Marienerscheinung, über das Röntgenbild eines nunmehr verschwundenen Tumors gebeugt.
Das Feld ist eine Fläche in Spiel und Sport, für den Abbau von Nutzpflanzen, von geologischen Rohstoffvorkommen, das Feld ist ein Kriegsschauplatz, es bezeichnet Regionen im Gehirn, und schließlich: eine Datenstruktur.
Das sind die termini technici, die mich interessieren.