Zum 30. Mauerfall-Jubiläum am 9. November 2019 versammeln wir im Logbuch Suhrkamp Beiträge zu diesem Themenschwerpunkt. Eröffnet wird die Reihe mit Fotografien von Andreas Rost, die vor allem im Frühjahr 1990 in Berlin, Leipzig und Dresden entstanden sind. Es folgen ein Text von Emma Braslavsky und ein Langgedicht von Angela Krauß. Steffen Mau blickt anschließend auf seine Lektüre von Lutz Seilers Kruso zurück, Bodo Mrozek führt mit Ilko-Sascha Kowalczuk ein Gespräch über den »Sound der Wende«, und mit den Beiträgen von Deniz Utlu und Wolfram Höll beschließen wir die Serie.
An seine Grenzen stößt ein Mensch, wenn er sich Bedrohlichem, Unbekanntem, Unüberwindlichem, Unwirtlichem oder Unverständlichem gegenübersieht. Ein Tier reagiert da meist mit Flucht, Kapitulation oder stellt sich gleich tot. Der Sapiens, der sich diesen Namen verliehen hat, nimmt diese Situationen als Herausforderung an. Fünftausender besteigen, reißende Flüsse überqueren, Mauern niederreißen, Raumschiffe, Flugzeuge, Schiffe und Mikro- und Nanoskope bauen oder auch fremde Sprachen erlernen, neue Gewohnheiten annehmen, Außerirdische begrüßen und: Schwarze Löcher werden ihn auch bald nicht mehr aufhalten. Aber: Grenzen sind auch wichtige natürliche und künstliche Gestaltungsinstrumente, sie verdienen Respekt und Schutz, weil sie Respekt verschaffen und Schutz geben sollen. Jede Grenze blindwütig einzureißen und zu übertreten, ist nicht klug. Der Sapiens, der diesen Namen verdienen will, muss im Laufe seines Lebens unterscheiden lernen zwischen den Grenzen, die überwunden, und denen, die geschützt werden müssen. Die Grenzen und Mauern, die der Sapiens am wenigsten braucht, sind die in den Köpfen. Doch die einzureißen, scheint nicht seine Stärke zu sein.
Geboren bin ich im »Bezirk Erfurt«, im heutigen Thüringen, ein westliches Grenzland der DDR, mitten hinein in die zweite Generation mit fluchttraumatischen Erfahrungen. In einer Selbstbeschreibung von mir steht: »Emma Braslavsky wurde in einem Jahr geboren, als man auf der einen Seite der deutsch-deutschen Grenze weitere zwei Millionen Minen in Stellung brachte und auf der anderen Seite Soldaten mit schulterlangem Haar ein Haarnetz verpasste.« Das Haupt-Bauteil der innerdeutschen Grenze war Paranoia. In den achtziger Jahren wurden die Splitterminen durch unter Spannung stehende Signal-Grenzzäune ersetzt. Bei einer Schul-Exkursion ins Werratal, es war ein heißer, flirrender Tag mit einem ordentlichen Westwind, konnte man den spannungsgeladenen Zaun bis über Wiesen und Haine surren hören. Ein hohes, wahnhaftes Fiepen. Der Zaun kreischte und bildete sich in meinem Ohr. Ich war noch zu jung zu begreifen, dass diese Grenze damals schon bloß noch eine vor allem in den Köpfen der Menschen war. Eingehämmert, eingeredet durch die monotone und rhetorisch-verpackte Propaganda von Buchstabenketten wie »antifaschistischer Wall« (staatsbürgerkundeunterrichtskonform) oder »Kalter Krieg«, »Eiserner Vorhang« (Vorsicht: Westfernsehen!). Ich war damals zu jung, meine Generation war damals zu jung. Denn die Mauer hätte genauso gut am 11. November 1982 fallen können, einen Tag nach Breschnews Tod. Andropow und Tschernenko werden seit Putins Machtübernahme in den Weltbild-bildenden politischen Führer-Matroschkas in Russland weggelassen, auf Breschnew folgte halt Gorbatschow. Warum aber fiel die Mauer dann nicht am 11. November 1982? – Dazu fehlte die Generation, die Menschen verstanden die historische Stunde nicht, sie waren desillusioniert, deprimiert und derangiert. Den Sozialismus hatten sie sich anders vorgestellt, die Ahnung, dass es ihn nicht gegeben haben könnte, dass er nur eine Behauptung war und dass sie jetzt die Blöden waren, die die besten Jahre ihres Lebens an eine links-maskierte rechte Diktatur verschwendet haben sollten, trieb viele in die Innere Emigration, sie wurden kommunikationsunwillig und waren voller Misstrauen, sie fürchteten jeden Nachbarn, der sie bespitzeln und verraten hätte können. Eine atomisierte Gesellschaft, ohne Zusammenhalt, eine schwache, leicht zu verängstigende Gemeinschaft. Und die Generation, die dann sechs Jahre später diesen Stein endlich ins Rollen bringen und der ein kleines Meisterstück gesellschaftspolitischer Wende gelingen sollte, war noch zu jung. An dem Tag, am 11. November 1982, bestand sie aber schon ihre erste Nagelprobe: Obwohl Staatstrauer angeordnet war und der Faschingsbeginn mitsamt Verkleidungen auszufallen hatte, beging sie stur und bockig hinter den Hecken und in den Höfen ihren großen Tag, an dem sie einmal im Jahr, ohne Konsequenzen zu fürchten, ihre eigenen, heimlichen Helden außerhalb des sozialistischen und kommunistischen Heldenkatalogs feiern durfte: Superman, Spiderman, Cowboys und Indianer, Hexen und Teufel oder das A-Team. Der 11. November 1982 war deshalb ein mehrfach einzigartiger Tag in der deutschen Geschichte, in der deutsch-deutschen und auch in der internationalen. Diesem Tag habe ich meinen zweiten Roman gewidmet: Das Blaue vom Himmel über dem Atlantik. Denn in diesem Moment hat die Wende zu keimen begonnen.
Grenzen im Kopf sind die hartnäckigsten, denn es sind Programme, die sich wie Trojaner verhalten, die zum System werden, das starke Selbsterhaltungstriebe entwickelt und die Steuerung der Wahrnehmung übernimmt. Aber nur, solange man an sie glaubt. Das Mantra vom »antifaschistischen Wall«, vom »kapitalistischen Aggressor«, vom »Kalten Krieg« war zum Ende der achtziger Jahre zur Klamotte verkommen. Wir glaubten nicht mehr an einen Atomkrieg. Wir hatten Träume. Und wir waren jung. Entschlossen. Und ansteckend. Im Frühsommer 1989 gelang es uns endlich (wir waren vier jugendliche Frauen und nicht alle volljährig), den »Ostblock« zu verlassen. Nach sechseinhalb Wochen ohne Geld und Unterkunft (davon sechs Wochen illegal, weil inzwischen ohne Visum in Ungarn), nach mehreren gescheiterten Fluchtversuchen und Gefängnisaufenthalten. Blöderweise verliebte ich mich zwischendurch auch noch in einen jungen Römer, R., der uns mit seinen Freunden am Balaton aus einer schwierigen Situation rettete. Ich kam aus einer Spezialschule und konnte drei Fremdsprachen fließend sprechen plus das Kleine Latein, aber R.s Englisch oder Französisch waren unterirdisch, Russisch konnte er auch nicht. Uns blieben entweder nur Latein oder Hände und Füße als Mittel, unser Interesse aneinander auszudrücken. So kam es, dass er meine Situation nicht verstehen konnte. Er war noch einige Monate jünger als ich. Als ich ihm erklärte, dass ich auf der Flucht sei und mich verstecken müsse, weil ich gerade die Grenze zu passieren versuchte und es nicht geschafft hatte, und dass ich eine Grenze nur im Kofferraum übertreten könne, weil ich kein freier Mensch und mir ein einfacher Grenzübertritt nicht gestattet sei, da dachte er, ich sei eine Kriminelle. R. machte aber keinen Hehl daraus, dass er damit kein Problem hätte und mich gern im Kofferraum nach Österreich fahren würde. Er gefiel sich sogar in dieser Rolle. In den Tagen mit ihm lebte er sein eigenes Abenteuer mit mir, Bonnie & Clyde, R. & E. Aber wir Mädchen hatten uns bald eine neue Möglichkeit zur Flucht organisiert. Ich bat ihn, sich um meine Reisetasche zu kümmern, die ich nach Rom geschickt hatte, er gab mir seine Telefonnummer, und wir verabschiedeten uns auf ungewisse Zeit.
Am 9. November 1989 war ich in Rom. Bei ihm zu Hause. Seine Nonna Vittoria war noch da. Bis zu diesem Tag hatte er keine Ahnung, welche Probleme ich in Ungarn gehabt hatte. Der Geschichtsunterricht über Deutschland endete in Italien 1945. Und die Deutschlandkarte reichte bis an die östliche Grenze von Hessen. Danach war es grau und düster. Ich weiß noch, wir beide standen in der Küche, als die Großmutter aus dem Wohnzimmer meinen Namen schrie. Ich solle kommen, schrie sie. Denn sie hatte offenbar verstanden. Wir rannten vor den Fernseher. Und als ich die Menschen auf der Berliner Mauer stehen sah, da fielen plötzlich der Stress, die Angst, die Verfolgungsjagden, die zermürbenden Verhöre, die gesamte Flucht, das Verabschieden von meinen Eltern und Freunden, diese Demütigung, ein Mensch zweiter Klasse gewesen zu sein, alles fiel von mir ab. Ich heulte. Vor Erleichterung, dass »dieser Scheiß« endlich aufgehört hatte. Und R. erstarrte. Nein, er hatte am Balaton in einem anderen Film mitgespielt. Endlich verstand auch er, was passiert war. Mein fortgeschrittenes Italienisch ermöglichte mir, ihm jetzt meine Geschichte zu erzählen.
Was mich an diesen Erinnerungen am meisten stört: Sie sind kitschig. So etwas kann man nicht erzählen, wenn es um Flucht aus einer Diktatur geht. Nur die Angst, dass irgendwann daraus jemand einen Fernseh-Zweiteiler fürs ZDF machen könnte, hielt mich bisher davon ab, über meine Fluchterfahrungen ein Buch zu schreiben. Dass ich in diesem kleinen Essay trotzdem darüber schreibe und nicht über die einzelnen Fluchtversuche, also den Flucht-Thriller erzähle, liegt daran, dass ich mich oft nur an die menschlichen Seiten einer schwierigen Sache erinnern möchte, einfach um ihr näher zu kommen und sie besser zu verstehen.
Denn viel wichtiger ist die Frage: Wer brachte das System denn nun zum Einsturz oder besser: zur Kapitulation? Gerade versucht vor allem die AfD, die Wende für ihre Agitprop zu instrumentalisieren. Doch genau das Fehlen solcher radikalisierten Randbewegungen damals, auch auf linker Seite, die Zusammenarbeit, das Selbstvertrauen der jungen Generation, der Optimismus und die Entschlossenheit und vor allem Gelassenheit machten aus der sogenannten Wende eine friedliche Revolution. Die Perestroika durch Gorbatschow war ein wichtiges Signal an die sozialistischen Bruderstaaten, dass die Russen einen eigenen Umbau eingeleitet hatten. Demonstrierende Menschen auf den Straßen, sture Flüchtlinge im Ausland, die nicht bereit waren zurückzukehren, das diplomatische Fingerspitzengefühl der Ungarn, die Geduld und Menschlichkeit beweisen mussten und mehr als nur fair mit den vielen Flüchtlingen, ihren »sozialistischen« Brüdern und Schwestern, umgegangen waren, und nicht zuletzt die klugen Verhandlungen der Bundesrepublik mit den Ungarn, die Flüchtlinge nicht mehr auszuliefern, ein ganzes System von Akteuren, ein Zusammenspiel von Entscheidungen zur richtigen Zeit, die den Druck auf die marode Diktatur derart erhöhten und sie zur Kapitulation zwangen. Die schlimmsten Störenfriede waren noch die aggressiven Medien wie Bild & Co., die das reibungslose, stille Handeln und Verhandeln erschwerten, denn es ging für alle darum, möglichst ohne Gesichtsverlust aus der Nummer herauszukommen. Aber wie heißt es in der Systemfibel von John Gall: »If it isn’t official, it hasn’t happened.« Das Medium hat immer recht und muss immer die Message sein. Und die dümmste Bemerkung von Menschen aus den alten Bundesländern ist: »Was? Du bist 1989 raus? Da hättest du doch einfach abwarten können.« Diese Menschen haben bis heute das »System Wende« nicht verstanden, weil es bis heute von unterschiedlichen Interessengruppen oder politischen Persönlichkeiten für sich vereinnahmt und unterkomplex dargestellt wird. Aber auch, weil es in politischen Archiven und westdeutschen Köpfen museal in einfachen Schubladen verwahrt wird. Als mir 2007 der Uwe-Johnson-Förderpreis für meinen ersten Roman Aus dem Sinn verliehen wurde, die Entscheidung der Jury war einstimmig gewesen, regte sich am selben Abend der Schatzmeister des Mecklenburgischen Literaturvereins, ein Mann aus Westdeutschland, vor Journalisten des Nordkuriers über diese Entscheidung auf, die er nicht nachvollziehen könne, da in diesem Roman ein Bild von der DDR gezeichnet werde, wie es sich mit ihrem im Westen nicht decken würde. Die Empörung über diese Bemerkung des Schatzmeisters war am nächsten Tag in der Zeitung zu lesen. Er habe die Erinnerungen und Auseinandersetzungen der Menschen in den neuen Bundesländern zu respektieren und nicht das Recht, deren Geschichte und Erzählungen zu vereinnahmen und zu kolonialisieren. Wenn 30 Jahre nach dem Mauerfall junge Menschen wie die Frau meines Neffen, eine 30-jährige Leiterin der Max-Planck-Bibliothek in Stuttgart, die in Erfurt geboren wurde, gefragt werden, ob sie im Osten auch Cola getrunken oder überhaupt Zeitungen gehabt hätten, dann frage ich mich, wie können wir die derzeitigen Entwicklungen in unserem Land verstehen und beeinflussen, wenn wir so wenig voneinander wissen und wissen wollen?
Denn was stürzte da ein? Ein links-rechts-nationaler Mischling, eine Kreuzung aus Wille zum Sozialismus mit Mitteln einer rechtsnationalen Diktatur, die letzte gelebte deutsche Utopie, für die Generation meiner Eltern ein fader Trip. Und die Widerspruchseinheitspartei SED verpuppte sich zur PDS, um dann als »die Linke« neu zu schlüpfen. Die deutsche demokratische Widerspruchseinheitsrepublik sollte das beste Beispiel für die endgültige Aufgabe überkommener Links-Rechts-Verständnisse und -Zuordnungen sein. Denn wie heißt es in der Systemfibel noch: »Der Geist des alten Systems spukt weiterhin im neuen.« Jetzt sind die Ostdeutschen, die ehemaligen Genossen und roten Socken, als neue braune Rechte gelabelt worden. Um das zu verstehen, braucht man mehr als einfache Wahrheiten. »Das alte System ist jetzt das neue Problem«, heißt es bei Gall. Es sei denn, man schafft einen systemischen Wandel, eine bundesrepublikanische Wende, eine zweite, gesamtdeutsche. Denn nach den Regeln der Systemantics müsste die alte Bundesrepublik ebenfalls scheitern und ein neues systematisches Selbstverständnis, eine neue gesamtrepublikanische Gestaltungs- und Identifizierungsidee schaffen, die alle Menschen in diesem Land auf neue Art miteinander verbindet. Eine Gestaltungs- und Identifizierungsidee, die auch die alten Bundesländer zu neuen Bundesländern macht. Ansonsten wird das alte System weiterhin das »Problem« des neuen sein. Denn es spukt als Grenze in den Köpfen. Die Mauer wird erst wirklich gefallen sein, wenn auch das gelungen ist.