Den Raum erobern, nicht die Zeit
In den letzten Monaten spielte weniger das Vergehen der Zeit eine Rolle, sie schien stillzustehen, alles konzentrierte sich auf ein ungewisses »Danach«, es gab keine wirkliche Dynamik mehr, das Erleben war statisch geworden. Stattdessen bekam Raum mehr und mehr Bedeutung: die Räume, die man nicht besuchen konnte, der immer gleiche Raum um einen herum, die immer gleichen Spazierrouten. Das Bedürfnis, die Wände zu verschieben, wuchs, das Bedürfnis, einmal woanders zu sein. Also hatte ich mich auf die Suche nach Räumen begeben, und ich habe sie gefunden, zwei tröstliche Orte, in denen Raum sehr viel mehr bedeutet als Zeit.
Der eine Ort ist Der Nachsommer von Adalbert Stifter, was nicht weiter verwundert, da ihm ohnehin der Ruf, zu gewissen statischen Tendenzen zu neigen, schon vorauseilt.
Der andere ist das Virtual-Reality-Spiel Beat Saber, auch wenig überraschend, da es bei Virtual Reality schließlich zum Prinzip gehört, einen eigenen Raum zu erschaffen, aber Überraschungen sind ohnehin überbewertet.
Erklärend möchte ich vorausschieben, dass mein Enthusiasmus für dieses Spiel auch daher rühren könnte, dass ich in meinen fast vierzig Lebensjahren noch nie eine Spielkonsole besessen habe und, abgesehen von der schon fast klassischen Tetris-Besessenheit, keinerlei Bezug zu Computerspielen hatte. Bis ich letztes Jahr Gelegenheit zum Beat-Saber-Spielen bekam, der Gedanke daran mich nicht losließ, und nun ruhen eine (gebraucht gekaufte, der Spaß ist nicht günstig und wegen Facebook-Zugehörigkeit auch nicht ganz schmerzfrei) Virtual-Reality-Brille und die dazugehörigen Controller in ihrer Hülle neben mir und lassen auf Knopfdruck einen Raum um mich erstehen.
Wie dieser Raum technisch im Detail entsteht, kann Wikipedia besser erklären als ich. Wichtig ist vor allem: Ich habe ein gepolstertes Gerät auf dem Kopf mit Linsen vor den Augen, das einen neuen, einen anderen Raum um mich herum aufbaut und, was vielleicht noch wichtiger ist, den physischen Raum verschwinden lässt, zumindest optisch.
Beherrschen lässt sich dieser Raum mit zwei Controllern, die jeweils aus einem Plastikring bestehen, und einem Griff mit diversen Knöpfen, bei den meisten von ihnen weiß ich bis heute nicht, wozu die eigentlich dienen. Dazu ist an jedem Griff eine Schlaufe angebracht, die man zur Befestigung um die Handgelenke ziehen kann. Warum man das unbedingt tun sollte und welche Wirkung es haben kann, es nicht zu tun, werde ich später noch erklären.
Da der physische Raum nicht zu sehen sein wird, wenn ich spiele, aber leider immer noch da sein wird, und damit es deswegen nicht zum rapid unscheduled disassembly kommt (der Begriff ist von Elon Musk, ich mag ihn trotzdem sehr), brauche ich einen safe space. Den male ich mit dem zum Laserpointer gewordenen Controller auf den Fußboden, ich sehe dabei die Umrisse meiner Wohnung durch eine Videokamera und kann Möbel, Bücherstapel und sonstiges Herumliegendes umkurven. Dieser gezeichnete Umriss leuchtet strahlend auf, und dann entsteht um mich herum ein ebenso leuchtendes, virtuelles Gitter, der Guardian, mein safe space, den ich nicht verlassen sollte. Während des Spielens ist er nur zu sehen, wenn ich mich ihm nähere, der goldenste Käfig der Einzimmerwohnung in Pandemie-Zeiten. Und dann passiert etwas Wunderschönes: Ich stehe im Menu. Es gibt verschiedene Optionen, wie das aussehen kann, diese Steuerungszentrale für alle meine Unternehmungen, während ich die VR-Brille trage, aber für mich gibt es nur die eine: den Quest Dome. Der Quest Dome ist eine hölzerne Kuppel mit sehr viel Fenster, durch das ich ins nächtliche Hochgebirge hinausschaue, da draußen ist zartes Grillenzirpen zu hören, ein paar Nadelbäume sind zu sehen, und nah und doch ganz fern ein paar identisch gebaute Hütten, warme Lichter in der Nacht. Der Himmel ist ein von funkelnden Sternen und wogenden Nordlichtern durchzogenes Farbenspiel, und wenn ich den Kopf in den Nacken lege, kann ich bei aufmerksamem Schauen eine Sternschnuppe sehen. Ich kann mich im Kreis drehen und sehe doch den Raum. Ich kann mich auf den Rücken legen und sehe durch die Glaskuppel im Dach direkt in die Sterne. Das Zimmer um mich herum ist modern, aber gemütlich eingerichtet: ein großes Bücherregal, ein Kamin, eine Couch. Diese Couch hat magische Anziehungskraft, zu gerne würde ich zu ihr gehen, mich hinsetzen und von dort aus den schimmernden Nachthimmel betrachten. Aber das geht nicht. Wenn ich das versuche, laufe ich höchstens schmerzhaft in meinen sehr realen Schreibtisch hinein, und dieser Schreibtisch kennt keine Sterne, nur meine alte IKEA-Lampe.
Ohnehin würde vorher mein Schutzgitter aufleuchten und mir sagen, dass ich mich aus meinem safe space hinausbewege. Interessant wird es allerdings, wenn ich das gezielt mache: an die Grenze herantrete und meinen Kopf durch das Gitter »nach draußen« stecke. Dann kann ich meine Wohnung sehen, meine leidlich aufgeräumte Realität, wie durch ein Nachtsichtgerät, irdisches Gut wie eine Tasse, ein Ladekabel oder ein Aschenbecher zeichnen sich körnig ab. Währenddessen steht der Rest von mir noch am grünen Rand der virtuellen Welt, an einem Ort der Stille, der künstlichen Erhabenheit, in dem ich alles sehen, aber nichts anfassen kann. Dort passiert nichts, weil sich alles wiederholt: der Zug der Polarlichter, der Fall der Sternschnuppe, das Flackern des Feuers.
Nicht unähnlich ist dieses Gefühl der Grenzüberschreitung zu dem, wenn ich von einem Buch, in dem ich gerade versunken bin, aufschaue, zum Beispiel aus der zauberhaften Welt künstlicher Erhabenheit des Nachsommers. Schließlich ist die Welt im Nachsommer auch ein idealisierter Modellbau, der zur Realität zwingend dazugehörige Dinge wie Dreck oder miese Charaktere einfach ausblendet. Es ist ein großer, heller, schimmernder Raum, durch den Mangel an Reibung scheint er statisch, durch den eklatanten Mangel an treibender Handlung – im Verhältnis zu seinem recht üppigen Umfang – gilt er vielen als schlicht langweilig. Hebbel ließ kurz nach Erscheinen schon verlauten »Wir glauben Nichts zu riskieren, wenn wir Demjenigen, der beweisen kann, daß er sie ausgelesen hat, ohne als Kunstrichter dazu verpflichtet zu sein, die Krone von Polen versprechen.«
Das hier soll nun keine Interpretation des Nachsommers werden, über dieses Buch haben sehr viel klügere Menschen schon sehr viel Klügeres geschrieben, mir geht es allein um den Raum, den Stifter der Leser:in darin schafft fast ausschließlich dadurch, dass sie so schwer vorankommt. Aber stehen lässt sich da freudvoll, die vielen Möbel betrachtend, die so detailliert und liebevoll beschrieben werden und die man doch nicht anfassen kann. (Das, zugegeben, haben die Möbel in Stifters Romanen mit den Möbeln in wirklich allen Romanen gemeinsam). Aber ich würde durchaus Parallelen sehen zwischen Stifters beschriebenen Marmorfiguren, Rosengärten, Gemälden und unschuldigsten Charakteren und dem Menu meiner VR-Brille. Die Realitätsnähe und die Realitätsferne ähneln sich. Es stimmen die Dimensionen, das Gerüst, der schweifende Blick, die Tiefe des Dargestellten, das Irisierende, das Glatte, aber es fehlt die treibende Geschichte dahinter. Ist es der Über- oder der Unterbau, der fehlt? Darüber ließe sich trefflich streiten. Und diese kleinen statischen Luftblasen im Geschehen, sei es bei Stifter die ausführliche Beschreibung, wie ein Baumstamm gewaschen wird, oder im Quest Dome ein knackender Funken im Kamin, diese kleinen Bedeutungsloops, Kreisel der Zeit, die die Handlung nicht wirklich voranbringen, sollen bitte auch gar nicht anders sein. Sie sind die Stützpfeiler meiner neuen Räume.
Ein ewiger Loop ist ebenso Beat Saber selbst, und hier bewege ich mich mal aus dem Menu heraus. Beat Saber ist ein sehr simples Spiel: Ich stehe auf einer Plattform, von der aus ich vorsichtig in die Tiefe linse, links und rechts habe ich ein leuchtendes Laserschwert in der Hand. Diese Schwerter vibrieren und rauchen, wenn ich sie aneinanderhalte, und dass das alles – inklusive der Plattform – an Star Wars erinnert, ist wohl nicht zufällig, aber auch erfreulich komplett egal. Ähnlich wie bei Tetris gibt es auch hier nicht die Spur einer Story, einer Handlung, einer symbolischen Überhöhung meines Tuns. Es ist kein Prinz zu retten, kein Schlüssel zu finden, kein Autorennen zu gewinnen. Alles, was ich tun muss, ist im Takt der Musik mit meinen Laserschwertern bunte Würfel zu zerhacken, die auf mich zufliegen, und wenn ich das besonders gut mache, gibt’s stilisiertes Feuerwerk. Fein. Der ebenfalls mit Lasern ausgeleuchtete, schlichte, tiefe, dunkle Raum um mich herum wird strukturiert von diesen Würfeln, meinen Laserschwertern und dieser fröhlich dudelnden Musik, »die dem Genre Elektronische Tanzmusik zuzuordnen ist und laut Testberichten Ohrwurmcharakter hat«. (Wikipedia) Es ist eine fröhliche und im besten Sinne sinnlose Beschäftigung, die mir für den Moment keinerlei Bedeutung oder Mission aufbürdet. Dass ich, je länger ich spiele, immer besser werde, meine Reaktionen schneller werden und mir das vielleicht, vielleicht, auch im echten Leben mal helfen wird, wenn ich ein herunterfallendes Glas auffangen kann: geschenkt. Es akkumuliert sich, aber ich merke es nicht.
So, wie ich als leidenschaftliche, aber nicht unbedingt sehr konzentrierte Stifter-Leserin lange nicht merke, dass sich all das Blumen-, Möbel- und Marmorfiguren-Betrachten des jungen Heinrich Drendorf am Ende zu einer Entwicklung akkumuliert. Im Moment des Erlebens ist es für mich statisch, ein Ort ohne Zeitvergehen, ein Ort ohne Fortschritt, ein Ort wie so viele, aber so viel schöner dabei. Man stolpert allerdings überall: Wenn ich die Augen verdrehe, kann ich die Ränder der Brille sehen, den dunklen Schutzwall, der sich ins Sichtfeld drängt, die Leerstelle in der Illusion wie die fehlenden Kommata in den Aufzählungen bei Stifter, Stolpersteine des Ungewohnten. Man sollte sich am besten gut festhalten in diesen Welten, um jetzt noch auf die Sicherheitsschlaufen zurückzukommen. In der Hitze des Gefechts kann es durchaus sein, dass die Controller einem aus den Händen fliegen, wenn man sie nicht befestigt. Das führt zu einem abrupten Verschwinden des anderen Ortes, das Ende des Spiels ist eine viel stärkere Gewalt als das leise Klack, mit dem das leichte Plastikding irgendwo niedergeht. Meine Wohnung ist klein, aber ich habe erstaunlich lang nach ihm gesucht, die Erschütterung war groß, und Kräfte, die in der Illusion walten, sind für die Realität kaum zu bändigen.
Das lässt sich auch sehr schön sehen, wenn man ein Bild oder – schlimmer noch – ein Video von sich selbst in dieser Welt bekommt, wie man, die Laserschwerter dynamisch schwingend und Klötzchen schwungvoll zerteilend, die Illusion vor sich ausgebreitet und sich dabei sehr souverän und lässig gefühlt hat. Um ein solches Bild zu bekommen, half die Smartphone-Kamera, und sie bewies mir, dass ich alles andere als souverän dabei aussehe. Sondern wie die eiernde, buckelnde und zuckende Fast-Boomerin, die ich beim Spielen bin. Aber das ist absolut in Ordnung, Heinrich Drendorf wäre in der wirklichen Welt auch verloren.