Vielleicht bin ich krank, pervers oder auch einfach nur ein Arschloch. Ich und einige andere Elendsvoyeure, deren Ego es nicht zulässt, alle Hemmungen fahren zu lassen und sich dem wirklichen Elend – Sie wissen schon: Flüchtlinge, Krieg, Hungersnöte, – zu widmen und sich daran, wie man so schön sagt, »zu ergötzen«; aus der bequemen Position heraus, all das nicht erleiden zu müssen und sich deswegen ein schlechtes Gewissen gönnen zu können. Man ist ja kein Unmensch, man leidet ja mit, man würde ja was tun, wenn man könnte, aber Probleme hat man schließlich selbst, und wenn nicht, dann erliest man sie sich.
So machen das wir Kunstkenner_innen, wir literarisch versierten: Wir wählen die sichere Variante, in Form eines Romans, so kunstfertig wie nur möglich, denn je kunstfertiger, desto akzeptierter der Konsum des nicht selbsterlebten Elends. Der vielleicht größte Vorteil daran ist, dass anschließend keine Aktion von einem erwartet ist, gegen fiktives Elend kann man nicht angehen, man rollt sich allein in seinem Empathie-Schmerz, und es gibt tatsächlich Menschen, die einen dafür auch noch bewundern.
Das wäre eine Erklärung, die ich mit vollkommener Absicht so überspitzt formuliere, um sie nicht als wahr anerkennen zu müssen.
Aber wenn ich sie nicht akzeptiere, dann muss eine Alternative her. Diese könnte lauten, dass wir uns tatsächlich alle des Elends in der Welt irgendwie bewusst sind – aber beim Versuch, uns die Ausmaße des Leids in der Welt vor Augen zu führen und voller Empathie zu verinnerlichen, würde uns der Kopf platzen. Oder implodieren. Übrig bliebe eine kleine, feuchte Pfütze vergorener Humanität, die handlungsunfähig unter der Sonne der Realität verdampft.
Vielleicht empfindet man stattdessen artifiziell evoziertes Surrogatmitleid in der schönen, schimmernden Blase der Literatur und atmet währenddessen den beruhigenden Duft der Fiktion. Diese Blase platzt, sobald man das Buch zuschlägt. Gut, im besten Fall »hallt das Buch noch lange nach«, am Ende liegt unser Kopf trotzdem eher auf einem Kissen als in der Gosse.
Die wohlfeil durch eine_n Autor_in mit dem Roman geschaffene Fiktion ist ein sicherer Raum, in dem zivilisiert gebangt, das Herz sich um Papier krampfen darf und die Tränen irgendwo in den Ritzen zwischen zweiter Erzählebene und manifestierter Leser_innen-Rezeption verrinnen, ohne, dass die eigene Involviertheit in die Realität überschwappt. Fiktion ist Fiktion, ein Roman ist ein Roman, und Papier ist Papier, und ganz egal, wie eng sich die Fiktion an die Realität schmiegt, sie sind auf ewig getrennt durch die Haut zwischen zwei Entitäten, deren Unterschiede mit Worten kaum zu fassen sind. Realität und Fiktion sind zwei Parallelen, die sich, so viel weiß ich noch aus dem Mathematikunterricht, niemals schneiden.
Worauf ich eigentlich hinauswill? Auf eine Antwort auf die Frage, warum »wir« (ich spreche für die Menschen, bei denen das Folgende der Fall ist) eigentlich so gerne Bücher lesen, in denen alles um Leid, Elend, Schmerz und Unglück kreist, gerne auch mit the most unhappy of all endings. Zumindest könnte man den Eindruck bekommen, dass »gute Laune« und »Hochliteratur« sich nahezu ausschließen, Ausnahmen und Mischformen aus humorvollem Stil und widerwärtig schmerzhaftem Inhalt, wie beispielsweise Lolita, bestätigen aufs Schönste diese Regel.
Es ist selbstredend so, dass irgendeine Handlung oder Thematik in den allermeisten Fällen für einen Roman vonnöten ist. »Fortdauernde Glückseligkeit« ist nun mal kein besonders guter Plot, außerdem neigt der Mensch im glücklichen Zustande selten zur Nachdenklichkeit und Reflexion. Und auch das happy end ist nicht das beliebteste aller möglichen Enden in Büchern, die nicht in bunten Stapeln angeboten werden. Krankheit, Krieg, Tod, Liebeskummer, Abstürze, Niedergänge, Drogensucht und Weltschmerz versprechen viel eher einen Platz auf der Longlist des Deutschen Buchpreises als der lustige Urlaub mit Tante Emma, die am Ende einen neuen Lover findet.
Ein Autor, dessen Werk vor allem Variationen des Unglücks und des Schmerzes umkreist und diese mit dem allerschönsten Wortfluss umspült, ist Gunther Geltinger. Seine Romane sind blutige Tränen in feinziselierten Kristallflakons, um mit diesem Ausdruck mal tief in die Kitschkiste zu greifen, die eigentlich überhaupt nicht Geltingers Revier ist.
Seine Revier ist das Unglück, das einem in jeder Phase des Lebens zustoßen kann, aber dann den meisten Schmerz verursacht, wenn die Seele noch nicht so viele Narben trägt und noch Hoffnung da ist als Zündhilfe für eine brausende Fahrt ins Menschendasein: die Pubertät, die Adoleszenz, die Jahre vor der Kapitulation. Denn kapitulieren müssen wir alle, und wer genug schwerwiegende Literatur gelesen hat, der weiß, dass die Hoffnung ein knappes Gut ist, kurz und heftig verbraten in der Jugend, und der letzte kleine Rest wird ängstlich mit sich herumgetragen und schließlich mit ins kalte Grab genommen.
Aber wir folgen Dion trotzdem durch all seine Schmerzen, durch das Moor, durch das seltsame Verhältnis zu seiner Mutter und winden uns durch Sätze, die sich schlingenhaft um unseren Hals legen und den Sensiblen unter uns vielleicht sogar ein paar Tränen abpressen.
Bei Geltingers Formulierungsgabe könnte man glatt der Idee verfallen, man läse seinen Roman Moor TROTZ der in allen Farben der äußeren Enden des Spektrums schillernden Geschichte, allein, weil die Sprache so schön ist und weil man, hat man erst ein paar Sätze gelesen, schon so tief drin steckt, dass man nicht mehr hinauskommt. Der Verdacht liegt nahe.
»Du warst nackt und in lebensgefährlicher Tiefe, mehr hast du nicht mehr gewusst, als sie die Bettdecke wegzog und dein Blick wie jeden Morgen auf die große Wanduhr fiel, auf der ursprünglich ein dottergelber Mond freundlich grinste, den sie als Geburtstagsgeschenk zum blutroten Kopf einer Heidelibelle übermalt hatte, ihr erster Angriff auf deine Kindheit, so dass nun nicht mehr das gütige Nachtgesicht, sondern ein Raubinsekt die Zeit deiner Träume bemisst, aus den Facettenaugen des Zifferblatts, das kurz nach sieben anzeigte, und das Zimmer noch dunkel, jetzt war der Sommer endgültig vorbei. Sie drückte dir den Kuss mit dem Schlafgeruch auf die Stirn und sagte ›Guten Morgen, Liebling, gehen wir zum Teich?‹« (Moor, 2013, S.10)
Ich stelle aber die Behauptung auf, dass es nicht trotzdem ist, dass der Inhalt durchaus ausschlaggebend ist, denn schließlich ist auch David Vann zum Beispiel nicht unpopulär, und das, obwohl sein Stil schnörkelloser und seine Bücher brutaler (in vielerlei Hinsicht), weil sie alle Empathiekapazitäten ihrer Leser_innen mobilisieren und dann komplett für sich beanspruchen. Empathie und Kunstfertigkeit sind die entscheidenden Distinktionsmerkmale, Notwendigkeit und Schönheit die Grundlagen großer Literatur, und vielleicht spiegelt die Literatur einfach die Welt, in der es mehr zu betrauern und zu verschmerzen als zu feiern gibt. Das wäre zwar traurig, aber abwegig ist es nicht.