Sie zweifeln auch daran, dass die Geschichte wahr sein könnte? Sie glauben nicht, wie gegenwärtig die Utopie und wie utopisch die Gegenwart ist?
Dann lesen Sie hier Emma Braslavskys Bericht über einen Teil ihrer Recherchen zu diesem Roman:
Als Archimedes vor über 2200 Jahren sinngemäß sagte: Gib mir einen Punkt, von dem aus ich die Welt aus den Angeln heben kann, konnten wir noch nicht wissen, welche Bedeutung dieser Satz in der Entwicklung der Menschheit haben sollte. Der Harvard-Genetiker George Church sagt heute: Gib mir eine Selektion, und ich werde die Welt verändern. In meinem Roman heißt es: Gib mir ein Haar, und ich verändere deine Welt. Gemeint ist damit nichts Geringeres als: Wir haben unser Schicksal und das unserer Welt in der Hand.
Im Januar 2011 interviewte ich am Berliner Max-Planck-Institut für molekulare Genetik den Genomforscher Hans Lehrach und stellte schüchtern einige Fragen. Damals steckte ich mit meiner Figurenkonstellation in der Klemme. Meine Genetik-Kenntnisse stammten aus dem Schulunterricht der achtziger Jahre und meine Internetrecherchen brachten mich der Lösung meines Problems auch nicht näher. Wie sollte ich es anstellen, dass sich der Architekt Jivan, meine Hauptfigur, und das Wissenschaftlerehepaar Oppenheim nie begegnen, am besten noch auf unterschiedlichen Kontinenten leben, die Oppenheims aber trotzdem an Jivans Zellmaterial samt Genom kommen? Sperma? Blut? – Unmöglich. So etwas verliert man nicht einfach, so etwas lässt keiner irgendwo liegen.
Hans Lehrach klärte mich erst einmal über die Möglichkeit der Reprogrammierung von Körperzellen (somatischen Zellen) zu (pluripotenten) Stammzellen auf, währenddessen sein Telefon klingelte, jemand an der Tür klopfte, ihm etwas zur Unterschrift vor die Nase gehalten wurde. Als einer der Direktoren des Instituts waren seine Gesprächsintervalle eng und streng getaktet. Als er nach weiteren Fragen verstand, dass ich ein längeres Coaching nötig hatte, stellte er mich James Adjaye vor; er leitete damals die Forschungsgruppe Molecular Embryology and Aging in Lehrachs Abteilung.
Ihm schilderte ich, welchen Dienst das Wissenschaftlerehepaar Oppenheim an der Menschheit leisten wollte, dass es ihr Ziel war, das Genom jedes einzelnen Menschen zu »lektorieren« und ihn so gleichsam zu befreien. Ich erklärte ihm, dass ich es mir aus Gründen der Glaubwürdigkeit nicht leisten konnte, zwei Männer erst ein hochphilosophisches Gespräch über das Leben führen zu lassen, das damit endet, wie Oppenheim Jivan ein Becherchen in die Hand drückt und ihn um eine Spermaprobe bittet. Natürlich hätte Oppenheim Jivan auch hinterhältig ermorden, ihn aufschlitzen und sich einen seiner Knochen mitnehmen können, aber das war mir zu unelegant und klang zu sehr nach Wissenschaft im 19. Jahrhundert, nach Dr. Moreau. Und einen Wissenschaftler, der an Tatorten herumlungert und heimlich Blutproben der Getöteten sammelt, das erschien mir zu krude und entsprach im Übrigen nicht dem Habitus der Figur. James Adjaye brach in schallendes Gelächter aus. Ich verstand aber sehr schnell, dass er nicht über meine Idee selbst lachte, sondern über das Plausibilitätsproblem, mit dem ich mich herumschlug. Er sagte mir damals: Es ist eigentlich ganz unkompliziert. Oppenheim braucht nur ein Haar deiner Hauptfigur und kann daraus Jivans Keimzelle züchten. Ein Haar! Etwas, das wir tagtäglich unbemerkt verlieren. – Vier Buchstaben, die noch im selben Augenblick das Universum meines Romans sprengten und einige meiner Probleme mit einem Schlag lösten.
Im anschließenden Rundgang durch die Laborräume sah ich mir Stammzellkulturen im frühen Teilungsstadium an, James Adjaye zeigte mir das Instrumentarium. Mir entging nicht der ungeheure Aufwand, den wir heute noch für diese Prozeduren betreiben müssen; das alles erinnerte mich an die Computerräume in den achtziger Jahren. Aber auch wenn die Prozedur im Moment noch aufwendig ist, ist sie schon in Ansätzen erfolgreich. Im Zuge des anschließenden E-Mail-Wechsels zwischen James Adjaye und mir vereinfachten wir auf mein Bitten (aus dramaturgischen Gründen) einige heute noch hochkomplexe Schritte, die (wie er mir versicherte) im Lauf des technologischen Fortschritts sowieso versimplifiziert werden würden.
Erst im Februar 2016 veröffentlichte der Independent einen Artikel, in dem berichtet wird, wie es Forschern in China gelungen ist, aus Hautzellen einer männlichen Maus funktionstüchtige Spermazellen zu züchten, mit denen im In-vitro-Verfahren die Eizellen einer weiblichen Maus erfolgreich befruchtet wurden. Die Spermazellen wurden aus Stammzellen eines Mausembryos gewonnen. Im Artikel heißt es: »… aber es wäre auch möglich, embryonale Stammzellen zu benutzen, die von erwachsenen Hautzellen stammen, eine Methode, die unfruchtbaren Männern erlauben könnte, Vater zu werden.« Die Hautzellen müssten in embryonale Stammzellen reprogrammiert werden. Im Experiment wurden die Stammzellen in einer Nährlösung zusammen mit Zellen aus dem Maushoden gezüchtet. Während der anschließenden Zellteilung (Meiose) halbierte sich der Chromosomensatz zu einer haploiden Keimzelle. Die Spermatiden wurden dann mithilfe einer Pipette erfolgreich in die Eizelle der Maus eingepflanzt. Auch wenn es im Augenblick nur bei Mäusen gelungen ist – dieses Verfahren auch bei Menschen anwendbar zu machen ist nur eine Frage der Zeit.
Bereits 2014 las ich im populären Science-Blog IFLScience! von einem ähnlichen Experiment, über das das Fachmagazin Cell zuvor berichtet hatte. Aus ein und derselben menschlichen Hautzelle (sie werden in der Regel aus den Hornzellen von Haaren gewonnen) wurden Urkeimzellen (PGCs), also Vorläufer von Ei- und Spermazellen, in einer Petrischale kultiviert. Hier arbeitet die Molekularembryologie schon an der Überwindung der Geschlechterrollen. So könnten für gleichgeschlechtliche Paare Möglichkeiten entstehen, eigene Kinder zu bekommen.
»Leben, irren, fallen, triumphieren. Leben neu erschaffen aus Leben!«, schreibt James Joyce in Ein Porträt des Künstlers als junger Mann. Ein Zitat, das, aus dem Zusammenhang gerissen, auch die wörtliche Rede eines heutigen Forschers der synthetischen Biologie sein könnte, eines Forschers wie Craig Venter, der 2010 Furore machte, als er die erste synthetische Zelle namens Mycoplasma genitalium JCVI-syn 1.0 erschuf, die er aus dem gleichnamigen Bakterium entwickelt hatte, einer Lebensform mit dem kleinsten Genom auf dieser Erde von nur 580.000 Basenpaaren (zum Vergleich: das menschliche Genom hat mehr als 3 Milliarden Basenpaare). Venter schleuste in eine Zelle des Bakteriums ein zweites, synthetisches Genom ein, versah dessen DNA mit verschiedenen Wasserzeichen, unter anderem mit dem besagten Zitat von James Joyce, um sie voneinander unterscheiden zu können. »Mit dem vollständigen Austausch der Software wurde der alte Organismus eliminiert und ein neuer geschaffen«, sagte Craig Venter über das Experiment. Das künstliche eingeschleuste Genom agierte wie ein Virus und übernahm die Kontrolle der Zelle.
2012 dann, mit Erscheinen des Buchs Regenesis von George Church und Ed Regis, wurde mir klar, dass jenes kühne Projekt, das mein Wissenschaftlerehepaar verfolgt, überhaupt nicht so abstrus oder auch nur abwegig ist, dass es nicht einmal mehr nur ein alter Menschheitstraum ist, sondern von ernstzunehmenden Fachleuten rund um die Welt als baldiges Szenarium angesehen wird. Auf Seite 21 von Regenesis fragt sich der Harvard-Genetiker Church: »Können neue Lebensformen existieren, die keine Wurzeln in früheren Lebensformen haben – eine echte künstliche oder synthetische Lebensform?« Das ist der Traum von der Überwindung der Geschichte. Heute wissen Genetiker, dass eine Zelle (was heißt: jeder von uns) nicht allein vom Genom gesteuert wird, sondern vor allem von der Umgebung, der Geschichte und den Entscheidungen, die die Zelle als Reaktion auf all diese Reize setzt. Sie wissen jetzt, warum die Welt so ist, wie sie ist: Weil der Mensch sie nur nach seinem Wesen und seinen Bedürfnissen gestalten kann, aber die Welt maßgeblich auf unser Wesen einwirkt, auswählt und immer dieselben Veranlagungen konsolidiert. Wir haben diese Welt erschaffen, und sie erschafft uns wieder und wieder. Können wir diesen Teufelskreislauf jemals verlassen? »Wie Genetiker gern zu sagen pflegen, die Gene mögen den Revolver laden, aber die Umgebung betätigt den Abzug.« Und ich würde als Weisheit hinzufügen: Wurzeln stören beim Fliegen.