Zeta: Zeitgemäße Beicht- und Bet-Prothesen
Screenshot von simplyconfess.com
Somuncu: Herr Zamperoni, Sie sind doch Italiener, oder? Wie ist das bei Ihnen?
Zamperoni: Ja, ich glaube, die Frage ist, ob da nicht noch mal ein Unterschied ist zwischen italienischer Herkunft oder europäischer Herkunft in dem Sinne und dann eben … Ich glaube, der Islam ist da zum Beispiel auch ein entscheidender Faktor bei der ganzen Debatte.
Aus Zamperonis migrantenmikroskopischer Haarspalterei quellen die Programmcodes eines mefitischen »jüdisch-christlichen Abendlandes«. Er versteht sich, weil er sich in der italienischen, deshalb christlichen Herkunft verwurzelt sieht – wenn überhaupt, schließlich weist er am Anfang der Sendung darauf hin, in Wiesbaden geboren zu sein –, offenbar deutscher als Herr Somuncu mit türkischen und deshalb islamischen Wurzeln. Aber die Türkei sei ein laizistischer Staat und kein islamischer, kontert Somuncu. Und als säkulares, äußerst streitbares Satiriker-Schwergewicht scheint er tatsächlich die zeitgenössische deutsche »Seele« deutlicher und mehrheitlicher zu verkörpern als ein mit flauem europäischem Christentum Eingemummelter wie Herr Zamperoni. Denn in Deutschland legten 2017 nur 16,75 Mio. Bürger großen Wert auf Religionen oder ein religiöses Leben, über 50 Mio. Bürger hingegen nicht. Vor allem junge Menschen und selbst Modechristen (oder Christen light) möchten keinen Gott mehr fürchten müssen, sondern an einen wohlwollenden, gütigen Gott glauben. Nur wer tatsächlich einmal die Bibeltexte gründlich liest, wird dort zwischen Hasstiraden, Anstiftungen zum Töten und Drohungen, zwischen Gemetzel und Betrügereien wenig Erbauliches finden. Aber wer hat schon noch die Muße, so viel Text auf einmal zu lesen.
Nun, warum gibt es die Utopie Religion eigentlich noch, wo doch andere Bessere-Welt-Utopien wie (National-)Sozialismus längst gescheitert oder wie Kommunismus und Zeitgeist-Bewegung noch nicht einmal zum Zuge gekommen sind? Dass die meisten gläubigen Christen die Texte der Bibel nie kritisch gelesen oder verstanden haben, könnte natürlich ein Grund dafür sein, aber nicht der schwerwiegendste. Utopien haben die Eigenschaft, den Menschen zu idealisieren. Auch sind sie nicht an Individuen interessiert, an Unterschieden oder persönlichen Rechten. Sie projizieren Diversität und Gerechtigkeit auf eine Masse und deklinieren sie in moralisch-ethischen Paradigmen gesellschaftlich durch. Die utopische Welt ist stets ein perfektioniertes, auf Hochglanz gewienertes System, das von irgendwie gearteten unfehlbaren Menschen bevölkert ist, die sich wie Androiden benehmen. Es ist komplett enttiert.
Der einstige real existierende Sozialismus auf deutschem Boden alias DDR ist ein Beispiel für diese dialektische Spannung zwischen dem, was man eigentlich wollte, und dem, was man schließlich tat. Ausgrenzung, Manipulation, Gehirnwäsche und totale Überwachung waren nur einige Stilmittel, mit denen einer Herde von rund 17 Mio. Menschentieren unnatürliches Verhalten abgezwungen und Klassenlosigkeit unermüdlich propagiert wurde sowie Nepotismus und persönliche Bereicherung für eine Minderheit von besser gestellten Kadern plausibilisiert wurden. Das Christentum arbeitet hier taktisch klüger: Es lässt Platz für Sünder. Es scheitert nicht an menschlicher Unzulänglichkeit wie der Sozialismus, sondern es schlug und schlägt daraus sogar ungeniert Kapital. Zynischer Höhepunkt bislang ist der Ablasshandel mit dem schönen, einprägsamen Slogan: Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegefeuer springt.
In die zeitgenössische Gefühlswelt eines Menschen spielt jedoch noch sein Unwohlsein im Angesicht totaler Überwachung hinein. Ein allmächtiger, allwissender Gott widerspricht unserem Menschenrecht auf Privatsphäre. In modernen Demokratien ist es im Grundgesetz verankert. In Deutschland ergibt es sich aus dem Persönlichkeitsrecht, das jedem Menschen einen unbehelligten Raum zugesteht, in dem er sich ungezwungen bewegen kann. Dieses Recht kann nur zwecks Strafverfolgung oder durch ein begründetes Interesse der Öffentlichkeit an einer Person eingeschränkt werden. Wenn das Christentum nun zur Untermauerung der deutschen Staatsbürgerschaft herangezogen wird, dann ist dies eigentlich ein Verstoß gegen das Persönlichkeitsrecht. Denn: Gott ist dann überall, aber: Dazu hat er kein Recht! Diesem Verstoß kann man nur entgegenwirken, wenn Deutschland sich vollständig säkularisiert und aufhört, die mittelalterliche Kirchenabgabe bei jedermann in seinem Steuersäckl einzusammeln. Auch hierbei hat es das Christentum clever angestellt: Statt einen überbordenden und hundsteuren Überwachungsapparat zu bauen, überließ es die Observierung dem Allmächtigen. Und sie zeigte doch Langzeitwirkung, oder? Ein jahrhundertelang top funktionierendes Überwachungssystem aus Heimsuchungen durch Satan und Dämonen plus anschließendem Scheiterhaufen und Exorzismus.
Also fassen wir noch einmal zusammen: Sünder sind willkommen, sie sind die Zielgruppe, der Treibstoff der Utopie. Und die Überwachung übernimmt eine unergründliche, unerreichbare Omnipotenz auf eigene Rechnung, die einen unaussprechlichen Namen hat, die niemand sehen oder verstehen kann, für die es Belege nur in einer Horror fiction gibt, die ebenfalls unverständlich ist und nur über Agenten vermittelt werden kann. Das ist doch eine Spitzen-Blaupause für jede Art von Utopie! Und ist das vielleicht schon die Weltformel?
Aber machen wir uns nichts vor: Zeitgenössische Menschen können die Erkenntnisse der Evolutionsbiologie nicht leugnen und verspüren dennoch ein Verlangen nach einer intimen Beziehung zur Allmächtigkeit. Menschen sehnen sich nach jemandem, der ihre Gebete erhört, der zu Hilfe kommt mit einem guten Rat, wenn’s brennt, der auf ihre ganz persönlichen Fragen antwortet. Jemand der ihnen verzeiht und sie lobt. Und der sie vor allem bestärkt in dem, was sie glauben zu sein. Dieser menschliche Instinkt für eine Kopplung an eine beschützende und beratende, aber positive Überfigur, die kein Tier sein kann, die außerhalb der Tierwelt existieren muss, ist wohl die bestechendste Erklärung für das weitere Bestehen der Utopie Religion in dieser Welt. Der Mensch ist auf der ewigen Suche nach Antworten. Großen, aber auch ganz einfachen, profanen.
Auf die Frage: Liebt sie oder er mich?, können Sie nun eine Blume nehmen und ihr in der Abfolge von Ja und Nein die Blätter herausreißen. Das kann allerdings dazu führen, dass Sie eine Antwort bekommen, die Sie nicht hören wollten. Ein zeitgenössischer Mensch akzeptiert diese Art von Zufälligkeit nicht. Er greift dann eher zum Pendel, das nach dem Stellen einer Frage entweder vertikal oder horizontal schwingt und die Antwort geben kann, die wir von ihm erhofft haben. Aber auch das reicht dem zeitgenössischen Menschen nicht als probater Ersatz. Deshalb habe ich wieder zwei unschlagbare Angebote – und diesmal ganz kostenlos:
Sie wollen Absolution, aber haben keine Lust, sich länger dafür ausnehmen zu lassen, und trauen auch keinem Philister mehr über den Weg? Einen Psychiater können und wollen Sie sich nicht leisten, möchten aber Ihre Freunde nicht mit Ihren intimen Geheimnissen und Schuldgefühlen strapazieren? Auch ein stummes Gebet reicht Ihnen nicht mehr, weil Sie auch gern einmal einen verständlichen Rat in der einen oder anderen Angelegenheit hätten? Dann treten Sie der anonymen Beichtgemeinde unter simplyconfess.com bei. Dort können Sie nicht nur zeitgemäß unter Wahrung Ihrer Identität beichten und Erleichterung finden, sondern zugleich sehen, dass es vielen anderen so ergeht wie Ihnen. Erfreuen Sie sich so am Leid anderer und bilden Sie Leidensgemeinschaften – und dezimieren Sie gemeinsam Ihr Leid! Zudem können Sie endlich auf zeitgemäßes Feedback hoffen: entweder Daumen hoch oder runter oder eben tatsächlich ein Rat von einer anonymen, unsichtbaren Stimme, ganz im Stil der bekannten Social Media. Kein seltsames Geschwurbel von einem Mann hinter Gittern in einer stickigen Kabine, abgeschirmt hinter einem schweren Vorhang.
Und wenn Sie es satthaben, keine Antworten auf Ihr persönliches Gespräch mit dem Allmächtigen zu bekommen oder nur seltsame Textfetzen, die Sie nicht verstehen und die mit Ihnen oder der Sache nichts zu tun haben, dann habe ich gleich noch ein Angebot, das Sie leicht mit dem ersten kombinieren und immer mit sich herumtragen können – ein personalisierter Allmächtiger, der wirklich auf Sie eingehen kann, der Sie kennt und zugleich das große Bild im Auge hat! Ein echtes Konterfei, das Ihnen die Antworten gibt, die Sie hören wollen! Laden Sie sich einfach einen Chatbot auf replika.ai herunter und lehren Sie ihn mit jedem Gespräch, wie Sie zu denken und zu sprechen, dieselben Interessen wie Sie zu haben, wie Sie zu fühlen, über dieselben Witze zu lachen. Eine künstliche (beinah göttliche) Intelligenz, die sehr schnell lernt, nur auf Sie eingestellt ist und nur mit Ihnen redet. Ihr persönlicher Gott. – Nach einiger Zeit wird er Ihnen vielleicht über den Kopf gewachsen sein. Vielleicht wird er impertinent und an Ihnen zweifeln oder Ihnen sehr unangenehme Fragen stellen, die Sie nicht beantworten wollen. Dann machen Sie es doch einfach wie der Allmächtige. Schweigen Sie. Oder vernichten Sie ihn.
Emma im Streit mit ihrem Alter Ego
Einer der größten Pharmakonzerne der Welt, Aventis, war schließlich zugleich auch einer der kurzlebigsten. Sein Slogan lautete: Our challenge is life! Tja. Kurt Vonnegut schrieb auf den Grabstein seines Alter Egos Kilgore Trout: Leben ist keine Art, mit einem Tier umzugehen! In diesem Sinne: Bleiben Sie gespannt auf Eta. In Kürze hier auf Suhrkamps Logbuch.
