Alpha: Der Hannibal-Lecter-Maulkorb
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Der Wahn-Sinn ist ein Sinn, dessen Reizorgan entweder in der Unvernunft oder in einer psychischen Störung vermutet wird. Der Sinn für den Wahn ist der am stärksten ausgeprägte unter den entwickelten Primaten. Beweise für meine Behauptung finden wir in den Geschichten der Menschheit, in den Newsfeeds und sozialen Netzwerken, in Schlafzimmern oder anderen Anstalten. Der Mensch ist ein Tier, das verstanden hat, dass es nur einige wenige Sinne braucht, um sich in dieser Welt zu orientieren und zu behaupten, daher kultiviert und schärft es nur diese. Einem defekten Sehsinn begegnen wir mit Brille, Linsen, Laser und High Definition, für einen beschädigten Hörsinn haben wir Hörimplantate und Dolby Surround entwickelt. Wer nichts riechen, schmecken oder fühlen kann, hat Glück – oder auch Pech, er hat womöglich eine Angststörung und braucht einen Therapeuten oder begnügt sich mit Drogen. Außerdem leuchtet jedem realistisch denkenden Menschen ein, warum er in tausend Jahren sowieso nichts mehr fühlen, schmecken und riechen sollte, denn in diesen Sinnes-Welten sucht der Mensch eher nach Mitteln der Immunisierung, sei es durch industrialisiertes Futter, Dating-Agenturen oder Sexpuppen.
Der Wahn-Sinn ist ein besonders menschlicher Sinn, der im Gegensatz zu den Sinnen, die wir mit anderen Säugetieren teilen, selten zusammen mit einer Schwäche auftritt, die wir ausgleichen müssten, sondern in der Regel ein Zuviel mitbringt, dem wir mit Bändigung oder Isolation begegnen. Dazu haben wir Irrenanstalten, Gefängnisse und die schönen Künste als probate Instrumente entwickelt. Die Schöpfung, ich meine natürlich: die Evolution, hat es versäumt, dem Menschen eine Gewalthemmung zu installieren. Da ergeht es ihm leider wie jedem Tier auf diesem Planeten. Wer aber von Beginn an seinen Wahn-Sinn in den Dienst der schönen Künste stellt, hat immerhin Freigang und mediale Selbstvermarktungs-Instrumente, er kann mit seiner Unruhestiftung sogar Geld und Ruhm verdienen. Die schönen Künste quasi als Umkehrung der Strafe, als Belohnungsstrategie und Umleitung heraus aus instinktiv gesteuerten, wahn-sinnigen Operationsgräben hin zu wahn-sinnlichen Gestaltungsebenen.
Die Strafe (auch im Sinne einer Therapie) ist nur ein verzweifeltes Hilfsmittel der Zivilisation, denn die ursprüngliche Reaktion auf eine Eskalation des Wahn-Sinns war und ist Gewalt. Und darauf folgte und folgt die Gegengewalt. Das Strafrecht will abschrecken und Frieden und Ruhe unter den Vertretern des vergesellschafteten Homo sapiens stiften. Und ich kann aus eigener Erfahrung sagen – es macht seine Arbeit gut. So eine Justizvollzugsanstalt schafft wahrlich Ordnung. Ich hatte das Glück, in der JVA Moabit in Berlin aus meinem neuen Roman zu lesen, ohne diese Erfahrung hätte ich gar nicht die Expertise, eine solche Empfehlung wie die hiesige auszusprechen.
Auf acht Quadratmetern haust der Häftling in einem Räumchen, einer Art Goliat’schem Schuhkarton mit schaler Atmo und bisweilen stechendem Mief. Zwischen Toilette und Bett ein Katzensprung. Das bändigt. Das dämpft deinen Riecher und betäubt deinen Gaumen. Das fördert deine Fantasie. Die unendlichen Weiten deiner Träume sind dein einziger Freigang, wenn es mit der Stunde Runden-Drehen auf dem Hof wieder nicht geklappt hat, denn in dieser Institution gilt: Was nicht organisierbar ist, findet nicht statt. Aber einmal in sechs Monaten gibt es einen (sinnlichen) Lichtblick – eine Veranstaltung in Form einer Lesung oder eines Konzerts. Das ist organisierbar und sehr beliebt unter den Häftlingen.
Bitte kein Sex und keine Gewalt, hieß es, als sie mich für die Lesung anfragten. Mein Buch hatten sie da wohl noch nicht gelesen. Etwas ratlos blätterte ich zwischen den 460 Seiten, die mich acht Jahre Recherche und beinah meinen Verstand gekostet haben, ein Stoff, der zwei amerikanische Legislaturperioden brauchte, den ich in der Euphorie der Obamania begonnen, durch die Finanzkrise und Weltwirtschaftskrise, den arabischen Frühling, den angebrochenen Herbst einer totgesagten EU, durch etliche Unruhen und handfeste Kriege geschleift und geschliffen und im Karnevalmodus der andauernden Trump-Pathie beendet habe.
Der Hauptheld ist ein latent-chauvinistisches, sexistisches Arschloch, das seine Frau als »Fachmännin im Tantrasex« bezeichnet und sie nur deshalb geheiratet zu haben scheint. Er leidet unter Spielsucht, belügt seinen Vater, der ihn selbst wiederum sein Leben lang belogen hat, was die Herkunft des ganzen Schotters und die Geschichte der Familie betrifft. Außerdem: Eine blutjunge Frau (liebe Mutter tot!), die von ihrem herzlosen Vater (Engländer!) auf einen einsamen südamerikanischen Vulkan verbannt wurde und nun allein auf der Suche nach dem Sinn ihres Lebens durch Buenos Aires stolpert und von teils zwielichtigen Gestalten in Weltverbesserungs-Movements verladen und benutzt wird. Ein naives Aussteigerpärchen, das sich nackt und unschuldig in einer paradiesischen Festlandbucht vor der Zivilisation verstecken will und Opfer ihres eigenen Psychoterrors wird. Eine einsame, staatenlose Insel, auf der noch die wahren Gesetze der Natur herrschen. Und ein globaler Nachrichtenkanal, der für sich in Anspruch nimmt, so schamlos wie schonungslos über den Zustand der Welt zu berichten. Wie soll so ein Buch ohne Sex und Gewalt auskommen? Es gibt keine zwei zusammenhängenden Seiten, in denen nicht das eine oder das andere in der einen oder anderen Form vorkommt. Egal, dachte ich. Meine Lektorin wird das schon irgendwie moderieren.
Ja, es sieht dort aus wie in amerikanischen Filmen. Ein Kriminaltango an Stahltreppen. Das Oben von unten und das Unten von oben einsehbar. Matt schimmernder Stahl, gewienerter Bodenbelag, adipöse Sicherheitstüren. Kontrolle auf höchstem Niveau, alles durchorganisiert. An jeder Tür Hinweise auf (sinnliche) Vorlieben der inhaftierten Homo sapiens: Schweinefleisch ja oder nein, arbeiten ja oder nein, aber am wichtigsten: wahn-sinnig genug, um sich umzubringen, ja oder nein. Strafe muss vollzogen werden, da kann keiner einfach so raus, sonst wäre ja die ganze hundsteure Strafrechtsindustrie sinnlos.
Nachdem Doris (meine Lektorin) einige Schweißausbrüche auf dem endlosen Irrweg zum Veranstaltungsraum überstanden hatte, nachdem sie sich durch die Enge der Gänge und Treppen gekämpft hatte, immer im Clinch mit ihrer Klaustrophobie, zusätzlich hochgekocht durch verstohlene Blicke in die winzigen Zellen, erreichten wir den einzigen geräumigen, lichtdurchfluteten Ort der JVA.
Die Veranstaltung war organisiert, aber immer freiwillig. Der Saal füllte sich. Ich fühlte eine steigende (An-)Spannung in mir angesichts der Wahn-Sinnigen, die da im Publikum sitzen sollten. Doris und ich saßen auf dem Podium. Ich blickte jedem Gast kurz in die Augen, fragte mich, weswegen der wohl hier war. Natürlich gilt in der JVA Moabit immer die Unschuldsvermutung. Schließlich ist es ein Untersuchungsgefängnis, aber schwer sahen einige Jungs dort schon aus. Den einen und anderen Hannibal Lecter vermutete ich durchaus zwischen ihnen. Geschichten, warum der eine oder andere die Braut in seinem Bett »aus dem Weg geräumt« haben mag, laufen ja jeden Abend im Fernsehprogramm des Normalo-Haushalts. Der Raum war gut gefüllt.
Ich begann die Lesung mit einem Abschnitt aus dem ersten Kapitel, am Anfang war das rote Schamhaar, Sex und Psycho-Terror eines Berliner Großstadtpaars. Einige Male konnte ich mir ein peinliches Schlucken angesichts des prallen Sexismus nicht verkneifen. Ich las die grausamste Szene auf der Insel, die liest sich halt immer so toll. Dort überlebt nicht mal eine Fliege. Zwischendurch kam mir in den Sinn, das wir auch bissige Hunde mit Maulkörben bändigen. Kurzum: Ich las von dieser wahnsinnigen Welt da draußen, von Sex, Gewalt, Krieg und Verbrechen vor einem Publikum, das spezialisierter nicht hätte sein können. Ein Publikum, wie ich es mir nicht besser hätte wünschen können, so interessiert, so amüsiert, so aufmerksam. Ja, sie hatten Spaß, ich inspirierte sie. Sie schüttelten ab und an den Kopf, lachten und klatschten. Am Ende hatten sie sogar Fragen, und ich hatte das Gefühl: Da draußen tobt der Wahnsinn, und wir sind, zum Glück, hier drin, wo es so zivilisiert und in geordneten Bahnen zuzugehen scheint und alles unter Kontrolle ist. Und ich dachte, dieses Gefühl der absoluten Ruhe und Selbstkontrolle sollte jeder auch außerhalb solcher Gitter erleben können.
Deshalb empfehle ich den stylischen Hannibal-Lecter-Maulkorb in seinen verschiedenen Ausführungen und Farben, aus echter Tierhaut oder anderen menschenwürdigen Materialien, da ist für jeden Geschmack etwas dabei. Er kommt auch nicht moralisch und lehrerhaft daher, nein, er verleiht seinem Träger und seiner Trägerin Authentizität und den unbezwingbaren Charme eines gebändigten Massenmörders. Günstig beziehen können sie das Produkt hier. Wer (wie beim Tauchen) erst einmal einen Zwischenschritt (wie das Schnorcheln) braucht, der kann sich zunächst mithilfe eines metallenen Hannibal-Lecter-Maulkorb-Schlüsselanhängers langsam an die Idee gewöhnen.
Der Maulkorb macht sich sicherlich auch gut im engen Kreis der Familie zu den bevorstehenden besinnlichen Tagen – Sie ersparen sich das Singen der immer selben Lieder, deren Texte eh keiner mehr beherrscht. Fröhliche Weihnachten!
Wie heißt es so schön: Leben ist wirklich keine Art, mit einem Tier umzugehen! Freuen Sie sich deshalb schon auf die nächste Empfehlung aus der Warenwelt der Wunder dieser Erde, die Ihr Leben und die Lage der Welt verbessern könnte. Demnächst wieder hier auf Suhrkamps Logbuch.
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