Zeitverschwenden heißt immer auch: Zeit herstellen. Die Minuten rieseln in die Untiefen des Pazifischen Feuerrings und kommen auf der anderen Seite als neue Erdkruste hervor. Man darf sie nicht voreilig abziehen, man muss warten, bis die Kruste von selber wackelt, sonst blutet es, sonst steht uns das Blut bald bis an die schorfigen Knie.
Zeitverschwenden heißt immer auch: Internet. Dabei glaub ich da doch gar nicht dran – offline und online – und trotzdem ist offline verschwendete Zeit auf eine eigentlich eklige Art und Weise gleich weniger verschwendet, dreamy im Café sitzen, Montmatre undsoweiter. Wird es zu pittoresk, kann von Verschwendung gar nicht erst die Rede sein.
Und die Rede ist ja, wieder und wieder, die Rede ist und ist und ist:
vom Subreddit »Murdered by Words«, einer Sammlung schlagfertiger Internetmomente, in denen ein User den anderen auf besonders geistreiche Weise fertigmacht.
von Gwyneth Paltrows Lifestyleblog »Goop«, wo Kräutermischungen für die prä-menopausale Frau, kalifornische Weine, eine Reihe nachtschattengewächsfreier Detox-Rezepte und vor allen Dingen MORNING ROUTINES präsentiert werden, Morning Routines, die in LA prinzipiell um 5 Uhr früh mit einer Meditation auf einem in Utah handgefertigten Meditationskissen beginnen, after meditating, I write down my intentions for the day, then I set up my workout zone in the living room, undsoweiter undsofort, at 7.45 I pack up my super green smoothie, kiss my little ones goodbye and head to the office – wie schreibt ein großer deutscher Dichter? Mein Bett ist mein Büro.
Die Rede ist von der Gelsenkirchener Café-Extrablatt-Filiale, wo man – ohne in Pittoreskerie-Verdacht zu kommen – trinken und starren und lauschen kann und so zum Beispiel erfahren, dass das Brunchbuffet im Café del Sol demjenigen im Extrablatt definitiv vorzuziehen ist, weil es über ein unwiderstehliches pièce de résistance, einen Mettigel nämlich, verfügt. Die Gelsenkirchener Arbeitslosen, die für die Dauer der Ladenöffnungszeiten diese einzige Flaniermeile der Stadt, Standort des ersten deutschen Primark, dreier Backwerkfilialen und des größten Tedi der Welt, bevölkern, sind keine Zeitverschwender, sie verwenden sie bloß.
Statt von ihnen meinen Mitmenschen hätte auch die Rede sein können von der Homepage der Naturkosmetikmarke Dr. Hauschka, denn die Beschreibungen der ebenfalls – und zwar nur bei zertifizierten Kosmetikerinnen – käuflich erwerbbaren Dr.-Hauschka-Gesichtsbehandlungen lösten in mir lange Zeit jenes wohlige Nackenkribbeln aus, das seit einigen Jahren als ASMR bekannt ist. Leider wurden diese Beschreibungen einer Umformulierung unterzogen, und jetzt kribbelt da nichts mehr. Vielleicht ist es aber also ohnehin so, dass etwas, das man tut, UM etwas anderes ZU erreichen, ein Nackenkribbeln zum Beispiel, gar nicht als Zeitverschwendung betrachtet werden kann, sondern eben als Zeitverwendung – einer Arbeitenden, einer Arbeitslosen, einer Arbeitsvermeidenden, einer Müden.
Die Zeitverwendung ist ein unvermeidlicher, gänzlich unmagischer Vorgang, während die Zeitverschwendung sich selbst hervorbringt und noch eine Restzeit dazu, in der das eigentlich Vorgehabte eben stattfinden muss, die sogenannten Aufgaben des täglichen Lebens.
Es geht, selbstverständlich, auch um jene kollektiven, definitiv magischen, in jeder Hinsicht unnötigen Momente, die der Gruppenchat hervorbringt, und das Unnötige ist ja nicht nur Charakteristikum der Zeitverschwendung, sondern zum Beispiel auch der Kunst, die hier nicht unerwähnt bleiben soll.
Es geht also selbstverständlich auch um die geschmacklosen, mit leuchtenden Rosen dekorierten Happy-Bayram-Bildchen in der Familienchatgruppe, denen Artikel folgen über Reinhold Beckmann und seine Mutter, die also Gauland anzeigten, denen eine Mario Vargas Llosa-Doku folgt, Jilet-Ayşe-Clips, Schlager in allen relevanten Sprachen undsoweiter.
Es geht um Debatten über die Wirksamkeit von CBD, geführt in der gelsenlovers-Gruppe, neben Screenshots der Witzbildchen aus dem »Dings«-Universum – migrantische Dings, deutsche Dings, ja, sogar Gelsen-Dings –, neben Fotos von Nikab-tragenden Matroschka-Puppen, duty free zu kaufen am Flughafen Dubai, neben Arbeits- und Officecontent, Fotos der Zeichenzahl am Seitenende, der neuen Krawatte, der Leiter, treffen sich ein Wirtschaftswissenschaftler, eine Veranstaltungstechnikerin, und eine Schriftstellerin, keine Pointe. Und immer wieder: komplexe Bewertungen des letzten Hotelfrühstücks.
Es geht um Umwege, digital und analog, man müsste zwar arbeiten, aber bei Starbucks schmeckt der Coldbrew immer noch am besten, man wollte nur kurz was nachschauen, und dann hat eine die Anziehungskraft dieses schwarzen Lochs, das Wikipedia heißt, unentrinnbar angesogen, man wollte nur ein Bier trinken, und schon liegt man zwischen zwei seelenlosen Neubaublocks – und sie sind seelenlos, weil sie hässlich und böse sind, nicht, weil sie neu sind –, man wollte also nur ein Bier trinken und es wurden einige und man liegt zwischen diesen seelenlosen Neubaublocks unweit des Moritzplatzes, Fahrrad kaputt, Knie kaputt, fieser Cut in der Braue, Brille hinüber, und wird seine Zeit sicherlich nicht noch damit verschwenden, den Zustand des weißen, höchstwahrscheinlich geleasten Benz zu überprüfen, der den Fall abfederte.