Im Grunde gibt es auch in der Mode Genres, die unabhängig von der Nutzung der bezeichneten Kleidungsstücke zu erkennen sind. Vielleicht habe ich die nur frei erfunden, aber im Grunde lassen sich fast alle Modeschauen in grobe Themenkreise einordnen: die Prinzessinnen-Kollektion, die historische, die futuristische, die retro-futuristische, die künstlerisch-untragbare, die nostalgische und die Ethno-Kollektion. Ich glaube, damit sind circa neunzig Prozent aller Haute Couture-Schauen eingeordnet, ohne dass sich ein Modeschöpfer am betont schlichten schwarzen Pulli gezupft fühlt. Sollte auch niemand, schließlich sind die groben Fahrtrichtungen beschränkt, man kann sich natürlich auch auf den Hintern setzen und auf den Boden starren, aber davon hat niemand so richtig was. Dann doch lieber den Weg einschlagen, den jemand anders schon mal ging, aber diesmal auf Zehenspitzen. Oder rückwärts. Vollkommen andere Erfahrung.
Und so funktioniert es jede Saison wieder: dass Kollektionen um Kollektionen anhand von Trends ersonnen werden, die es schon einmal gab, aber in wunderlichsten Formen und Farben und in einer Perfektion ausgeführt, die wir Normalsterblichen nicht einmal beim Einpacken eines Geschenks erreichen.
Großartig und berührend wird diese Kunst eben in dem Moment, wo der Rahmen von innen ausgebeult, das ganze Konstrukt in Schieflage gebracht wird.
Die Mode von Gareth Pugh wirkte nie wirklich brandneu, etwas kam einem immer bekannt vor, und doch waren die Formen immer das entscheidende bisschen übertrieben, die Inszenierung exaltierter, wie eine geschmackvolle und aufregende Karikatur von Avantgarde. Im Laufe der letzten zehn Jahre entwickelte sich seine Mode in eine immer tragbarere Richtung, weg von dem betont bizarr Übertriebenen, er bewegte sich von der Grenze zur Kunst weg, hin zum Alltagstauglichen (die Distanz dazu ist aber immer noch beträchtlich). Aber auch seinem Frühwerk war immer deutlich anzusehen, dass er sich an fast traditionellen Formen der Eleganz orientierte und nie wirklich den Körper negierte.
(Wie es aussehen kann, wenn Körper bei der Formgebung wirklich keine Rolle mehr spielen, und wie mächtig eine Modeschau trotzdem oder gerade dann aussehen kann, hat beispielsweise Rei Kawakubo (mal wieder) diesen Herbst gezeigt:)
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Gareth Pugh weiß seine Mode in den Kontext eines Genres zu stellen, ein paar Ensembles in ihrer Schrillheit über die Klippe zu schubsen und doch im Grunde in Bezug auf Proportionen, Material, Farben und Kunstfertigkeit wunderschöne Bekleidung zu erschaffen, die auch außerhalb des Genre-Kontextes funktioniert. Oder funktionieren könnte.
So auch in seiner »historischen« Herbst/Winter-Kollektion 2015, die das elisabethanische Zeitalter weniger zitiert als nachbaut und mit einem von pathetischem Kitsch überquellenden Kurzfilm einleitet, der sowohl Elisabeth I. anklingen lässt als auch den Film mit Cate Blanchett über selbige. Die pathetische Geste zieht sich wie die klebrige rote Farbe durch die gesamte Show, die Hüte, das »Make Up«, die Musik, die Selbstzitation und die Zitate anderer Meister*innen der modischen Avantgarde (das Bettdecken-Kleid). Dieses Pathos ist tragender Bestandteil, das Gerüst des Ganzen, aber auch die flackernde Laterne, die den Weg durch die Masse schwarzer Kleidung weist.
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Genres und all ihre Bedingungen und Implikationen sind auch Gerüst und flackernde Laterne für die Romane von Michel Faber.
Das karmesinrote Blütenblatt, sein Bestseller aus dem Jahr 2002, bedient sich nicht nur am Buffet der Möglichkeiten des Genres »Historischer Roman«, er ist einer. 800 Seiten – weil historische Romane nun einmal dick sein müssen – über eine viktorianische Prostituierte, die sich in die feinere Gesellschaft hochschläft. Der »Klischee!«-Vorwurf klatscht in die Hände und wartet mit zart geröteten Wangen bebend auf seinen Einsatz.
Aber der Ton des Romans ist mit einem Augenzwinkern zu Beginn gesetzt, wenn die Leser*innen nicht ganz sicher sein können, wer da zu ihnen spricht: das Buch oder die Protagonistin?
»When I first caught your eye and you decide to come with me, you were probably thinking you would simply arrive and make yourself at home. Now that you’re actually here, the air is bitterly cold, and you find yourself being led along in complete darkness, stumbling on uneven ground, recognising nothing. Looking left and right, blinking against an icy wind, you realised, you have entered an unknown street of unlit houses full of unknown people.
And yet you did not choose me blindly. Certain expectations were aroused. Let’s not be coy: you were hoping I would satisfy all the desires you’re too shy to name, or at least show you a good time. Now you hesitate, still holdig on to me, but tempted to let me go. When you first picked me up, you didn’t fully appreciate the size of me, nor did you expect I would grip you so tightly, so fast. Sleet strings your cheeks, sharp little spits of it so cold they feel hot, like fiery cinders in the wind. Your ears begin to hurt. But you’ve allowed yourself to be let astray, an it’s too late to turn back now.«
Der »Das ist doch Satire!«-Einwand lungert – das gegürtete Cape lässig übergeworfen – in den Marginalien, seine stumpfen Äuglein schweifen gierig über die Seiten. Der Einwand wartet und wartet… und kommt doch ungefähr genauso oft zum Einsatz wie ein Kleid, das aussieht, als habe man sich eine Daunendecke umgeschnallt.
Im kommerziellen Schatten dieses Buches stehen Fabers Science-Fiction Romane, sein Debüt Under the skin aus dem Jahr 2000 und sein letzter Roman (er erklärte, dass dies sein letzter sein würde, aber die Hoffnung besteht, dass er das zurücknimmt) The book of strange new things. Beide bieten fremde, bewohnte Planeten, Raumschiffe und besorgniserregende Zukunftsvisionen. Aus diesem im Rahmen des Sci-Fi-Genres recht konventionellen Gewand ragen jedoch die Köpfe von Geschichten, deren Potential zur Rührung und Verstörung nicht geschmälert würde, selbst wenn die Protagonist*innen dieser Bücher nicht Aliens, sondern beispielsweise Kaninchen wären. Oder wenn sie in einem Kindergarten spielten.
Die Lesarten mögen einem ins Gesicht springen: Under the skin ist eine drastische und explizite Parabel auf Fleischkonsum (die Verfilmung von Jonathan Glazer erzählt übrigens nur einen Bruchteil des Buches). Und wenn man vom Krebstod von Michel Fabers Frau weiß, fällt es schwer, The book of strange new things nicht unter diesem Aspekt zu lesen und zu interpretieren: die große Entfernung, die schwierige Kommunikation, die immer weiter auseinander driftenden Lebensrealitäten. Das Herzzerreißende des irrationalen Schuldgefühls.
Raumschiffe, Aliens und das wilde London des 19. Jahrhunderts sind die klebrige rote Farbe Michel Fabers. Die macht seine Bücher jeweils zu einem »Showpiece«, das sich nicht auf die rote Farbe verlässt, ohne sie eben aber auch nicht möglich wäre. Und nie brechen alle Dämme. Wie Gareth Pugh sich immer noch irgendwo an der traditionellen Silhouette orientiert, brechen Michel Fabers Romane selten komplett die bestehenden Denkmuster. Auch die Aliens, die weit, weiiiiiit von der Erde wohnen und kein Gesicht haben, sind trotzdem alle Individuen, tragen Kutten und sind körperlich. Es geht dem Autor wohl auch gar nicht darum, alles zu durchbrechen und neu zu ordnen, er zeigt auf, was innerhalb dieser Muster alles möglich ist. Und einem, der das Ausbleiben des Lieblingsdesserts im Supermarkt als Auftakt zu einer Katastrophe zu setzen weiß, dem darf man das zutrauen.