Die Wirklichkeit kann man in der Materie nicht überhöhen, sie bleibt immer die Wirklichkeit. Aber man kann sie hysterisieren, man kann sie kichern lassen, man kann sie zärtlich gegen den Strich streicheln, bis der zartgoldene Samtflaum auf ihrer Unterseite schimmert. Vielleicht tanzt sie dann herum, mit großen Augen und gar nicht so leichten Füßen, um uns und den Rest der Welt herum.
Man rollt sie und sich so lange in Pailletten, in Glitzer, in Schimmer, in Gold und Silber und Stickereien und Tiermotiven und Blumenmotiven und Rüschen und Puffärmeln, in Lurex, Lack und Lamé, in Fransen und Troddeln, bis ein pinker Silberblick das eigene Ästhetikempfinden umflort wie ein neonfarbener Häkelsaum. Man liest Geschichten, gewebt aus Ideen und noch mehr Ideen und Referenzen und Selbstreferenzen und Anagrammen und Ländern und Lebewesen und Zeiten und Landschaften, bis sie einen umsponnen haben wie ein Kokon und man anschließend aus der eigenen Phantasie als transluzierender Schmetterling der Post-Ernsthaftigkeit schlüpfen und sich von den Winden derer, die empört schnauben über dieses zu viel, zu kitschig, zu bunt, zu kindlich, zu bizarr, zu unraffiniert oder neudeutsch: »WTF?!«, tragen lassen kann.
In den zwei Jahren, in denen Alessandro Michele das Zepter bei Gucci schwingt, baute Kollektion auf Kollektion auf, und sie schwangen sich in immer wildere Höhen bis zum vorläufigen Höhepunkt, der aktuellen Winterkollektion:
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[Weil ich so langsam schreibe, ist der aktuelle Höhepunkt mittlerweile die Sommerkollektion 2018.]
Dass Männer für die Frauenkollektion laufen und Frauen für die Herrenkollektion, versteht sich im Jahre 2017 fast von selbst, aber die relativ radikale Form der Androgynie Alessandro Micheles macht deutlich, dass es bei dieser Mode nicht darum geht, sexuelle Anreize für die Mitglieder der heteronormativen Gesellschaft zu schaffen, sondern sie stellt eine Form der märchenhaften Entgrenzung dar, eine disneyeske Spielwiese, in der das Diktat des Reduktionismus schon mal nach Hause geschickt wurde. Es ist ein zuckersüßes Dazwischen, eine Leckmuschel der Fröhlichkeit, deren »Zuviel« vielleicht auch deshalb funktioniert, weil es an relativ unerwarteter Stelle kommt. Spukbleiche, ungeschminkte Models in retro-kindlichen oder auch entsexualisierten Klamotten, die auf zauberhafte Neuköllner Art den Körper egalisieren, wer hätte das von Gucci, dem Haus der eleganten Sexyness, erwartet?
Die Meinungen darüber sind geteilt und schwimmen säuberlich getrennt wie Dotter und Eiweiß in der Schale, eins das andere bedingend und bestätigend und am besten zusammengefasst in der komplexen Poesie und schlichten Sprache des YouTube-Kommentars zu einem Video von einer der letzten Gucci-Shows: »First I thought. It’s all ugly. But then when I watch it twice. Omg. They are all fabulous.«
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Man kann mir – gut begründet – gerne widersprechen, wenn ich behaupte, dass mit Alessandro Micheles Übernahme des Creative-Director-Postens bei Gucci das Modehaus zum ersten Mal seit Langem (und da rechne ich übrigens Tom Fords Zeit dazu, jawohl) wieder an modischer Interessanz gewonnen hat. Aber warum würde das jemand tun wollen? Alles, was zu viel sein MÜSSTE, scheint dort so natürlich, so logisch und bezaubernd – jedes Teil, jedes Outfit stellt in absoluter Perfektion dar, was es darstellen soll, liebevoll gedacht und präzise gearbeitet, sich offen und schrankenlos bei allem bedienend, was die (Kunst-)Geschichte zu bieten hat, und alle zusammen ein Archipel, schimmernd im Lichte vielfach gebrochener Blicke. Jedes für sich eine eigene Erzählung, klassisch und postmodern zugleich, mit Eiscreme in Gedanken serviert.
Eine Modenschau von Gucci bietet ähnlich verwirrende Klarheit wie die Prosa Ror Wolfs, deren Prinzip der perfektionierten Einzelteile, die zu einem übergroßen Ganzen sich zusammenfinden, sich in den Kleidern und in der Inszenierung Alessandro Micheles wiederfinden lässt:
»Die dunklen dampfenden Fabriken, an denen ich
am Mittwoch vorbeikam, vom Wasser bespült und
vom Schlamm bedeckt, hatte ich kurze Zeit später
vergessen: Die Fabriken, den Schlamm und das
Wasser, alles vergessen, das Wasser, auf dem die
Lastkähne dahinglitten, an den Fabriken vorbei,
hinter denen gerade die Sonne blutig hinabsank, in
eine andere Gegend hinein. Die Farbe der Sonne
war übrigens unglaublich und auch die Leichtig-
keit, mit der die Sonne verschwand. Zieht man noch
in Betracht, daß das alles in einem einzigen Augen-
blick geschah, dann ist es das beste, auch diesen
einzigen Augenblick zu vergessen. Ich möchte nur
noch bemerken, daß dieser Augenblick zu den
schönsten Augenblicken meines Lebens gehörte.«
Ror Wolf, Die Vorzüge der Dunkelheit. Neunundzwanzig Versuche die Welt zu verschlingen, S.110
Ebenjener Alessandro Michele erhielt kürzlich quasi den Ritterschlag moderner Künstler*innen – das Angebot, mit Björk zusammenzuarbeiten. Das Kleid, das er für ihr Video zu The Gate entwarf, ist ein Meisterstück und sieht aus – ich sage das mit aller Liebe und tiefstem Respekt – wie die Kreuzung aus einem Outfit für Glitzerbarbies Ballrobe und einer Rippenqualle:
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Dass Gucci das Making-Of-Video des Kleides mit Stockhausen unterlegt hat, ist dann auch eine Ansage:
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Diese kurze Erzählung der Entstehung des Kleides ist so stilisiert wie bezaubernd in ihrer sympathischen Poetik der vollen Hände, der gezielten und doch berechtigten Emotionalisierung und erinnert diesbezüglich an zeitgenössisches Nature Writing wie von Robert Macfarlane. Mit Augenzwinkern.
Aber wo Drama und Humor Hand in Hand gehen, gehe ich gerne mit. Nicht nur in der Mode, sondern auch in der Literatur, und ich bin beileibe nicht die Einzige, wenn man sich die Bestsellerlistenplatzierungen von Walter Moers ansieht, der Humor, Fremd- und Selbstreferenzialität so dicht verwebt, wie eine grüne Seidenbluse mit einer aufgestickten roten Comic-Schleife aus Strass das tut. Oder mit den Büchern von Vladimir Sorokin, in dessen Der Schneesturm sich nicht nur sämtliche Wintererzählungen der klassischen russischen Literatur finden lassen, sondern auch manipulierte Mini-Pferdchen, Riesen und Erfindungen, die weniger ihrer Zeit voraus sind, als dass sie neben ihr zu stehen scheinen.
In sich funktionierende perfekte Miniaturen, zum charmanten, umwerfenden, großen, wilden, überfordernden Ganzen verflochten, knapp neben der Spur und fast mittendrin. Hauptsache, es glitzert. Es ormt.