Delta: Der Invert-Pseudoskop-Blicktransformator
Das Problem an Problemen sind nicht die Probleme selbst, die wären nicht weiter problematisch, sondern vielleicht nur chronische Begleiter wie ein Reizhusten, wenn wir sie nicht als Probleme erkennen würden und deshalb lösen müssten. Aber du und ich wissen, dass es immer schwieriger wird, Probleme zu lösen. Besonders auf politischer Ebene scheinen Problemlösungsversuche eher noch mehr Probleme zu schaffen. »Mindestlohn schafft mehr Probleme«, heißt es dann beispielsweise im FOCUS. Oder: »Der Strategiewechsel in der Gesundheitspolitik schafft mehr Probleme« (WISO direkt). Oder: »Warum der Wiener Flüchtlingsgipfel Probleme schafft« (Süddeutsche Zeitung). Oder auch: »Rente: Politik löst lieber gefühlte Probleme als echte« (DIE WeLT). Diese Probleme, die hier offenbar erzeugt und aufgebaut werden, existieren aber natürlich nicht für jeden, sie werden aus einer bestimmten Sichtweise heraus gesehen und behauptet. Eine moderne, will heißen: komplexe Demokratie kokettiert mit ihrer Meinungs- und Interessenvielfalt. Leider wird diese Komplexität und Vielfalt von einer über zweihundert Jahre alten Denkrichtungsschaltung korrumpiert und in zwei Bahnen gebündelt: in links und rechts. Durch dieses Schema, durch Polarisierung und reflexartige Blickwinkelausrichtungen werden Probleme unnötig verstärkt und vergrößert, ja sie werden gar nicht wirklich erkannt, sondern oft bloß übernommen.
In ihrem Nachschlagewerk Pocket Politik macht die Bundeszentrale für politische Bildung unter dem Buchstaben ›R‹ und dem Stichwort ›Rechts-Links-Schema‹ einen von leichter Verzweiflung getragenen Erklärungsversuch über rechte und linke Werte. Sie konstatiert: »Die heutige Verwendung der Begriffe ist teilweise verwirrend.« ›Links sein‹ heißt demnach: Du strebst nach Gleichheit in einer Gesellschaft voller kosmopolitischer Individuen. Du willst spontan und formlos sein mithilfe staatlicher Planung. Du willst Nähe, Wärme und Gerechtigkeit durch öffentliche Kontrolle. Rechts ist demnach, wer die Unterschiede in einer national gedachten Umgebung betont, wer Autorität und Regelungen fordert, aber zugleich an Eigeninitiative und Wettbewerb in einer Privatwirtschaft glaubt. Zudem gibt es ein rechtes Lager bei den Linken und ein linkes bei den Rechten. Wo bin ich also? Ich mag es, eigensinnig, spontan und formlos zu sein, ich glaube und genieße die Unterschiede und will eine Gesellschaft voller kosmopolitischer Individuen. Nichts widerstrebt mir mehr als Gleichmacherei und Planwirtschaft, öffentliche Kontrolle oder nationalpolitische Enge. Ich plädiere immer für die Freiheit, die Eigeninitiative und den Wettbewerb unter einem sozialen Blickwinkel. Mehr Gerechtigkeit klingt in meinen Ohren nach politischer Propaganda, denn sie beschreibt oft genug nur ein persönliches Empfinden bei einer individuellen Sachlage. Wo stehe ich also? Die Antwort kann nur lauten: an meinem individuellen Standpunkt.
Links und Rechts voneinander zu unterscheiden, wurde uns nicht in den Schoß gelegt. Zwanzig bis dreißig Prozent der Menschen lernen das nie. Evolutionsbiologisch hat diese Dichotomie keinen Sinn, wir sind allozentrisch geprägt. Dem Homo sapiens wurde zwar ein Kompass installiert, der richtet sich aber nach den Himmelsrichtungen aus. Im Rechts-Links-Schema zu denken, heißt, es sich mühsam entgegen unserem Jahrmillionen alten Orientierungsprogramm anzueignen, um darin gefangen zu sein. Im Rechts-Links-Schema zu denken, heißt außerdem, einen egozentrischen Blickwinkel einzunehmen, worin Kant noch eine Tugend sah: »Da wir alles, was außer uns ist, durch die Sinne nur insofern kennen, als es in Beziehung auf uns selbst steht, ist es kein Wunder, dass wir Begriffe wie rechts, links, oben, unten, vorn und hinten von dem Verhältnis zu unserem Körper hernehmen.« Zwei unabhängige Studien, eine vom Max-Planck-Institut und eine von der Wesleyan University Connecticut, belegen Kants Irrtum. Beide kommen zum selben Ergebnis: dass Menschen, die sich mit einem egozentrischen Blickwinkel bewegen (vor allem Erwachsene der westlichen Welt), verheerende Probleme bei der Ortung von Dingen haben, die sich ebenfalls im Raum bewegen. Schon eine Drehung reicht, schon eine leichte Richtungsänderung, und sie verlieren den Bezug. Obwohl Kant als Kind noch nicht lernen musste, mit dem Messer rechts und der Gabel links zu essen, das kam erst gute einhundert Jahre später in Europa auf, wurde auch ihm das Denken im Rechts-Links-Schema (damals noch nicht politisch) eingebläut.
Welche Konsequenzen jedoch eine Fehlortung durch unsere überlagerte egoistische Perspektive und das Denken im Rechts-Links-Schema haben kann, zeigt ein Fall aus dem Klinikum Kassel im Jahr 1999: Einem Krebspatienten wurde fälschlicherweise der gesunde Lungenflügel operativ entfernt, er starb ein Jahr darauf. Dieser Fall ist kein Kuriosum, in mehr als einhundert Fällen jährlich werden Patienten auf der falschen Seite operiert. Bloß eine Drehung auf den Rücken oder ein seitenverkehrtes Röntgenbild entscheiden hier über Leben und Tod.
Was also tun? Dem Rechts-Links-Schema entkommen kannst du nur, wenn du der erlernten Orientierung entgegenwirkst. Dazu empfehle ich den Invert-Pseudoskop-Blicktransformator. Damit ein Problem zu einem Problem wird, musst du es ja zunächst als solches erkennen. Die Herausforderung ist jetzt, zu erkennen, ob es überhaupt dein Problem ist. Das kannst du nur wissen, wenn du erst einmal deinen eigenen Standpunkt ermittelst. Dazu benutzt du zunächst das Vertexskop-Modul in deiner Brille, mit dem sich das Sichtfeld um bis zu 360° drehen lässt. Jetzt kannst du dich auch aus zehn Metern Entfernung beim Betrachten des Problems betrachten und in jedem Moment die Unabhängigkeit deiner Position überwachen. Natürlich könnte es sein, dass dich dein Anblick überrascht, ja sogar befremdet, du könntest finden, dass du mit dieser Brille reichlich bescheuert aussiehst, aber bedenke, welche Belohnung auf dich wartet. Also: Solltest du glauben, ein Problem zu haben, das in den verwirrenden Denkströmen des Rechts-Links-Schemas unnötig groß erscheint, dann greife als Nächstes zum Invertoskop-Modul der Brille, um dieses Problem in seiner vertikalen und horizontalen Umkehrung und aus der Sicht der Gegenseite zu betrachten. Hier kann man auch noch mit dem Rot-Schwarz-Färbungseffekt des Pranaskop-Moduls nachhelfen.
Im nächsten Schritt, in der Kombination von Pseudoskop, Portaloskop oder auch ausschließlich mithilfe des Panoramaskop, einer Art binokularen Fischauges, könntest du versuchen, dir das Phänomen aus der Nähe anzuschauen, indem du es aus seinem Kontext herauslöst, und so feststellen, ob es überhaupt ein Problem für dich ist, für dich persönlich. In den meisten Fällen hat sich die Sache schon hier erledigt, allein durch derartige Blickwinkelveränderungen. Es ist vielleicht nicht ganz verschwunden, aber sehr wahrscheinlich kleiner geworden. Und schon die zahlenmäßige Minderung der tatsächlichen Probleminhaber ist ein großer Schritt zur Fast-Lösung. Gegen Reizhusten helfen vielen ja auch schon Honig-Holunder-Bonbons.
Sollte das Problem trotzdem noch als größeres für dich zu erkennen sein, darfst du jetzt das Hyperskop-Modul einsetzen, die nicht ungefährliche Hyperraumwaffe, die letzte Konsequenz, die dein Raumverständnis komplett außer Kraft setzt, Form und Inhalt aus den Fugen löst und dein Problem bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Aber Vorsicht! Die Nachwirkungen dieser letzten Sehübung sind von Mensch zu Mensch und Problem zu Problem unterschiedlich. Solange sich dein Sehfeld im Anschluss nicht wieder vollständig stabilisiert hat und du deinen (nun eigenen) Standpunkt noch nicht eingenommen hast, empfehle ich hier, vom Verfassen und Veröffentlichen von Manifesten, vom Gründen neuer Parteien oder gar Anzetteln von Revolutionen abzusehen. Baldrian, Melisse oder Zitronengras helfen vorerst gegen solche Impulse.
Die genannten Blicktransformationen gibt es ansonsten auch in schonenden Einzel-Ausführungen, je nach Sachlage deines vermeintlichen Problems. Einfach hier nachschauen.
Und für alle, die sich nach dieser schweißtreibenden Blickwechselerfahrung auch für den Alltag ein handlicheres, stylisches Instrument zur besseren Welterkennung gönnen möchten, denen kann ich ein Facettenauge-Monokel, auch Mirage-Scope genannt, bei Karmarocket in Rot, Lila, Pink oder Grün empfehlen. Ein großartiges kleines Tool, mit dem du mit nur einem Auge deinen Sichtraum selbst und unabhängig und aufs Genaueste überwachen kannst.
Leben sei keine Art, mit einem Tier umzugehen? Mach dich bereit für mein nächstes Puzzleteil in diesem Periodensystem der Selbstermächtigung hier auf Suhrkamps Logbuch.