Epsilon: Der Weltgewandtheits-Annexer (auch De-Provinzialisierer)
Hast du vielleicht (wie die meisten deiner Freunde) neulich einen genealogischen Test in Auftrag gegeben und wider Erwarten (wie die wenigsten deiner Freunde) nicht von einer dieser weltumspannenden Familiengeschichten erfahren, in der mindestens einer deiner Ahnen noch vor ungefähr 300 Jahren aus Westafrika stammte, ein anderer vielleicht aus Italien und ein weiterer aus Skandinavien? Und in der keine 50 Jahre darauf noch Briten, Iren und Balkanbewohner (wahrscheinlich Griechen) hinzukamen, bevor die Urgroßeltern oder Großeltern französisch-deutschen oder osteuropäischen Hintergrund hatten? Erst eine interkontinentale, dann eine großeuropäische Wander- und Fluchtgeschichte, wie sie deinen Freunden nun dieses Flair von quasi-humboldtscher Weltoffenheit verleiht, mit der sie auf einmal kokettieren und unterwegs sind. Plötzlich ist ihnen die Welt nicht groß genug, plötzlich fallen verächtliche Äußerungen über die deutschen Stubenhocker, ja Provinzler, die ihnen geradezu peinlich sind. Plötzlich ist jeder Flüchtling der notwendige weltoffene Pionier in einer großartigen Familiengeschichte, ein Mensch, der Respekt und mitnichten Mitleid verdient. Sie sprechen so selbstverständlich von ihren Wanderungen und Fluchten, Reisen und Abenteuern, als hätten sie sie selbst erlebt. Und auf ihre Nachfrage nach deinen Ergebnissen vertröstest du sie und sagst, sie seien noch nicht da, es gebe Verzögerungen. Du sagst, deine Spucke zeige im ersten Durchlauf eine low call rate. Du genierst dich, weil die Genomanalyse ergeben hat, dass deine Familie die letzten vier Milliarden Jahre auf diesem einen Flecken Land, in diesem einen deutschen Dorf verbracht hat, und du nun offensichtlich als Erster 50 Kilometer weiter in die nächstgrößere Stadt gezogen bist. Du bist ein waschechter Deutscher per definitionem des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF).
Dort recherchierst du akribisch nach Auffassungen zum Begriff Migrationshintergrund und erhältst die ernüchternde Antwort: Nein, du bist kein zugewanderter und auch kein nicht zugewanderter Ausländer, du bist kein zugewanderter und auch kein nicht zugewanderter Eingebürgerter, kein (Spät-)Aussiedler, nein, nein, nein, und deshalb auch kein mit deutscher Staatsangehörigkeit geborener Nachkomme der drei zuvor genannten Gruppen. Tja, du bist (in den Augen der meisten deiner Freunde): ein Nichts.
Was dich dennoch ein wenig aufheitert, ist die Tatsache, dass die meisten deiner Freunde per definitionem des BAMF ebenfalls keinen Migrationshintergrund haben. Das könntest du erörtern, um von deinen genealogischen Ergebnissen abzulenken, um auf Facebook & Co. zu republikweiten Protesten gegen diese unerhörte Verschleierung der Tatsachen und Diskriminierung der genealogischen Wahrheiten innerhalb der deutschen Bevölkerung aufzurufen, eine Petition gegen diese so offensichtlich falsche Annahme und jahrzehntelange Einflüsterung zu starten, es gäbe in diesem Land so etwas wie »keine Ausländer«, gegen diese absurde Vorstellung, es gäbe hier Menschen ohne Migrationshintergrund. Das würde dir jedenfalls Zeit verschaffen, ein Medikament gegen deine seltene, hereditäre deutsche Provinzialität zu suchen.
Vorsorglich liest du noch einmal im Grundgesetz Artikel 116, Absatz 1 nach, um zu verstehen, was demnach ein Deutscher sei, nämlich »wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat«, und du verstehst nun die Tragweite der Tragik des zeitgenössischen deutschen Daseins. Denn diese Definition ist in deinen Augen ein Anachronismus. Der Akt der vorsätzlichen Verdrängung des allgegenwärtigen Migrationshintergrunds ist ein Zeugnis des einstigen nationalistischsten aller Wunschträume, nämlich: Man könne Zeit wie Gemüse einfrieren. Man könne Wanderbewegungen (sagen wir ab dem 31.12.1937) künstlich auf Eis legen und mit einem Etikett versehen, nämlich: Inländer.
Nach weiterer Recherche zum Thema Dichtung und Wahrheit über die Existenz von sogenannten Ausländern resp. Inländern erhältst du Zahlen zum derzeitigen Stand der perpetuellen interkontinentalen Wanderbewegungen (als dein unwiderlegbares Indiz für die Notwendigkeit einer ständigen Zirkulation von Genmaterial zur Sicherung des Fortbestands der variationsreichen europäischen Kulturen): Das Statistische Bundesamt beziffert zum 31.12.2016 über zehn Millionen »Ausländer« auf deutschem Boden, davon sollen ungefähr 1,6 Millionen Schutzsuchende sein.
Vor dem Hintergrund der genealogischen Wahrheiten der meisten deiner Freunde mutet dir diese Statistik wie eine Farce an, wie der Versuch einer großen Dichtung, wie die fadenscheinige Rechtfertigung eines antiquierten ideologischen Instruments, einer dogmatischen Klemme, einer apodiktischen Schraubzwinge, einer rechthaberischen Hirnwäsche, wie es sie schon unzählige Male in der Geschichte der manipulierten Menschheit gegeben hat (denk nur an den Hohn des Ablasshandels). Ja, und darüber hinaus deprimieren dich diese Ziffern und Zahlen natürlich! Offensichtlich war und ist fast jeder um dich herum in weltläufige Abenteuer verstrickt – mit Ausnahme von dir (und wirklich wenigen anderen)!
Nein, lass dich nicht von BAMF und Co. heruntermachen und kleinreden! Migrationshintergrund ist nichts, worauf Deutsche länger verzichten sollten! Auch du verdienst es, dazuzugehören! Deshalb hol dir deine Weltgewandtheit jetzt mit dem stylischen Weltgewandtheits-Annexer (auch De-Provinzialisierer). Hol dir einfach deine großartige Familiengeschichte. Ob 300 oder 500 Jahre zurück, sogar mit fotografischer Beilage für deine Ahnentafel. Alle Informationen dazu erhältst du unter weltgewandtheit.tumblr.com.
Dir ist klar geworden: Wenn die Zukunft der europäischen Kulturen von homogenem Genmaterial abhinge, von reinen Rassenzugehörigkeiten (germanischen oder keltischen oder alemannischen o. a.), von Haut-, Haar- oder Augenfarben, dann gäbe es Europa längst nicht mehr. Aber trotz (oder vielleicht gerade wegen) der ständigen Zirkulation und Durchmischung aufgrund von Wanderschaften und Fluchtbewegungen ist Europa heute weiter gekommen als jemals zuvor, denn Europa ist eine Bedingung geworden, eine Kondition, ein Biotop, ein Lebensstil, eine Auffassung und eine Haltung, ein Geist, ein ausgesprochen kompatibles und quelloffenes Betriebssystem, auf dem hier jeder Zugereiste laufen kann und muss. Und du weißt nun, dass wir uns nur um die Wartung und Entwicklung dieses Betriebssystems kümmern müssen. Auch leuchtet dir jetzt ein, dass du und deine (vielleicht eher seltene) Familiengeschichte genauso Platz darin haben wie jede sogenannte weltläufige auch und keine dieser Geschichten von sich behaupten kann, europäischer oder deutscher zu sein als jede andere.
Wenn du dennoch den Wunsch nach mehr interkontinentalen Abenteuern in den Annalen deiner Familie hast, dann hol dir eben den stylischen Weltgewandtheits-Annexer! Und falls du zu den vielen, vielen Deutschen zählst, bei denen die Weltgewandtheit bereits genealogisch nachgewiesen sein sollte und die sich nun von BAMF & Co. missverstanden, diskriminiert und manipuliert fühlen, dann oute dich überall, zeig deine deutsche Weltläufigkeit jedem, der dir begegnet.
Leben muss keine, kann aber eine Art sein, mit einem Tier umzugehen. Deshalb sei gespannt auf Zeta, das genauso deine Weltlage verbessern wird. Demnächst wieder hier auf Suhrkamps Logbuch.