Vor ein paar Monaten knallte in das so (un)wohlig betäubende Einerlei meiner Instagram-Timeline ein Video von dem mir komplett unbekannten Account @GeoRainbolt, in dem im unteren Teil für extrem kurze Zeit ein Ausschnitt aus Google Street View zu sehen war, dann eine Weltkarte und im oberen Teil ein sehr bleicher junger Mann mit spitzer Nase, noch spitzeren Wangenknochen, Augenringen und kunstvoll fettigem Haar, der Dinge sagte wie »Looks like Northern Norway. Pretty standard«, dann einen Punkt in Nordnorwegen markierte und ohrenbetäubend auf die Spacetaste hämmerte. Dann taucht auf der Karte ein zweiter Punkt auf, ganz in der Nähe des ersten. Kommentiert wurde das Ergebnis meistens mit »Nice. We’ll take that.« Das alles mehrere Male hintereinander und schneller, als ich »Was?!« sagen kann. Niedergeschrieben klingt das alles relativ selbsterklärend, aber wenn das in den schläfrigen Dusel, induziert von später Uhrzeit und zu vielen Katzenvideos, hineinknallt, ist die Verwirrung groß. Ich hatte keinen Schimmer, was vor sich geht.
Es war eins von dieser Sorte.
Aber ich wollte es wissen. Ob es an der Neugier auf etwas, das mir so tatsächlich komplett unbekannt vorkam, lag, oder an den Wangenknochen: Wer weiß das schon?
Ich erfuhr, dass es ein Spiel namens GeoGuessr gibt, in dem man anhand von zufällig ausgewählten Ausschnitten von Google Street View raten muss, wo auf der Welt dieser Ort ist. Je näher man dran ist, desto mehr Punkte bekommt man, logisch. Oder man spielt im Länder-Modus, dann gibt es nur richtig oder falsch.
Und natürlich gibt es nicht wenige Menschen auf der Welt, die dieses Spiel mit Leidenschaft und kompetitiv spielen. Die genauen Zahlen sind nicht bekannt, aber die Seite www.geoguessr.com hatte im November 2022 13.5 Millionen Hits mit einer durchschnittlichen Verweildauer von 10:34 Minuten¹, bei Turnieren auf der Streamingplattform Twitch schauen teilweise zehntausende Leute zu, wie hauptsächlich junge Männer Schilder anstarren, Asphalt analysieren und Straßenmarkierungen einordnen. Die anschließend bei YouTube hochgeladenen Turniere werden dann noch mal von Zehntausenden angeguckt. Es gibt keine Welt-Rangliste, offizielle Turniere erst seit Kurzem, was zum einen daran liegt, dass es nicht als kommerzielles Spiel angelegt war, sondern eine spielerische Idee, dass GeoGuessr niemals die volle Kontrolle über seine Server haben wird (die Daten sind schließlich von Google) und dass es technisch sehr kompliziert ist, zu kontrollieren, ob jemand schummelt. Deshalb ist die GeoGuessr-Gemeinde etwas verstreut, Turniere werden von einzelnen Personen oder Communities veranstaltet. Der ungekrönte König oder Urvater ist Thomas George Davies, der als @GeoWizard seit 2015 auf YouTube Videos zu GeoGuessr veröffentlicht und inzwischen über 1,5 Millionen Abonnenten hat. Einen ausführlichen Artikel über ihn gab es kürzlich im New Yorker. Er ist allerdings eher ein Solitär und nicht wirklich Teil der gerade blühenden GeoGuessr-Community aus vornehmlich sehr jungen Menschen (vor allem Männern).
Wie das so ist, kann so etwas über lange Jahre einfach komplett an einem vorbeigehen, GeoGuessr gibt es bereits seit 2013. Dabei folgte ich schon viele Jahre begeistert dem Bot @random_places (den gibt es allerdings erst seit 2014) auf Twitter, der einfach zufällige Bilder aus StreetView twittert, allerdings immer mit der Ortsangabe dazu, es fehlte die Spannung des Rätsels und der kompetitive Thrill. Der Reiz, mit zufälligen Ansichten der Welt konfrontiert zu werden, ist aber so oder so groß, es folgen immer noch über 13.000 Leute diesem Bot.
Wenn man aber einmal einsticht in Themen, die bisher an einem vorbeigegangen sind, ergießt sich meistens eine Lawine an Inhalten über einen, in Sachen GeoGuessr heißt das: vornehmlich der am Anfang erwähnte Social Media Content von Trevor Rainbolt (dessen Popularität der von GeoGuessr noch mal einen Schub gegeben hat) sowie YouTube-Videos (oder gleich Live-Streams auf Twitch). Dabei guckt man im Grunde dabei zu, wie Leute Dekodierungs- oder Übersetzungsarbeit leisten, detektivisch Landschaften scannen und Schlüsse daraus ziehen. Das Ziel in diesem Spiel ist es, die Sprache von Orten so perfekt wie möglich lesen zu lernen. Diese Sprache setzt sich zusammen aus den natürlichen Gegebenheiten: Berge, Ebenen, Küste, tropisch, trocken, Vegetation, die Struktur des Erdbodens, aus den eher wildwüchsigen historischen Schichten der Inanspruchnahme des Landes durch die Menschen: Architektur und Landwirtschaft, und aus den systematisch gesetzten Markierungen, die entweder direkt als Code gesetzt wurden: Poller, Schilder, Straßenmarkierungen, oder als solche funktionieren, wie Strommasten, Mülleimer und Briefkästen. Irgendwie laufen die in der Sprache der Spieler:innen alle unter »Metadaten« , streng genommen sind die Metadaten allerdings die GoogleStreetView eigenen Marker, auf die komme ich später noch mal. Miteinander verwoben geben sie der geschulten Leserin alle Informationen an die Hand, die sie benötigt, um diesen Ort zu lokalisieren, zumindest theoretisch. Meistens.
Nachdem ich mich eine Weile diesem hervorragend unterhaltsamen Wahnsinn passiv hingegeben hatte, meldete ich mich bei GeoGuessr an. Nach wenigen Klicks hatte ich den deutlichen Geschmack von all der Kreide, die ich fressen musste, im Mund. Auf wie viele Länder ich überhaupt nie gekommen wäre! Ganze Regionen scheinen nur als Namen in meinem Gehirn zu existieren. Wie erstaunlich vertraut manche Ecken aussehen, obwohl sie am anderen Ende der Welt liegen. Und wie süß der Geschmack des Triumphs, der sich über die Kreide legte, wenn ich doch einmal nur knapp daneben lag. Aber hauptsächlich scrollte ich ratlos über grüne Ebenen, zoomte hilflos in jedes Straßenschild, ging davon aus, dass dieser große Truck garantiert in den USA herumfuhr, fragte mich, wo überall Palmen wachsen, und schnitt wirklich sehr schlecht ab, ich schaffte es mehr als nur einmal auf 0 Punkte (12.000 Kilometer daneben getippt). Noch viel schlimmer wurde es, als eine Freundin sich ebenfalls anmeldete und wir den Battle-Modus entdeckten, ganze Abende flossen mit frenetischem Scrollen in Straßenausschnitten dahin, auf der Suche nach Hinweisen. Um die Wette! Wenn die andere Person getippt hat, hat man noch 15 Sekunden Zeit, seinen eigenen Tipp abzugeben. Die können lang werden, wenn man eine ganze Weile durch ein verwirrendes Durcheinander aus Schildern mit vornehmlich asiatischen Schriftzeichen, ein paar englischen und ein, zwei griechischen »wandert«, bis man an einer Hauswand ein Straßenschild mit griechischen Schriftzeichen sieht. Hat Athen ein »Chinatown«? Testen wir es aus. Ich klickte auf Athen, hämmerte standesgemäß heftig auf die Spacetaste und hielt diese 15 endlosen Sekunden den Atem an. Ich hatte recht!!! Ist ja Wahnsinn! Nächste Runde.
Man kann das Spiel in unterschiedlichen Modi spielen, der gesetzte Modus ist mit Moving, Panning, Zooming: Man darf »herumfahren«, sich im Kreis drehen und Details heranzoomen. Bald trat die Erkenntnis ein, dass der »Moving«-Modus zwar sehr aufregend ist, weil man panisch durch die Gegend saust und nach eindeutigen Zeichen sucht (Flaggen oder Plakate mit URLs mit Länderkürzeln zum Beispiel) und auch einiges dabei an einem vorbeirauscht, aber dass man viel genauer hinguckt, wenn man im »no moving«-Modus spielt. Da muss man mit dem Gegebenen arbeiten, und beim längeren Starren auf einen Strommast fällt einem dann eventuell auch ein, wo man so einen schon mal gesehen hat. Man lernt den holeypole (Osteuropa) vom ladderpole (Frankreich, Spanien, Portugal) zu unterscheiden und dann wiederum den Unterschied zwischen dem »hungarian holey pole« und dem »romanian holey pole«. Letztere sind dicker, und wenn der untere Teil weiß angestrichen ist, kann man einigermaßen sicher sein, dass man sich in Rumänien befindet. Beide unterscheiden sich darin vom »polish holey pole«, dass ihre Löcher bis zum Boden reichen, die polnischen Masten haben so etwas wie einen Sockel. Wer es ausführlicher und weltweit wissen will: der GeoGuessr Zig8Zag hat sowohl diese fabelhafte Liste zusammengestellt, wo man sich durch die Strommasten der Welt klicken kann, man kann sie sich aber auch von ihm in einem YouTube-Video in rasendem Australischen Englisch kompakt erklären lassen. Und noch einige Dinge mehr, die einem helfen könnten, sich in der Welt zu orientieren, wenn man sich das alles merken könnte.
Die Königsdisziplin ist NMPZ, no moving, no panning, no zooming, wenn man also anhand einer einzigen Photoansicht beurteilen muss, wo das ist auf der Welt. Das ist wirklich höllisch schwer, urteile ich als Anfängerin, wie viele Hinweise jeweils auch in so einer Ansicht stecken können und wie schnell und präzise man daraus Schlüsse ziehen kann, beweisen die Menschen, die sehr gut sind in diesem Spiel. Man muss halt nur genau hingucken und die Zeichen zu lesen verstehen.
Es ist ein Zeichensystem, das man nicht wirklich durchschauen kann, man muss es pauken wie Vokabeln. Es ist komplex, aber nicht logisch, es ist dicht, aber nicht kompliziert, es ist vielschichtig, im einzelnen Zeichen unzuverlässig, in der Gesamtheit jedoch verlässlich, und die Kunst besteht darin, aus dem Gestrüpp von Zeichen genug herauszufiltern, damit sie gemeinsam eine klare Antwort geben. Scharfsinn hilft einem da nicht wirklich weiter, nur ein scharfes Auge und ein starker Wille, selten ist die Landschaft so markant, dass man sofort weiß, wo man sich befindet, die Mongolei und Island sind da große Ausnahmen. Es ist quasi Verschwendung, dass Island als einziges Land gelbe Reflektorenpfosten hat, die sich sonst nirgendwo auf der Welt finden, Island erkennt man auch ohne die ganz gut. Und dennoch: Wenn ich beim Spielen in Island »lande«, dann denke ich »Ha, Island!«, wenn ich dann einen gelben Reflektorenpfosten sehe, denke ich »Hahaaaa! WIRKLICH Island!« Der von Menschenhand gesetzte Marker, der das Territorium so besitzergreifend kennzeichnet wie eine Flagge das tut, dem vertraut man doch noch mehr als der eigenen Intuition. Beim Versuch, diese Marker zu lernen, kann die eigene Sicht auf die Welt auch mal kippen, wenn man sich zu stark an das neue Hilfsgerät klammert. Mir ist es schon passiert, dass ich dachte »Den Poller kenne ich doch, das ist Polen!« und dabei die Palmen am Straßenrand übersehe… (Es war nicht Polen.)
Es ist eine eigenartige Art, die »Welt« zu erkunden, schließlich erkundet man nicht die »Welt«, sondern eine Momentaufnahme, hergestellt von einem sehr großen kommerziellen Unternehmen, dessen Motiv logischerweise nicht vorrangig ist, Zugang zu den Ansichten möglichst aller Länder zur Verfügung zu stellen, sondern, damit Geld zu verdienen. Geschenkt. Der Anspruch, die ganze Welt für jeweils einen winzigen Moment einfach komplett abzudecken, ist so reizvoll wie gruselig.
Wie sehr es eine Momentaufnahme ist und wie aufregend die sein kann, wird immer wieder deutlich, wenn man sich die Szenerie am Straßenrand genauer anguckt. Und auch gestandene Spieler:innen drehen gemeinsam fröhlich durch, wenn ihnen (bei einem Turnier) sowas begegnet:
Mehr demonstrative Momentaufnahme geht kaum.
Ein Moment hat die unangenehme Eigenschaft, zu vergehen, und man fährt durch eine an unterschiedlichen Punkten in der Geschichte eingefrorenen Welt.
Das wird einem beim Spielen schmerzhaft deutlich, wenn man zum Beispiel eine Ansicht der Ukraine vor sich hat. Oder aus dem Südosten der Türkei.
Trevor Rainbolt erzählte begeistert, dass er bei seinem Besuch ein ganz anderes Deutschland kennenlernte, die Bilder von Deutschland auf StreetView sind bereits über zehn Jahre alt. Deutschland ist zwar auf StreetView zu finden, aber mit sehr altem Material, und weil in Deutschland jede, die möchte, ihr Haus blurren lassen kann, ist ein Spitzname für Deutschland in der Gemeinschaft der GeoGuessr »Blurmany«. Denn es möchten einige.
Die Gründe der jeweiligen Staaten, gar nicht auf GoogleStreetView vertreten zu sein, mögen nicht immer im Bedürfnis liegen, die Privatheit ihrer Bürger:innen zu schützen. Eventuell. Obwohl es wohl schon auch gute Gründe gäbe, das alles für unheimlich zu halten. Aber bleiben wir mal bei den Reizen. Die liegen in der Alltäglichkeit des Dargestellten, des Unspektakulären, wobei diese Alltäglichkeit manchmal erstaunlich ähnlich ist, in den Details aber überall anders aussieht. Die Wahrscheinlichkeit, beim Standard-Spiel auf ein international bekanntes Wahrzeichen zu treffen, ist extrem gering, die Art der Erkundung bei GeoGuessr geht gegen alles, wie man üblicherweise unbekannte Länder präsentiert bekommt: durch Sehenswürdigkeiten, Menschen, Geschichte(n). Und ist beschränkt auf die Optik.
(Es gab mehrere sehr viel kleinere Unterfangen, SoundMaps von Ländern herzustellen, keine davon auch nur Ansatzweise in dem Umfang und mit dem finanziellen Vermögen von Google, aber es gibt
sie und sie sind sehr schön. Ein Beispiel hier.
Außerdem ist StreetView beschränkt auf die Bereiche, wo sich systematisch eine Kamera tragen lässt. Das sind längst nicht mehr nur Straßen, sondern auch Wanderwege und Wüstenpfade (es wurden schon Google-Kameras von Kamelen getragen), das so entstandene Bildmaterial heißt »Trekker-Coverage«, und viele GeoGuessr-Spieler:innen sind keine Fans davon, weil einem da so gut wie nichts von dem erlernten Zeichensystem weiterhilft. Deal with it. Die Welt wurde nicht erschaffen und gestaltet, um gut GeoGuessr damit zu spielen. Nicht mal GoogleStreetView wurde dafür erschaffen. Aber der Großteil von GoogleStreetView ist das Ergebnis von Aufnahmen, die die StreetView-Cars auf Straßen machen, ausgestattet mit diversen Kameras, deren Technik sich auch stetig verbessert. Sie liefern das Fundament für StreetView und damit GeoGuessr. Was passiert, wenn zwei passionierte (junge, aber erwachsene!) Geoguessr-Spieler auf ein solches Auto treffen, sieht man hier.
Sie drehen freudig durch und rennen hinterher, als wäre es ein Popstar. Was durchaus sinnig ist, da diese Autos nicht nur die Bilderbasis stellen, sondern auch darstellen. In vielen Gebieten ist ein Teil des Autos (von oben) zu sehen, oft erkennen Spieler:innen auch, wo eine Aufnahme gemacht wurde, indem sie die Farbe der Autos, die Qualität der Bilder (die von der Generation der benutzten Kamera abhängt) oder die Höhe der Kamera (in einigen Ländern, zum Beispiel der Schweiz, musste die Kamera gesenkt werden, damit sie – theoretisch – nicht über Gartenzäune photographieren kann) mit in Betracht ziehen. Das geht so weit, dass Landstriche daran erkannt werden, dass eine tote Fliege auf der Kamera klebte. Das sind die reinen »Meta-Daten«, die einen nicht mehrheitlichen, aber beträchtlichen Teil des Spieles darstellen. Das zeigt sich in mitunter verzweifelten Ausrufen in Turnieren wie »There is literally no meta! This is gonna be hard!« (als wäre es das nicht auch MIT Meta-Daten) und daran, dass es Turniere gibt, bei denen diese Metadaten ausgeblendet werden, das Auto also nur ein schwarzer Fleck ist, um den Schwierigkeitsgrad zu erhöhen. Die Gründlichkeit, mit der diese Meta-Daten genauso studiert und auswendig gelernt werden wie alles andere, was Hinweise liefern kann, steht in krassem Gegensatz zu dem »Wert« dieser Informationen: über dieses zu verfügen dient außerhalb des Spieles überhaupt keinem Zweck. Also so wirklich absolut gar keinem. Das Land, das sich durch Streifen am Himmel auszeichnet, die nicht von Wolken, sondern einem Glitch in der Kameratechnik herrühren, ist nirgendwo sonst daran erkennbar. Und kann bei der nächsten Generation Bilder schon wieder ganz anders aussehen. Denn der photographierende Erzähler entwickelt sich, wird immer scharfsichtiger und genauer, mit dem Ziel, sich und die Rahmenhandlung komplett verschwinden zu lassen.
Man spielt quasi eine kapitalistische Erzählung der Welt, deren Anspruch des totalen Realismus niemals erreicht werden kann. Der invasive Erzähler kann auf dem fertigen Bild noch so unsichtbar sein, aber er beeinflusste massiv das Entstehen und das Ergebnis des Photos, wie jede:r Photographin das tut. Denn Menschen reagieren mitunter auf das photographierende Auto, und es ist einfach da. Da, wo das GoogleStreetView Auto fährt, kann kein anderes Auto fahren, das vielleicht da gewesen wäre. Was es nicht schlechter macht, wir alle studieren eigentlich immer »nur« Abbilder und Momentaufnahmen der Welt und bilden unsere eigenen Referenznetzwerke. Und doch kommt StreetView näher an diesen totalen Realismus als eigentlich alles, was mit Kunst und Herzblut geschrieben wurde. Was es wiederum nicht besser macht, aber wenn das Herz mal beiseite tritt, kann man den fleißig existierenden Rest einmal genau betrachten, quasi Lungen, Nieren, Darm, Speicheldrüse, Haut. Die emotional ansonsten wenig aufgeladenen Bestandteile eines Körpers beziehungsweise Landes. Die Lunge und Konsorten sind in diesem Fall Briefkästen, Bushaltestellen, Schlaglöcher, Laternenpfähle etc. Sie werden als Requisiten wahrgenommen, sind aber die vernachlässigten Komplizen des Herzens und prägen eine Region mitunter vielleicht stärker, als Herzstücke wie Landschaft oder Menschen.
Allerdings geht auch das, wir ins uns tragen, früher oder später ins Herzblut über, und wenn das nun mal über viele Monate hinweg extrem exzessives GeoGuessr-Spielen war, dann ist das der Kern, der Referenzpunkt.
Trevor Rainbolt hat vor einigen Wochen seinen gesamten Besitz verkauft und befindet sich auf Weltreise, jeden Monat lebt er in einem anderen Land (Stand Februar 2023 waren das erst Deutschland, Spanien, Italien, Madeira und Thailand). Wenn sein bisheriges Resumee dieser Reise das folgende ist: »visiting new cities is unironically like playing geoguessr in real life. like video game turned to reality«, dann ist das gar nicht so absurd, wie es sich zunächst anhört und es bedeutet nicht, dass er das Privileg, überhaupt so frei reisen zu können, nicht zu schätzen weiß.
Die Wahrnehmung dieser Orte ist schließlich besetzt, durch Massen an Bildmaterial und Studium von Details, die vor Ort einem GeoGuessr-Spieler viel stärker ins Auge stechen als einem normalen Touristen. (So wie jemand, der die Strudlhofstiege gelesen hat, anders durch Wien läuft als jemand, die das nicht getan hat.) So postet er aus Spanien natürlich Photos von Strommasten und Schildern von Fußgängerüberwegen. Die Leidenschaft und Hingabe, die es braucht, um endlose Reihen von Strommasten-Typen zu lernen, verpufft ja nicht im mit Zeichen vollgestopften, internationalen Raum oder beim Hämmern auf die Space-Taste. Außerdem ist Spanien das Land mit den meisten Streifen auf diesen Schildern (8). Wussten Sie, dass die Übergänge auf diesen Schildern je nach Land unterschiedlich viele Streifen haben? Wer es genauer wissen möchte, hier gibt eine Karte.
Dass in Frankreich »Stop« auf den Stop-Schildern steht, in Quebec jedoch »Arrêt«? Überhaupt gibt es 37 verschiedene Stop-Schilder in Kanada.
Oder Sie srollen durch die Ampeln der Welt.
Oder die Glitches, bzw. Rifts. (Sie werden nicht glauben, was in Brasilien auf der Kamera sitzt!)
Wie sehr sich das Spiel verändert, wie viel schwieriger die Bezüge werden und die Erkenntnisse, zeigt sich auch, wenn buchstäblich »GeoGuessr in real life« gespielt wird, das heißt, wenn man mit verbundenen Augen irgendwo hingefahren wird und dann raten soll, wo man ist. Es ist einfach etwas komplett anderes, eine Brücke anhand bestimmter Kriterien des erstellten Bildmaterials auf einer Karte zu suchen, als direkt draufzustehen.
Auch, wenn sein trockener Kommentar zu dem Ort »It’s a bridge, so it’s 5k-able.« ist (5000 ist die höchste Punktzahl bei Geoguesser, wenn man also exakt den richtigen Ort trifft.). Leider sind die logistischen Hürden bei dieser Spielvariante so hoch, dass sie selten gespielt wird.
Wie das Wissen um die Form von Telefonmasten, die Farben von Straßenmarkierungen und die Zusammensetzung lokaler Vegetation außerhalb des Spiels eingesetzt werden kann, zeigen Davis und Rainbolt, wenn sie die Orte auf alten Familienphotos lokalisieren. Letzteres ausdrücklich auf Wunsch der Leute, die ihnen diese Photos schicken, sei sicherheitshalber hinzugefügt.
Denn auch hier gilt: sehr beeindruckend, ein bisschen beängstigend, alle diese Hinweise könnten theoretisch auch eine wertvolle Waffe für Stalker sein. Andererseits kann eine leere Coladose in den Händen eines Mörders auch eine wertvolle Waffe sein. Womit ich das nicht runterspielen will. Die Welt ist ein gefährlicher Ort. Wobei den meisten Leuten eher das Umgekehrte in den Sinn kommt, denn einer der häufigsten Kommentare zu diesen Videos ist »You should work for the CIA!«, also der direkte Sprung zur Verbrechensbekämpfung. Es scheint in den Köpfen immer noch fest verankert, dass es supercool wäre und das höchste Kompliment, für diese Behörde zu arbeiten, die ultimative Errungenschaft. Eine ganz wilde Vermutung: Es liegt an Hollywood. Oder daran, dass diese Behörde naturgemäß hauptsächlich im Verborgenen arbeitet. Denn Rainbolt hat in einem Interview gesagt, was er tue, wirke ein bisschen so wie bei einem Zauberer. Wenn man von Zauberei keine Ahnung hat, erscheint es komplett rätselhaft und überwältigend, aber wenn man ein paar der Tricks schon kennt, hat man eine viel bessere Vorstellung davon, wie ein anderer Trick funktionieren könnte, und er wirkt gleich viel weniger überwältigend. Wenn man sich Videos des Lernprozesses anguckt oder Turniere, in denen viel diskutiert und abgewogen wird, dann schwindet das Gefühl von »Wie zur Hölle macht der das?!«, und es bleibt eine große Bewunderung für extremen Fokus, ein enormes Gedächtnis und die Besessenheit, sich ganz auf diese eine Sache zu konzentrieren. Aber die Realität hat auch was, wenn sie so gut bespielt wird.
Ob sie bei Turnieren ge- oder bespielt wird: egal. Da treffen sich online ca. 30 Spieler:innen, um ein paar Stunden lang gegeneinander zu spielen. Um ein bisschen gespendetes Geld und Bragging Rights, die Atmosphäre schwankt zwischen Ausgelassenheit und höchster Aufregung. Dabei sind die allermeisten Teilnehmenden junge Männer. Es gibt ein paar wenige Frauen, die öfter dabei sind, das Einzige, was dabei jedoch auffällt, dass sie eher mit noch größerem Respekt behandelt und von Frotzeleien verschont werden. Vermutlich ist es am Ende schon irgendwie eine männliche Sache, aus einem so profund nicht aggressiven Spiel eine sehr kompetitive Angelegenheit zu machen, bei dem es vornehmlich darum geht, mit seinem guten Gedächtnis zu flexen. Aber wenn der Höhepunkt der Aggression Gespräche wie: »We need to learn some german trash talk!« »I’ll teach you some german trash talk: DerZiggy is nisch soh gudd!« ist, ist das auch wieder ganz putzig.
Es ist der Charme der Begeisterung über diesen Exzess der Anhäufung von Wissen, das außerhalb des Spiels relativ zweckentbunden ist, aber das sich auch einem Außenstehenden sofort erschließt, da in einer mehr oder weniger bekannten Welt gespielt wird. (Siehe oben.) Wissen, das man haben kann, aber nur muss, wenn man gut GeoGuessr spielen möchte. Wobei das natürlich als Zweck komplett ausreichend ist, ein Spiel kann eine ernste Sache sein, wenn man es dazu macht. Und das kann wunderschön und sehr lustig sein.
¹ Laut https://www.similarweb.com/de/website/geoguessr.com/#traffic am 3.12.2022