Es ist wirklich nicht so, dass ich eine große Adorno-Kennerin wäre, seine Schriften zur Musik und Ästhetik habe ich mir bisher noch nicht vorgenommen, und in meiner Ausgabe der Dialektik der Aufklärung gibt es zwar ein paar unterstrichene Sätze und Ausrufezeichen, die ich während des Lesens mit absoluter Begeisterung und Zustimmung gesetzt habe – in einer Passage spricht Adorno über die Popularisierung von Musik, die ich sofort kopieren und in jede David-Garrett-CD dieser Welt klemmen wollte –, aber ich würde vermutlich arg ins Stammeln geraten, sollte ich sie wiederholen. Ist auch ziemlich egal, denn unabhängig von seinen akademischen Arbeiten ist Adorno eine meiner ganz großen Lieben. Grund dafür sind vor allem zwei Bücher: sein Briefwechsel mit Siegfried Kracauer und seine Traumprotokolle. In diesen Büchern spricht nicht Theodor W. Adorno, sondern »Teddie«. »Teddie« ist ein schwieriger, charmanter Mensch, der öfter mal für lautes Lachen oder ein quietschendes »Awwwww!« bei mir sorgt.
Zu den Briefen: Sie wurden in einen sehr nüchternen Umschlag gesteckt, und Theodor W. Adorno Siegfried Kracauer Briefwechsel 1923-1966 klingt erst mal nicht nach sonderlich wilder Lektüre, vor allem, wenn man von Adorno das Bild vor Augen hat, das ihn heute hauptsächlich prägt – das eines schlecht gelaunten Professors ohne Haare:
Dieser Eindruck, den Theodor Wiesengrund Adorno im kulturellen Gedächtnis hinterlassen hat, ist aber schon mit dem ersten Brief vom 5. April 1923 wie weggewischt. Kracauer beginnt ihn mit dem Befehl »ALLEIN LESEN!!!« und fährt fort: »Ich fühlte in diesen beiden Tagen wieder eine solch quälende Liebe zu Dir, daß es mir jetzt so vorkommt, als könne ich allein gar nicht bestehen.« (S. 9)
Holla die Waldfee, das muss man erst mal sacken lassen. Doch Kracauer belässt es nicht dabei, was folgt, ist einer der wohl herzzerreißendsten Liebesbriefe, den die Welt je gesehen hat: »Sieh, lieber, lieber Teddie, es ist mein Ernst, wenn ich Dir sage, daß mir die Philosophie und all das Zeugs ein Dreck gilt im Vergleich mit der Gegenwart, wo die Einsamkeit aufgehoben ist, und die Liebe waltet und wir mit unserer Existenz ›Einfachheit, Halt und Bedeutung‹ finden. Mir genügte unser so schwebendes Sein als Religion, ich verlangte nichts weiter als ein Wirken aus unserer Gemeinschaft heraus und ein ›Gang noch zu zweien‹. Hast Du auch diesen Brand in Dir?« (S. 10) Da steht doch das feine Papier, auf dem diese Worte gedruckt sind, in lodernden Flammen.
Kracauer endet mit der bangen Frage: »Du bist 19 – ich 34 – geht es doch?«, und ich saß da, Nägel kauend auf Teddies Antwort wartend, und wollte, dass auch Teddie brennt und dass es »doch geht«, und warf mich Hals über Kopf in ihren Briefwechsel. Er ist das Protokoll einer nie wirklich endenden Liebesbeziehung zwischen zwei hochintelligenten Diven mit der großen Bereitschaft, den anderen zu verletzen und sich im eigenen Beleidigtsein zu suhlen. Und dennoch ist die unglaubliche Angst, den anderen zu verlieren, in jedem Satz präsent.
Diese innige Liebesfreundschaftsbeziehung zieht sich über Jahre – Spoiler Alert: Irgendwann heißt die Grußformel »Dir und Lili alles Liebe von Gretel und Deinem alten Teddie« (S. 391) –, es wird gezickt und gebockt, selten entschuldigt, viel einander gehuldigt und auch erbarmlos kritisiert, ein gemeinsamer Urlaub geplant mit einer Entschlossenheit, die Kafka fast das Wasser reichen kann. (Nachzulesen in dessen Briefe an Milena, ein berückendes Sammelsurium an zauberhafter Unentschlossenheit.)
Und immer öfter verflucht man Adorno dafür, dass er offenbar sehr viel weniger gut auf die an ihn adressierten Briefe aufgepasst hat als Kracauer. Nichts ist für die neugierig in den Privataffären Verstorbener herumwühlende Leserin schlimmer, als wenn ein Brief von Adorno beginnt mit: »Dein Brief schlug furchtbar in mich hinein …« (S. 64) und die Fußnote vermerkt: »Dein Brief: Nicht überliefert.«
Es bleibt aber immer noch reichlich übrig, und die Leserin staunt ob der Formulierungskunst und Beobachtungsgabe des zu Beginn der Korrespondenz gerade mal 19-jährigen Adorno. Der hatte schon in jungen Jahren ordentlich was auf dem Kasten. Auch, wenn er bereits als Teenager ein wenig spießig war, was sich später in seinem Hass auf Jazz entlarvte. Das ist zumindest meine nicht sonderlich unterfütterte Theorie. So schreibt er beispielsweise über eine Wiener Bekanntschaft: »… sie ist sehr geistreich, läuft aber stets mit 2 Revolvern und Kokain herum, was fraglos seine Bedenken hat.« (S. 27) Na komm, Teddie, wer wird denn so kleinlich sein? Aber es sei Dir verziehen. Ein Spießer magst Du sein, aber Deine Beobachtungsgabe und Deine Fähigkeit, Menschen in zwei Sätzen definitorisch aufzuspießen, sind ohnegleichen.
Selten hat mir eine Lektüre mehr Freude gemacht. Nicht nur, weil sie charmant, intensiv, unterhaltsam und mitreißend auf einem Niveau ist, das man selten findet, sondern auch, weil sie immer wieder die Frage aufwirft, was noch alles hätte sein können zwischen diesen beiden Menschen, deren Intellekte sich so schmerzhaft wie Halt gebend ineinander verkrallt hatten. Wären da nicht gewisse gesellschaftliche Parameter gewesen, die dem Ganzen einen engen Rahmen steckten. Obwohl natürlich so Einiges unter diesem Rahmen hindurchsickerte: »Ich hoffe Dich bald wiederzusehen, überall blühen die Bäume.« (S. 115) Hach!
Ganz anderer Natur sind die Traumprotokolle, die Adorno führte. Gäbe es eine Humor-Abteilung bei Suhrkamp, dieses Buch wäre ein Spitzentitel.
Wir alle träumen allerlei Blödsinn, die wenigsten schreiben ihn auf. Adorno tat es, und es ist meist ziemlich lustig, was er da in knappen, trockenen Worten notierte und, obwohl absurd, immer sehr konkret und nicht allzu weit von den Möglichkeiten dessen entfernt, was wir gemeinhin als »Wirklichkeit« bezeichnen. So bekommt er im Traum ausgerechnet von ebenjenem »Friedel« Kracauer Geld, damit er ins Bordell Maison Drouot gehe, weil man dort so gut zu speisen versteht. Adorno tut wie geheißen und isst im Bordell »ein Beefsteak, das mich so beglückte, daß ich alles andere darüber vergaß. Es war in einer weißen Soße.« (S. 8)
Überhaupt sind Bordelle ein häufig auftretender Ort in seinen Traumprotokollen. Einmal trifft er dort auf ein Mädchen, das aus Glas ist oder »vielleicht aus dem elastischen, durchsichtigen Kunststoff, aus dem meine neuen Hosenträger gefertigt sind« (S. 25). Wie bitte?
Eine ganz besondere Perle, deren verstörender Glanz in die Realität hinein strahlt, ist allerdings die »Schwanz-Waschmaschine«. Ja, richtig gelesen. Adornos wunderschöne Geliebte verweigert sich ihm im Traum, solange er keine »Schwanz-Waschmaschine« benutzt, denn »nur jene Maschine garantiere es, daß man an jener Stelle von jedem störenden Geruch frei sei; nur wenn ich mir eine kaufe, werde sie mich stets mit dem Mund lieben.« (S. 84) Die Dame hat Grundsätze, oder was meint Teddie dazu? »Ich war nicht sicher, ob sie nicht eine Vertreterin der Firma war, welche die Maschinen herstellte. Lachend aufgewacht.« (S. 85)
Liebe und die Geschäftstüchtigkeit bilden in Teddies Träumen noch öfter eine Kombination: »Gretel sagte mir: ›ich weiß nun, wer der neue Geliebte von Y. ist. Es ist Mannesmann, der Erfinder der Mannesmann-Röhren.« (S. 33)
Das Lachen bleibt einem jedoch im Hals stecken, wenn im selben – der Brite würde wohl »deadpan« sagen – Ton zutiefst verstörende Dinge notiert werden. Da wäre zum Beispiel der Traum, in dem Adorno Zeuge wird, wie junge Männer sich selbst enthaupten: »Ohne jeden Affekt zugeschaut, aber mit Erektion aufgewacht.« (S. 43)
Bordelle, Guillotinen, Krokodile, ein paar bekannte und benannte Gestalten … das Personal und die Orte der Träume sind vielfältig, aber irgendwie passt alles zusammen, fügt sich in Adornos rundem Kahlkopf zu einem eigenen Universum zusammen. Sehr lustig, sehr verstörend, sehr rührend zuweilen sind seine Traumprotokolle. Dass es »wahre« Träume sind, glaube ich sofort, denn man hätte sie nicht besser ausdenken können. Sie wachsen sich zu einer bizarren Form der Literatur aus, die zeitlos jenseits aller Bewertungskriterien steht. Welche Maßstäbe sollte man auch an einen Traum anlegen, der da lautet: »Hölderlin hieß Hölderlin, weil er immer auf einer Holunderflöte spielte.« (S. 10)
Eines Tages, ganz bestimmt, werde ich alles lesen, was Theodor Wiesengrund Adorno zur Dialektik und zu Schönberg und Konsorten zu sagen hat, aber vorerst bleibt er meine grund- und ahnungslos hochgeschätzte Lieblingsikone unter den Intellektuellen des letzten Jahrhunderts, bleibt er für mich Teddie.
P.S. Über die Minima Moralia reden wir mal von Angesicht zu Angesicht in einem anderen Leben, ja?