Durs Grünbein hat in diesem Frühjahr den Gedichtzyklus Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond im Suhrkamp Verlag veröffentlicht und schreibt darüber in diesem Brief an seinen Lektor Wolfgang Kaußen.
Die Titel der Gedichte (also die Namen der Mondkrater) sollten Ihnen nicht allzu viel Kopfzerbrechen bereiten. Sie sind gewissermaßen ausgelost worden, oder anders gesagt: sie folgen derselben Zufallsverteilung wie die Namen der großen Astronomen, Philosophen, Physiker und Erfinder zur Benennung der zahllosen Mondkrater – zirka 300.000 allein auf der erdzugewandten Seite des Mondes. Auch hier hat man nicht lange überlegt, welchem der Krater man welchen Namen zuordnen wollte. Verständlich nur, daß der größte damals durch ein Teleskop sichtbare, derjenige, der als erster ins Auge sprang, zu Ehren des europaweit berühmten Prager Hofastronomen, Tycho (Brahe) genannt wurde.
Man muß sich auch nicht unbedingt in die Geschichte der Mondforschung vertiefen. Der Zyklus kam eines Tages einfach in Gang und begann für sich selbst zu sprechen, nicht anders als die Sonette an Orpheus, wenn auch in einer leichteren Tonlage und ohne das strenge Formgerüst. Daß die einzelnen Stücke nicht immer unmittelbar evident sind, war mir bewußt. Schon die erste Zeile führt ja in eine Unbestimmtheitszone – und aus ihr folgt vieles weitere. Ein leichtes Schwindelgefühl ist von Anfang an im Spiel – so als würde man plötzlich von der Erde abheben ohne zu wissen warum. So hat das Subjekt der ersten Zeile sofort etwas Schillerndes. Unter dem voraussetzungslosen »Er« machen sich mindestens drei Vertreter auf die Reise: die barocke Persona Cyrano de Bergerac, der weltraumerobernde Mensch an sich – und der Poet, von dem es heißt, er sei der »Versesammler, der Gammler / Des Universums«.
Die Figur des Cyrano wiederum ist dazu angetan, von Anfang an das Gefühl für das Phantastische zu nähren. Denken Sie sich Jorge Luis Borges als ironischen Juror für diesen Zyklus. Einerseits gibt es den realen Autor und Abenteurer, eine Figur aus der Reihe der Frühaufklärer des Barockzeitalters, die mich so lange schon magisch anziehen. Er gilt als Schüler Gassendis, kritischer Leser Descartes‚ und der wichtigsten Astronomen seiner Zeit. Andererseits hat der Mann durch die am Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts geschriebene Heldenkomödie von Edmond Rostand, die seinen Namen im Titel trägt, selbst etwas von einer literarischen Figur. Die Kinder lernen ihn überhaupt (wenn überhaupt) nur noch als Leinwandfigur kennen, sagen wir, verkörpert von Gérard Depardieu.
Man kann die Gedichte hintereinander weg lesen, dann brummt einem der Schädel. Man kann sie aber auch einzeln und in großen Abständen lesen, dann öffnen sie sich in ihrer ganzen Schlichtheit wie Blüten. Oder doch wenigstens wie Papierblumen.
Betrachten Sie nur einmal Eratosthenes – der Mann, der als erster den Erdumfang bestimmte. Neun Zeilen, die drei Gedanken enthalten, die alles im Leben relativieren. Sie könnten einem als hoffnungslos traurig erscheinen, wenn sie nicht gerade der beste Grund wären, alle Kräfte der Imagination zu mobilisieren, um über ihre Grenzen hinauszuwachsen. Die drei Gedanken sind:
- Die Innenwelt steht der Außenwelt in nichts nach. Unser Zeitbegriff wird systematisch überschätzt, weil er sich einzig am Wachbewußtsein orientiert, während ein großer Teil (vielleicht die Hälfte) des Lebens sich fern vom Zeitempfinden abspielt, in Schlaf und Traum (und Trunkenheit).
- Alles hat nur Bedeutung für diese Einzelseele und erlischt sofort, wenn diese aufhört zu sein. Der Unterschied zwischen einer Welt, in der wir sind und einer Welt, in der wir nicht sind, ist minimal – oder riesig. Er ist so groß wie die Einzelseele eines jeden Menschen.
- Wir kommen auf die Welt, und die Sprache ist bereits da. Wir verlassen die Welt, und die Sprache ist immer noch da. Im Grunde sind wir weniger real als die Worte, die wir benutzen. Vielleicht sind sie es, die uns benutzen, wer weiß? Wir wissen nicht »Ob sie uns Halt gewähren und Immerwiederkehr«. In diesem Sinne ist jeder ein Diener des Irrealen, ein Monsieur Uneigentlich – wie jener Cyrano de Bergerac aus dem Club der Mondsüchtigen.
© Alle Fotos aus: Durs Grünbein
Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond