Beta: Aufnäher für eure Kutten
Im Entwurf des letzten Armuts- und Reichtumsberichts aus dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales wurden für die Endfassung einige Passagen gestrichen, aus denen klar hervorging, dass »Menschen mit mehr Geld einen stärkeren Einfluss auf politische Entscheidungen haben als Einkommensschwache«, meldeten Süddeutsche, WeLT etc. Der Artikel in der Welt schloss mit dem Satz, die Gründe für die Streichung dieser Passagen seien noch unklar. Die Gründe sind aber vollkommen klar. Die Passagen wurden nicht etwa gestrichen, weil die Bundesregierung diese Tatsache vor uns verheimlichen, sondern weil sie uns nicht für blöd verkaufen wollte. Das wissen wir schon lange, das war schon immer so, sogar oder gerade in Zeiten kommunistischer Regimes. Im Hinblick auf die weitere Entwicklung unserer westlichen Demokratien ist Armut also unverantwortlich, denn sie entwickelt offensichtlich kaum Einflusssphären! Einkommensschwache Menschen fahren im toten Winkel unserer demokratischen Gesellschaften. Aber die Armut der ersten Welt ist im Gegensatz zu deren Reichtum viel komplexer in ihren Ursachen. Hier soll die Rede sein von Armut als radikalisiertem Lebensstil, von einer romantisierten Weltauffassung der Underdogs.
Die folgenden Gedankengänge mögen unorthodox erscheinen, denn Armut zu kritisieren, ist aufgrund des unterkomplexen Bildes, das wir von ihr haben, tabu. Aber: Das Problem bei der Arm-Reich-Schere in der westlichen Welt sind eben nicht nur die Reichen. Narzisstische Big Player oder egomanische Männer bzw. Frauen von Welt sind bereits als pathologische Bilder ins Register der psychischen Störungen aufgenommen worden. So weit sind wir schon. Wir ahnen, dass es nur Reiche geben kann, wenn es Arme gibt, und umgekehrt. Wahrscheinlich schüttelt es die Leserinnen und Leser jetzt, wenn ich sage, dass die Steueroasen in Deutschland nicht nur die Reichen begünstigen. Belohnen wir Armut? Wenn wir unser Arm-Reich-System verstehen und verändern wollen, sollten wir nicht bloß die Selbstgerechtigkeit der Wohlhabenden für den Drift verantwortlich machen. Eigennutz und Eigensinn liegen jedem Menschen in den Genen. Sind sie an den sozialen Randzonen unserer Gesellschaften besonders ausgeprägt?
Wie kann man in einem reichen, mit Sozialmaßnahmen üppig ausgestatteten Land wie Deutschland arm werden? Für eine Frau reicht es, Kinder zu bekommen und dazu noch alleinerziehend zu sein. Für ein Kind reicht es, in eine Familie von geringfügig Beschäftigten hineingeboren zu sein. Für einen Mann reicht es, über fünfzig zu sein und die Pleite seiner Firma mitzuerleben. Es gibt noch unzählige weitere Wege, auf denen man arm werden kann, viel mehr jedenfalls, als reich zu werden. Wir ahnen (wollen aber nicht darüber reden), dass es auch vom Charakter abhängen kann, wie schnell wir wieder aufsteigen. Abrutschen kann jeder, abgerutscht ist wahrscheinlich schon jeder, ich auch. Wenn Camus romantisch vom »Glanz der Armut« spricht, meint er Algerien, er meint unterschwellig ein globales Geschäftsmodell reicher Länder, die durch unfaire Handelsbedingungen und Ausbeutung den wirtschaftlichen Aufstieg armer Länder verhindern. Davon soll hier nicht die Rede sein, sondern vom existenziellen Feeling, vom Reiz, den Armut als Lebenssystem auf einen Menschen in einem reichen Land wie Deutschland ausüben kann, von der glanzlosen Herausschälung des Selbst und der gleichzeitigen Veredelung der eigenen Dürftigkeit.
Orwells 1984 nimmt vorweg, was sich nach 1949 in der sowjetischen Besatzungszone abgespielt hat: die Installation eines überbordenden und teuren Systems organisierter Armut. Der Ostblock versuchte gar, eine mit albernen, anheizenden Grußformeln geschmückte Feierkultur der Armut zu etablieren, er sprach von der »Macht«, der »Diktatur« der Proletarier, die wurde mit viel Schnaps und (im Gegensatz zu Orwell) auch mit viel Sex zelebriert. Wohlhabend wollte und konnte das kommunistische System die Menschen nicht machen. Das ist ein physikalisches Gesetz: Es gibt immer viel mehr Arme als Reiche, so wie es viel mehr Planeten als Sterne und noch viel, viel mehr dunkle Materie gibt. – Ich erlebte meine Kindheit und Jugend in dieser organisierten Armut. Auch wenn ich, abgesehen von Ferienjobs, nicht in diesem System gearbeitet habe, kommt mir die Arbeit meiner Eltern in der DDR heute vor wie eine Illusion, als seien sie Statisten in einer DEFA-Produktion gewesen. Das Gerippe der Formelhaftigkeit und Hohlheit wird daran so deutlich. Sie hatten Arbeit, damit sie nicht merkten, wie arm sie waren. Arbeit als rettende Schwimmbewegung in einem künstlichen Ozean, dem du niemals lebend entsteigen wirst. Denn: Wer wirklich reich oder arm ist, ganz im Sinne des geläufigen Stereotyps, arbeitet nicht.
Ich kenne super-arme und super-reiche Menschen, und auch die aus der Mitte mit echter Arbeit, dort befinde ich mich gerade, mit zu viel Arbeit in einer Mitte, die so viel verdient, dass sie Steuern bezahlen kann, und dafür sorgt, dass man hier sehr arm und sehr reich sein kann. Indirekt begünstige ich den radikalisierten Lebensstil in unserem Land. Wie zeigt sich diese Selbstgerechtigkeit der eigenen (Be-)Dürftigkeit, von der ich in diesem Text spreche?
Hier ein kleines hypothetisches Experiment: Stellt euch vor, jemand besitzt eine kleine Wohnung, die er an eine Künstlerin (deren Arbeiten er sogar ganz besonders schätzt) vermietet hat. Die zahlt nun schon seit drei Monaten nicht mehr. Und mit jedem weiteren Monat wird sein Minus auf dem Konto größer und bedrohlicher wegen der Wasserkosten, Heizkosten, Versicherungskosten, anteiligen Hausreinigungs- und Hausstromkosten, Rücklagenpauschalen, Steuervorauszahlungen, Pauschalen für Wartungsverträge, Reparaturkosten etc. pp., die er Monat für Monat für seine kleine Eigentumswohnung berappen muss. Auf seine mehrfachen, höflichen Bitten, wenigstens einen Teil der ausstehenden Mieten zu bezahlen, erhält er als Reaktion leere Versprechungen, dann folgen weinerliche Szenen und schließlich, als sein Ton galaktisch kühl wird, Beschimpfungen im Stil von: Er sei ein hartherziges Kapitalistenschwein, das arme Künstler ausbeute.
Wer sich jetzt sehr weit links verortet, wird reflexartig Mitleid mit der Künstlerin empfinden, denn sie ist arm. Der Böse ist der Vermieter, denn er »hat ja Geld genug«. Schlägt unser Herz links, sitzen wir in einer Gewissensfalle. Was würdet ihr machen? Würdet ihr die »arme« Künstlerin einfach auf die Straße werfen (noch dazu im Winter), wenn sie euch anfleht, ihr noch ein bis zwei Wochen Zeit zu geben, weil sie nicht weiß wohin, weil sie kein Geld hat, weil sie dann vielleicht Geld hat, was sie bereits seit Monaten beteuert, und natürlich ahnt ihr, dass das wieder eine Lüge ist? Ihre Armut setzt euch derart unter Druck, dass ihr euch entscheiden müsst: Entweder habt ihr »Mitleid« und müsst die finanziellen Konsequenzen dafür tragen, vielleicht sogar mit der Zwangsvollstreckung eurer eigenen Wohnung rechnen, oder ihr setzt sie vor die Tür, rettet euch selbst und beschädigt euer Karma.
Dramatischer wird so eine Situation, wenn durch die selbstgerechte Verarmung einiger Teilnehmer in einer Gemeinschaft die Gemeinschaft als solche aufs Spiel gesetzt wird. Beispiel aus meiner Praxis: Du überzeugst private Investoren und schaffst einen Freiraum für kreative Arbeit, den es in einer Stadt wie Berlin kaum noch gibt. Du schaffst Bedingungen wie beispielsweise eine Food-Rescue-Initiative mit 15-Euro-Abos im Monat für zwei warme Mahlzeiten am Tag, also Bedingungen, in denen man auch mit wenig Geld (also wenig Nebenjobs) viel Zeit für sein kreatives Schaffen hat. Die einzige Bedingung für den Erhalt dieses Biotops (und die weitere Duldung von Künstlerinnen und Künstlern, an die die wenigsten Investoren bzw. Reichen ihre Latifundien gern vermieten) besteht darin, regelmäßig die Miete zu zahlen und sich wie Menschen zu verhalten. Du bekommst etwas und gibst etwas zurück. Das klingt doch einfach und fair? Das klingt links, das klingt sozial. Das sollte doch funktionieren? Leider nicht. Auch hier wirken die Kräfte der hochstilisierten und zur Schau gestellten Armut auf zerstörerische Weise. Und wenn ihr die Künstler darauf hinweist, dass nur durch die regelmäßige Pflichterfüllung das Projekt für alle anderen fortgesetzt werden kann, hört ihr: »Ich muss gar nichts!« Das schreiben sie auch als Graffiti an die Wände: Die anderen interessieren sie nicht. Solche Szenen wie die beschriebenen wiederholen sich monatlich einige Male. Was würdet ihr tun? Sie auf die Straße setzen und das Projekt für die anderen retten oder Mitleid haben?
Armut ist die Schattenseite des Reichtums, ja. Aber sie gehört zu ihm und hat ähnlich zerstörerische Mechanismen und Konsequenzen für die Gesellschaft und auch für das Individuum. Und ja: Sie kann auch romantisch sein, sie kann im Camus’schen Sinne auch ihren Glanz haben. Sie kann so geil und schillernd sein wie Reichtum. Ist Mitleid im Angesicht der Armut dann nicht genau das Falsche und zeigt nur die Verlogenheit des westlichen Systems? Mitleid schafft keine Anreize, das Bedeutungsfeld der Armut zu verlassen, im Gegenteil, es belohnt sie noch. Wer sich zu Gegenleistungen nicht verpflichtet fühlt, erkennt den Wert der anderen nicht an. Dafür gibt es Attribute aus der Psychologie wie antisozial. Er blockiert den Stoffwechsel, so wie es auch »die Reichen« tun – bereichern und verarmen auf Kosten des Organismus. Und ich spreche hier nicht vom Wunsch nach einem einfachen Leben, jenseits des Konsums. Ich spreche hier von der Verweigerung jeglicher Gegenleistungen. Ich gehe jetzt sogar noch weiter und frage mich laut: Könnte diese Form von Armut auch Resultat einer Verhaltensstörung sein? Vielleicht liegt es daran, dass ich mich gerade in der Mitte der Gesellschaft aufhalte, diesen ungeheuren Druck von den sozialen Rändern her spüre und schultere und dieses extrem ungeile Gefühl aushalten muss, warum ich mich frage: Welche Waffe kann jemand aus dieser Mitte einsetzen, mit der er sich Gehör und Anerkennung verschafft (außer, wie Juli Zeh es vorgeschlagen hat, den Verwendungszweck seiner Steuergelder mitzubestimmen)?
Natürlich habe ich auch da wieder ein Angebot: den Aufnäher für die Kutte. Wem Sprüche wie jener auf dem Aufnäher oben zu derb und zu rechts sind, zu simpel und unfair, weil sie die hochkomplexen Mechanismen der Armut auf ein Wort reduzieren und Menschen angreifen, die unseren Kampf für einen Umbau des Systems tatsächlich brauchen, wem insgesamt die Sprüche auf patches.cc nicht nur in Duktus und Grammatik, sondern auch in der Haltung zu unterirdisch und geistlos sind, wer sich außerstande sieht, seinen Mitleidsreflex gegenüber jeglicher Armut zu unterdrücken, sich aber trotzdem jede Mitleid heischende Arie verbittet, wer zu gut erzogen ist, um deutlich zu werden à la »Sieh dich vor, ich bin ein Psycho, und wenn du mich reizt, kriegst du eins auf die Fresse«, sich aber dennoch der Geilheit des Bösen jeden Abend in den Unterhaltungsmedien ausgeliefert fühlt, weil er spürt, dass er zwar am Wahnsinn leidet, ihn aber insgeheim genießt, dem empfehle ich eine dezente Bekanntmachung auf einem Aufnäher am Oberarm – von mir selbst entworfen und hier zu bestellen:
Wie heißt es so schön: Leben ist keine Art, mit einem Tier umzugehen! Deshalb freut euch jetzt schon auf die nächste Nahaufnahme aus dem Fundus an Errungenschaften der Menschheit, hier auf Suhrkamps Logbuch.